Schädelkunde und andere Obskuritäten

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Lykurg
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Mi 23. Jun 2010, 13:06 - Beitrag #1

Schädelkunde und andere Obskuritäten

Ich stieß eben auf ein nicht mehr ganz frisches Interview über eher ungewöhnliche Praktiken in der Bewerberauswahl, den ich euch nicht vorenthalten wollte. Hätte nicht gedacht, daß derartiges - Phrenologie, Graphologie, Astrologie etc. - eine Rolle spielen kann, wenn auch der Interviewpartner zugibt, über keine genauen Zahlen zu verfügen... (wenig überraschend; vielleicht hätte der Journalist einen Okkultisten fragen sollen).

Rein rechtlich scheint derartiges in Ordnung zu sein, ist ja keine Benachteiligung nach Geschlecht etc. (wobei das möglicherweise eben doch im Entscheidungsspielraum des Phrenologen liegt?).
Ein Spleen, ein Skandal, ein Symptom?

Ipsissimus
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Mi 23. Jun 2010, 13:33 - Beitrag #2

ich würde eher meinen, eine Selbstverständlichkeit

die Leute sind im Grunde ihres Herzens eben nicht annähernd so rational, wie sie sich von der PR darstellen lassen. Wenn du wüsstest, wie oft in meinen letzten 20 Berufsjahren als PR-Beauftragter ich über das Verhältnis von Sachverhalt und seiner Darstellung gestaunt habe^^ und selbst heute ringt es mir noch gelegentlich bei allem professionellen Zynismus ein Lächeln ab, wenn eine besonders gelungene Darstellung es schafft, beim geneigten Lesenden oder Zuhörer gewünschte Vorstellungen hervorzurufen, die in einem rein zufälligen Verhältnis zum Sachverhalt stehen. Hohe Magie, kann ich nur sagen^^

von Adenauer und einigen anderen deutschen Spitzenpolitikern ist es übrigens bekannt, dass sie vor kniffligen politischen Entscheidungsfindungen ihre Astrologen zu Rate gezogen haben. Warum soll es in Personaler- und Manager-Kreisen anders zugehen?

Lykurg
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Mi 23. Jun 2010, 14:38 - Beitrag #3

Naja, daß eine werbende Aussage nicht unbedingt in direktem Zusammenhang mit dem beworbenen Produkt stehen muß, dürfte ja hinreichend bekannt sein; genau das ist ja auch letztlich die Aufgabe von Werbeprofis: den Kunden zum Kauf animieren, auch wenn Vernunft und Verlangen eher dagegen gesprochen hätten. Aber daß eben auch Menschen, deren zentrale Aufgabe die Prüfung von Menschen auf ihre Tauglichkeit für eine bestimmte Stellung ist, sich auf derart obskure Berater einlassen, finde ich schon eigenartig.

Ok, ja, Adenauer und sein Vorgänger im Kanzleramt haben derartige Berater herangezogen - aber das war doch eigentlich noch eine ganz andere Zeit, geprägt noch vom Boom des Okkulten in den 20ern? Ich hätte eher als Selbstverständlichkeit angenommen, daß im Zeitalter der technischen Machbarkeit auch entsprechende statistische Auswertungsverfahren absolut gesetzt werden und nicht die Reduktion auf das Esoterische stattfindet...

Ipsissimus
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Mi 23. Jun 2010, 15:25 - Beitrag #4

der übliche Widerspruch zwischen Proklamation und Faktizität. Wir haben uns unter dem Dauerbeschuss der medialen Suggestion daran gewöhnt, zu glauben, dass "so sein sollen" und "so sein" eins in eins zusammen fallen, so sehr zusammen fallen, dass es über dem "so sein sollen" kein genuines "so sein" mehr zu geben scheint.

Und nur gelegentlich bricht die Suggestion.

Aber daß eben auch Menschen, deren zentrale Aufgabe die Prüfung von Menschen auf ihre Tauglichkeit für eine bestimmte Stellung ist, sich auf derart obskure Berater einlassen, finde ich schon eigenartig.


