Selbstopfer in Sachen Bologna

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Lykurg
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Sa 17. Jan 2009, 01:55 - Beitrag #1

Selbstopfer in Sachen Bologna

Ich wurde heute auf einen Artikel in der FAZ hingewiesen, den ich niemandem vorenthalten möchte, der sich um die (Gegenwart und) Zukunft der deutschen Universitäten Gedanken macht und für sich eine mögliche Zukunft im akademischen Betrieb sieht. Zugleich würde mich interessieren, wie diejenigen, die die dem meinigen benachbarten Elfenbeintürme aus Formeln und Zahlen bewohnen, den beschriebenen Sachverhalt sehen, ob sich ihnen der Zusammenhang ähnlich darstellt oder eine völlig andere Sicht ergibt.

Kurzfassung für Eilige: Marius Reiser, Theologe aus Mainz, stellt aus Protest gegen die Umstrukturierung der Universität im Rahmen des Bologna-Prozesses seinen Lehrstuhl zur Verfügung. Im ausführlichen Erklärungsschreiben dazu stellt er dar, was seiner Meinung nach an den Reformen grundverkehrt ist, macht auf den Unterschied zwischen der Vermittlung von Wissen und von Wissenschaft aufmerksam, auf drohende Qualitätsverluste und den bornierten, dogmatisch starrsinnigen Umgang mit der Tatsache, daß die Reformen in ihren zentralen Punkten eher eine Verschlechterung als irgendwelche Verbesserungen zu erzielen drohen.

Traitor
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Sa 17. Jan 2009, 23:27 - Beitrag #2

Ein sehr beeindruckender Text, der auch meine Eindrücke perfekt einfängt.

Zugleich würde mich interessieren, wie diejenigen, die die dem meinigen benachbarten Elfenbeintürme aus Formeln und Zahlen bewohnen, den beschriebenen Sachverhalt sehen, ob sich ihnen der Zusammenhang ähnlich darstellt oder eine völlig andere Sicht ergibt.
Es sieht durchaus sehr ähnlich aus. Ich denke, wir kommen ein wenig glimpflicher davon als ihr, da bei uns schon immer die ersten 6 Semester lang der Großteil der Veranstaltungen festgelegt war. Aber prinzipiell gibt es dieselben Probleme - sinnloser Mehraufwand für bürokratischen Nonsens wie Klausuranmeldungen, unnötige Stoffkürzungen, um im Standardpensum zu bleiben, und ähnliches. Vor allem die Bachelor-Master-Aufteilung erscheint völlig grotesk, da ein 6-Semester-Physiker nun wirklich zu nichts zu gebrauchen ist. Wird das 30%-Zulassungskriterium für den Master tatsächlich durchgesetzt, werden massenweise nur fachfremd einsetzbare Absolventen produziert. Und auch so haben die, die weitermachen, erhebliche Einbußen durch einen künstlich auf ein falsches Ziel ausgerichteten Lehrplan.
In Gesprächen erklären alle Kollegen unisono, man dürfe die neuen Vorschriften nicht so ernst nehmen, man müsse sie hinbiegen, durchlöchern, unterlaufen, Etikettenschwindel betreiben und so „das Beste daraus machen“.
Dies ist auch genau die Haltung, die einem in der Physik begegnet. Es wird versucht, soviel wie möglich vom alten System nur umzubenennen und vielleicht ein bisschen zu permutieren, und dadurch bleiben uns wohl die schlimmsten eigentlich vorgesehenen Schäden erspart. Komplett ohne Stoffeinbußen geht es aber leider nicht.

Insgesamt kann ich nur mal wieder meine Überzeugung verkünden: Der Bologna-Prozess hätte in dieser Form ausschließlich auf Fachhochschulen angewenden werden sollen, bei gleichzeitiger Übertragung der meisten Ingenieurs-, BWL-, Medizin- und Jura-Studenten auf diese Einrichtungen. Dann hätte es ihrem Sinn und Konzept gut angepasste Wissenschafts- und angewandte Hochschulen parallel gegeben, die beide international respektabel wären.

Dass Juristen und Mediziner sich als letzte erfolgreich gegen die Umstellung wehren, ist übrigens äußerst paradox, gehören sie doch zu den Fachbereichen, die zum Großteil reine Berufsausbildung praktizieren und die somit eigentlich für das neue System prädestiniert sind. Aber sie haben halt mehr Lobby.

Lykurg
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So 27. Feb 2011, 13:57 - Beitrag #3

Ein weiterer Bologna-Bericht, diesmal von einem Germanisten (Hörisch), aber aus sehr allgemein geisteswissenschaftlicher Perspektive (jedenfalls nach den ersten Seiten), kam heute über SWR2.