Was ist daran eigenartig? Schau dir doch als ein Beispiel unter vielen nur mal das Gebaren von Börsenbrokern an. Wie rational ist das denn? Bis zu einer gewissen Grenze werden technisch rational durchdachte Methoden zur Geldmarktmanipulation eingesetzt. Die Technik ist rational, wohlgemerkt, ihr Einsatz unterliegt schon wieder größtenteils irrationalen Einflüssen wie Gier. Und bring diese Leute zum Zittern, dann siehst du nur noch ein Lemmingsmuster anstelle rationaler Entscheidungen.

Und so geht es überall. Es ist meine ziemlich feste Überzeugung, dass Rationalität nur eine sehr dünne Tünche darstellt, und die in den allermeisten Fällen vornehmste Aufgabe dieser Tünche ist es, das Wirken atavistischer Antriebsmomente zu verschleiern.

Lykurg
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Mi 23. Jun 2010, 16:42 - Beitrag #5

Ich verstehe den Abschluß deines ersten Satzes nicht - genauer das "über", forderst du damit eine grundsätzliche Höherwertigkeit des Ists gegenüber dem Soll ein? Denn wieder habe ich nur das Ist thematisiert, ohne damit den Zustand als generell wünschenswert zu bezeichnen, was mir als Beleg einer ungebrochenen Suggestion doch sinnvoll erschiene.

An Börsenmakler habe ich auch geacht; aufgrund ihrer gesellschaftlichen Sonderfunktion und der Art der von ihnen zu tätigenden Entscheidungen habe ich hier etwas mehr Verständnis für obskure Techniken; das unendlich komplexe Gemisch aus rationalen und irrationalen Informationen, auf denen Gedeih und Verderb in diesem Geschäft beruhen, macht ein gewisses Maß an Zufallsentscheidungen zur Risikenabsicherung sinnvoll (allerdings gäbe es günstigere und sicherere Zufallsmechanismen als die genannten). Aber ich sehe ein, daß der Unterschied klein ist und auch die Einstellungsentscheidung eine Vielzahl nicht kalkulierbarer Faktoren einschließt, die es manch einem nahelegen könnten, sich auf die 'Menschenkenntnis' von Scharlatanen zu verlassen, die immerhin fähig genug sind, ihre Kunden von ihrer Kunst zu überzeugen.

Maglor
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Mi 23. Jun 2010, 17:52 - Beitrag #6

Zitat von Lykurg:Rein rechtlich scheint derartiges in Ordnung zu sein, ist ja keine Benachteiligung nach Geschlecht etc. (wobei das möglicherweise eben doch im Entscheidungsspielraum des Phrenologen liegt?).


Nach dem neuen Gleichbehandlungsgesetz ist so ziemlich alles verboten. Eine Einklage ist natürlich äußerst ohne Beweise.
Wer jedoch beim Einstellungsgespräch den Schädel vermessen bekommt und wegen des Prädikats slawischer Rundkopf versehen wird und der fälische Langschädel erhält die Stelle, hat genug Beweise für das Arbeitsgericht. :crazy:

Nach dem allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz ist eine Diskriminierung wegen Rasse, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexueller Orientierung verboten.
Darum darf mittlerweile zumindest gesetzlich bei Bewerbungen auch Foto und Angabe des Geburtsdatums verzichtet werden.

Die Astrologie als Auswahlkriterium wäre Diskriminierung aufgrund des Alters des Bewerbes. Es sei denn die Firma könnte vor Gericht nachweisen, dass ein im Jahr der Ratte geborener Skorpion tatsächlich der Sterne wegen besser geeignet ist. :crazy:

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Mi 23. Jun 2010, 18:26 - Beitrag #7

Nun, wie bei jeder anderen, insbesondere der geschlechtsbegründeten Diskriminierung, wird natürlich nie ein Arbeitgeber zugeben, daß es aus diesem Grund geschah (der spektakuläre "Ossi"-Fall vor ein paar Monaten war ja auch nur ein Versehen, hat sich das Unternehmen nicht auch öffentlich dafür entschuldigt, das falsche Exemplar der Unterlagen zurückgeschickt zu haben?) Slawische Rundköpfe haben insofern zumindest nominell gleich gute Chancen, der Phrenologe vermißt nur, ob das Zentrum für Kreativität oder das Zentrum für Hitzköpfigkeit die größere Beule in der Schädeldecke verursacht haben. Bild

Kann der Vergleich auch anhand eines Schweinsfischs durchgeführt werden, oder muß dazu der Astrologe befragt werden? (Und ist das nun Aufgabe eines westlichen oder eines fernöstlichen Astrologen, und wer wacht über die Gleichheit bei der Vergabe dieses Auftrags?)

Ipsissimus
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Do 24. Jun 2010, 09:50 - Beitrag #8

genauer das "über", forderst du damit eine grundsätzliche Höherwertigkeit des Ists gegenüber dem Soll ein?
ich wollte lediglich zum Ausdruck bringen, dass jeder Mensch "von Haus aus" nicht leer ist, sondern über einen Set von Merkmalen verfügt, die gewöhnlich unter dem Begriffen "Persönlichkeit", "Charakter" oder "Mentalität" subsumiert werden. Demgegenüber tritt das medial vermittelte Bild, wie Menschen in einer Umgebung zu sein haben, die nur an der Funktion und dem Funktionieren des Menschen interessiert ist, nicht aber an dem Menschen als solchem und schon gar nicht an dessen Wohlergehen. Und die (bösartige) Leistung der Suggestion liegt darin, dass sie es geschafft hat, in der Öffentlichkeit eine flächendeckende Verwechslung dieser beiden Umstände, des "so sein" und des "so sein sollen" zu implementieren, die überaus stabil ist. Wer sich heute nicht so präsentiert, wie er sein soll, ist draußen, auch wenn er das selbst erst mal gar nicht bemerkt.

Im Grunde stehe ich dem von dir dargelegten Problem neutral gegenüber. Ich traue der Rationalität vorgesetzter Entscheidunsfindungsprozesse so weit, wie ich sie knicken kann, was nicht sonderlich weit ist. Ich traue noch nicht mal tatsächlich rationalen Gründen, weil rationale Gründe nicht per se wohlwollende Gründe sind. Von daher ist es mir beinahe gleichgültig, welchen Zufallsgenerator die Entscheidungsträger verwenden, um ihre Entscheidungen auszuwürfeln, und auch, wohinter sie sich verstecken (Sachzwänge sind hier sehr beliebt).


Wahre Werbeprofis gehen aus meiner Sicht (die evtl. auch nur ein trügerische Hoffnung ist) anders vor: ihre Aussage passt 1:1 zum beworbenen Produkt, dass es von denen, denen man darüber berichtet, freiwillig, dankbar, ja fast begeistert erworben wird. Denn für Werbeprofis dürfte Werbung und Marketing keine Kaufwiderstandsüberwindungslehre, sondern eine Kundenbedürfnisbefriedigungslehre sein.
ja, eventuell eine trügerische Hoffnung^^ wenn du unter 1000 einen Werbeprofi findest, für den beim Entwurf seiner Werbung das reale Sosein des Produktes auch nur die geringste Rolle spielt, darfst du dich "von" schreiben

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So 18. Jul 2010, 12:12 - Beitrag #9

Die Diskussion über Werbung habe ich hierhin abgetrennt.

Mich überrascht die Erkenntnis, um die es hier ursprünglich geht, ebensowenig wie Ipsissimus. Allerdings nicht, weil ich den Menschen grundsätzlich die Rationalität aberkenne, das tue ich nicht. Vielmehr erkenne ich sie primär Wirtschaftsleuten, also Managern, PRlern und ganz eindeutig auch "Personalern", weitgehend ab. Und ich sehe nicht, inwiefern Phrenologie und co irrationaler sind als all die modischen Management- und Personalkunde-Strategien, die so kursieren. "Das Skull-dent-Prinzip", "Die Ascendent-Strategie", das klingt doch nach potentiellen Bestsellern für Führungsetagen.