Er stellt die Umstellung schonungslos unter ausschließlich wirtschaftliche Aspekte und sieht darin eine allgemeine Herabsetzung des Bildungsideals in unserer Gesellschaft. Eindrucksvoll finde ich neben den stimmigen Beobachtungen über das Zusammenspiel von studienverkürzenden Maßnahmen und aus der Wirtschaft (falsch) übernommenen Effizienzmaximierungs- und Evaluationsverfahren auch die geistige Verbindung zur Causa Guttenberg, die nicht geschlagen wird (ich gehe davon aus, daß der Artikel mindestens ein paar Wochen alt ist), aber schon spürbar auf der Hand liegt.

Ich denke, mit Traitors Votum "ausschließlich auf Fachhochschulen" wäre der Autor möglicherweise einverstanden. Für die Universitäten ist das Verfahren allerdings fatal.

janw
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So 27. Feb 2011, 17:05 - Beitrag #4

Die Beschränkung der Reformen auf Fachhochschulen wäre in meinen Augen im doppelten Sinne heikel:
Zum einen waren die Fachhochschulen schon immer auf eine praxisnahe Berufsausbildung für vorwiegend technisch-wissenschaftliche Berufsfelder ausgelegt - wenn ich es richtig sehe, insofern sogar ein deutscher Sonderweg - von daher würde das System in Deutschland dem Zielzustand für diesen Sektor entsprechen, Deutschland also quasi Bologna-frei.
Zum anderen würde eine solche Trennung den Studienanfänger von vorne herein auf eine entweder berufs- oder wissenschaftsorientierte Ausbildung festlegen - und wer weiß am Anfang schon, ob das was wird mit der Promotion und dann weiter...?
Nicht zuletzt könnte ich mir vorstellen, daß dann die Universität aber vielleicht in ihrer Bedeutung leiden würde, mehr als Kulturveranstaltung wahrgenommen werden - und wir wissen ja, welchen Druck Museen und Theater heute aushalten müssen.

Am Ende die Frage, wie sich das in Zeiten abnehmender junger Jahrgänge darstellen ließe.
Heute schleißen die ersten Grundschulen, bald die ersten Unis...?

Lykurg
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So 27. Feb 2011, 18:47 - Beitrag #5

Die werden ja schon länger diskutiert und gelegentlich nur knapp verhindert (z.B. Lübeck). Unischließungen waren in den letzten Jahren mW in Deutschland immer nur Zusammenlegungen, das wirkt sich aber in der Konsequenz vor Ort nicht sehr anders aus... Institutsschließungen sind ohnehin an der Tagesordnung (und da trifft es mit Vorliebe die kleinen Exoten in den Geisteswissenschaften, die deutschlandweit ein- bis zweimal angeboten werden). Sinologie hat sich ja 'leider' und wider Erwarten von Wirtschaftsvertretern, die das Fach eigentlich vor Jahrzehnten dichtmachen wollten, zum gewinnbringend verwertbaren Massenfach entwickelt - dafür hat man hier in HH vor ein paar Jahren die Ägyptologie geschlossen, wer interessiert sich schon für sowas. Bild

Die von dir wahrgenommene Haltung gegenüber Museen und Theatern ist in der Tat vorhanden (wenn es auch dort noch weit schlimmer sein könnte), es handelt sich um ein generelles Problem der Abwägung, und das würde wohl auch für eine Re-Idealisierung der Uni gelten. Zu rechnen wäre mit einem starken Rückgang der Mittel (nicht, daß wir das in den letzten Jahrzehnten nicht ohnehin schon erlebt hätten). Aber die Bologna-Reform ist insofern viel schlimmer, als sie die geistige Substanz zerstört (und nichts daneben übrig läßt). Das wird dann mit Mehrausgaben und gesteigerter Effizienz bemäntelt, und der Großteil der Bevölkerung bekommt nichts davon mit (bzw. erst in einer Generation, wenn die Grundlagen erodiert sind).

blobbfish
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Mi 25. Mai 2011, 17:09 - Beitrag #6

Zitat von Artikel:Im Bachelor-Studiengang dürfen für Seminararbeiten nur solche Themen vergeben werden, die in vierzehn Tagen (im Ausnahmefall vier Wochen) bearbeitet werden können, mit genauer Kontrolle der Frist.


Ich bin ja schon seit Jahren indirekt mit den modularisierten Studiengängen konfrontiert, aber man erfährt immer wieder neue Kuriositäten.

Ähnlich wie Traitor es für die Physik erklärte, ist es auch für die Mathematik, mit dem Unterschied, dass zwei Semester, die beiden ersten, festgelegt sind, sich daran aber in, dem Studierenden in beliebiger Reihenfolge, weitere Vorlesungen anschließen, die essentiell sind, wobei man schon Schwerpunkte setzen kann (und sollte). In unserer jüngsten Studienordnung ist es nun vorgesehen, dass im Masterstudium ausschließlich vertiefende Vorlesungen gehört werden dürfen, im Bachelor nur weiterführende, also die, die man für die vertiefenden braucht. Davor sollte der Bachelor eine vertiefende Vorlesung besuchen. Dass er damit eher nicht so viel anfangen kann, muss man kaum erwähnen, wirkliches Probleme lösen und Zusammenhänge erkennen kommt erst später.
Abgesehen von den Reglementierungen hat sich inhaltlich bei uns wenig geändert. Statt der Vorlesung X heißt es jetzt Modul X. Gerade den älteren Dozenten ist es auch schwer zu vermitteln, dass sie ihre Vorlesungen kürzen müssten.

Bologna für Fachhochschulen, schwierig, dafür kenne ich sie zu wenig. Dass FHs praxisorientierter sind als Universitäten empfinde ich als sehr sinnvoll, denke aber, dass auch Brücken da bleiben müssen. Insbesondere, wenn, wie einige hier, die Auslagerung einiger Studiengänge von der FH an die Uni vollführt würden.

Padreic
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Do 16. Jun 2011, 23:21 - Beitrag #7

Es ist tatsächlich bemerkenswert, dass das Bachelor-Master-System für einen seiner Hauptzwecke, die internationale Vergleichbarkeit und Mobilität, nur relativ wenig gebracht hat, zu unterschiedlich sind die verschiedenen Bachelors. Jemand sagte mir sogar einmal, dass einer der Hauptfortschritte des Bachelors war, dass man im Lehramtsstudium nicht einmal mehr von Uni zu Uni in einem Bundesland wechseln könnte.

Insgesamt ist es eine interessante Frage, wer was wo verbockt hat. Die Vorgaben der Politik waren sicherlich das eine, zudem der Ungeist, der durch sie floss. Es ist aber wahrlich nicht so, dass sich die Universitätsleitungen mit Ruhm bekleckert hätten. Viele der unsinnigen, fächernivellierenden Detailvorgaben stammen tatsächlich von ihnen. Die verschiedenen Fachgruppen haben sicherlich auch unterschiedlich geschickt agiert.

Ich finde es auf jeden Fall aber wichtig, den Wechsel nicht primär als Verhängnis, sondern auch als Chance zu sehen, die sicherlich noch nicht vollständig genutzt wurde.
Freiheit ist natürlich erstmal etwas positives, doch hat sie auch ihre Kehrseiten. Es waren nicht wenige, die im Studium ohne Vorgaben einfach orientierungslos waren. Die Regeln helfen auch so manchem, ein strukturiertes Studium zu erreichen. Und wenn man wirklich trödeln will, gibt es normalerweise immer noch Möglichkeiten. Genauso wenig, wie man ein Diplom in genau 9 Semestern machen musste, muss man einen Bachelor in genau 6 Semestern machen.... Und auch der Verpflichtung von Professoren, Standardvorlesungen regelmäßig anzubieten, kann jeder etwas Gutes abgewinnen, der eine solche besuchen wollte, die aber lange Zeit nicht angeboten wurde.... [dass solche Verpflichtungen durch schwammige Namen wie 'Advanced Topics in Algebra' ausgehebelt werden, ist ein anderes Thema].
Ein anderer Punkt ist der des Abschlusses nach 3 Jahren. Sicherlich kann man in den meisten Bereichen damit keinesfalls als ausreichend qualifizierter Fachvertreter gesehen werden. Aber man muss auch sehen, dass in der Mathematik die meisten Leute später eigentlich fachfremd arbeiten. Für sie ist insofern das 3jährige Studium, falls sie danach auf weiteres Studium wenig Lust verspüren, oft ausreichend. Eine m. E. noch zu wenig genutzte Chance, ist es auch, Master anzubieten, die nicht 1 zu 1 einem Bachelor entsprechen. Z. B. wäre es eine Möglichkeit, einen Master 'mathematische Physik' anzubieten, der sowohl mathematisch orientierten Physikern als auch physikalisch orientierten Mathematikern offen steht. Vielfach gibt es dergleichen auch schon.

Ich will das neue System nicht schön reden; gerade in der Anfangszeit war es von Mängeln geradezu durchzogen. Ich denke aber, dass man durchaus konstruktiv mit den Vorgaben umgehen kann. Zum Beispiel zu den 14tägigen Fristen für Hausarbeiten: von wem kommt denn solch eine Vorgabe? Und wenn sie schon da ist, kann man sie wohl auch umgehen. In der Mathematik gibt es im alten Diplomstudiengang eine Frist von 6 Monaten für die Abschlussarbeit - normalerweise meldet man sie aber erst kurz vor Vollendung an. Ich will zum konstruktiven Umgang mit so etwas eine historische Bemerkung wiedergeben, die ein Professor von mir zu diesem Thema geäußert hat: als das Diplom eingeführt wurden (im Gegensatz zu den beiden Möglichkeit Staatsexamen und Promotion), sprachen auch schon Leute von Ungeist und Verschulung. Irgendwie ist man aber doch mit zu Rande gekommen.... Ich hoffe jedenfalls, dass insgesamt ein Nachdenken über die Universität einsetzt und vielleicht irgendwann tatsächlich hundert neue Blumen des Geistes blühen.


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