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Mo 19. Jul 2010, 00:51 - Beitrag #10

Ja, das ist nachvollziehbar und eine hübsche Beobachtung. Zu nennen wären vielleicht in diesem Sinne noch spezielle Manager-Seminare und Fortbildungen, gründlich adabsurdiert in "Good Omens". Bild Ein Bekannter erzählte mir von Unsummen, die in seiner Firma für völligen Blödsinn in Sachen Führungspersonalschulung ausgegeben würden. Hauptsache, man ist gut unterhalten - und hat nachher das Gefühl, die letztlich getroffenen Zufallsentscheidungen hätten eine vernünftige Basis, so daß man mit gutem Gewissen seine Arbeit tun kann?

Ipsissimus
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Mo 19. Jul 2010, 12:16 - Beitrag #11

Traitor, ich spreche "den Menschen" ganz sicher nicht de Fähigkeit zu rationalem Denken ab. Ich beobachte nur, dass diese Fähigkeit in dramatisch vielen Fällen entweder nicht zum Einsatz kommt oder so massiv überlagert wird, dass sie faktisch nicht benutzt wird. Und ich beobachte, dass in beinahe noch mehr Fällen angeblich auf rationalen Erwägungen beruhender Entscheidungen die Rationalität nur zur posthumen Rechtfertigung a priori ausgebildeter Willensäußerungen dient.

Traitor
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Mo 19. Jul 2010, 21:08 - Beitrag #12

Ipsissimus, keine Sorge, die generelle und absolute Absprache wollte ich dir nicht zuschreiben. Ich wollte nur nicht deine ganze Darlegung paraphrasieren und habe daher, wohl sinnentstellend, verkürzt. ;)
Und ich beobachte, dass in beinahe noch mehr Fällen angeblich auf rationalen Erwägungen beruhender Entscheidungen die Rationalität nur zur posthumen Rechtfertigung a priori ausgebildeter Willensäußerungen dient.
Das wiederum ist so ein Satz, über den man im Philo-Forum jahrelang diskutieren könnte. Je nach exakter Definition und Konnotation von "Rationalität", "a priori" und "Willen" kann er von Tautologie bis Selbstwiderspruch alles enthalten. Aber ich denke, mangels Maurice können wir uns das sparen, ich weiß vermutlich schon halbwegs, was du meinst. Wenn ich es doch falsch interpretiere, weise bitte darauf hin, dann kann man die Begriffe ja doch diskutieren.
Also, wie ich es verstehe, teile ich die Beobachtung, sehe sie aber bei den meisten Menschen als weniger kritisch an. Denn Rationalität kann von Menschen nunmal nicht so richtig ojektiv angewendet werden, sie braucht für ihre Schlussketten immer persönliche Erfahrungen, Vorprägungen und Vorlieben als Input. Und je nach Problemstellung ist das Ergebnis des Nachdenkens dann eben schon ziemlich klar eingeschränkt und durch externe Daten nur begrenzt beeinflussbar.
Spannend wird es aber natürlich, sobald der Mensch nicht nur für sich selbst entscheidet, sondern als Manager oder Politiker über riesigen Einfluss verfügt. Dann müsste er eigentlich, um seiner Rolle gerecht zu werden, in der Lage sein, intern so umzugewichten, dass die externen Daten die Überhand gewinnen. Und vermutlich gibt es hier eine essentielle Diskrepanz in den Veranlagungen zu Machterwerb und Ausübung einerseits und objektiver Entscheidungsfindung andererseits...

Lykurg, die obskuren Fort-Bildungsmaßnahmen scheinen aber inzwischen eher wieder aus der Mode gekommen zu sein. Zumindest, falls ihre Rezeption in der Populärkultur ein halbwegs korrekter Maßstab dafür ist, die Brancheninterna und damit tatsächlichen Statistiken sind mir leider (oder eher glücklicherweise) fremd.

Maglor
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Mo 19. Jul 2010, 21:17 - Beitrag #13

Hier nun ein Beispiel für eine rationale Methode:
,, , , , ,,
ddddddd
,, , ,, , ,

:crazy:


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