Kindliche Traumata - nur eine Zivilisationskrankheit?

Das Forum für allgemeine Diskussionen! Alle Themen, die nicht in andere Bereiche passen, können hier diskutiert werden.
janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Di 12. Dez 2006, 23:03 - Beitrag #1

Kindliche Traumata - nur eine Zivilisationskrankheit?

In einer Diskussion über die Strafverfolgung von Gewalt gegenüber Kindern ergab sich die Feststellung, daß Gewaltakte im Kindesalter mit großer Wahrscheinlichkeit Traumata zur Folge haben, welche das weitere Leben entscheidend bestimmen.
Diese Aussage ist gängiger mainstream hierzubundesrepublik, und darüber hinaus. Sie entspricht auch meiner eigenen Erfahrung, wenn ich bestimmte Ereignisse meiner Kindheit mit bestimmten Eigenschaften von mir in Verbindung bringe - aber das soll hier nicht Thema sein.

Mir kam in besagter Diskussion in den Sinn, daß Kinder in Deutschland, in der westlichen Welt allgemein nie so sicher und nie in einer so bemüht harmonsich gestalteten Umwelt aufgewachsen sind wie in den letzten 50 Jahren und daß hier dennoch sehr verbreitet derartige Traumata auftreten, welche etwa seit Mitte der 70er Jahre verstärkt beobachtet und erforscht werden.

Ich frage mich dabei, und bin mir der Provokanz der Fragestellung wohl bewusst, ob nicht in den Zeiten davor, die seit dem Mittelalter praktisch ständig von Kriegen in allen Dimensionen, Gewalt, Hungersnöten, materieller Ungewissheit und häufigem Tod von Angehörigen, gerade von Müttern im Kindbett, gekennzeichnet waren, dazu ohne die heutigen Möglichkeiten anderer Angehöriger, sich um die Nöte hinterbliebener kleiner Kinder zu sorgen - materielle Bedarfsdeckung war schwer genug - nicht praktisch die gesamte "normale" Bevölkerung in irgendeiner Weise von kindlichen Traumata belastet war - und offenbar dennoch damit überlebten, wo heutige Traumatisierte nicht selten existentiell scheitern.
Oder muss dabei in Betracht gezogen werden, daß in diesen Zeiten der soziale Zusammenhang, auch das Netz an Bezugspersonen der Kinder erheblich größer gestrickt war, nicht wie heute auf wenigen Strängen auf die Eltern und das - so vorhanden - eine Geschwister zu lief?
Trägt vielleicht die heutige soziale Invarianz zur Entwicklung von Traumata bei, wo breite soziale Netze diese früher abfederten?
Wenn man von einem kommunitaren Gesellschaftsideal als dem menschenangemessensten ausgeht, sind dann die Traumata nicht Ausdruck allgemeiner gesellschaftlicher Fehlentwicklungen, der Ent-Gesellschaftung?

aleanjre
Moderatorin im Ruhestand
Moderatorin im Ruhestand

Benutzeravatar
 
Beiträge: 2071
Registriert: 10.05.2004
Mi 13. Dez 2006, 00:15 - Beitrag #2

Dem frühkindlichen Trauma auf die Spur kam man durch Beobachtungen von Kleinkindern, die ins Krankenhaus mussten. Vor 50 Jahren völlig selbstverständlich, dass die Eltern ihr Kind an der Tür abzugeben hatten und dann höchstens ein Stündchen am Tag reinschauen durften - manchmal auch nur einmal die Woche. Je nach Krankheit und Krankenhausphilosophie. Eltern wurden als Heilentwicklungsstörend empfunden. Es fiel auf, dass die Kinder allesamt einen gleichartigen Prozess durchliefen: Tränen, Verzweiflung, Rufe nach den Eltern in der ersten Zeit. Stillere Verzweiflung in der Folgezeit. Stille in der Endphase. Die Kinder unter 4 - 6 Jahren waren schwer traumatisiert durch die Trennung von ihren Eltern, die sie sich nicht erklären konnten, waren in Panik (sind meine Eltern tot, warum kommen sie nicht, ich rufe doch!), passten sich dann aber irgendwann an, waren folgsam, brav, still. Alpträume, Bettnässen als einziges sichtbares Zeichen, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Dauerte die Trennung dann noch länger, im Verbund mit mangelhafter emotionaler Betreuung seitens des Klinikpersonals (war und ist keine Zeit für), konnten noch tiefergehende Schädigungen auftreten: autistische Verhaltensweisen, Selbstverletzung, Störung der Sprach-, Motorik-Kognitiventwicklung, einnässen, Wachstumsstörungen, aggressives oder depressives Verhalten ... Hospitalismus wurde es benannt. Als man dies erkannte, die Zusammenhänge verstand, kam ein tiefgreifender Wandel der Medizin und Pflege in Gang: fort von sterilem Funktionalismus, hin zu menschlicherem Umgang mit Kranken im allgemeinen und Kindern im Besonderen. Ein Wandel, der sehr lange dauerte - ich bin Jahrgang 76, und meiner Mutter wurde noch gesagt, dass Stillen sexuelle Belästigung unschuldiger Säuglinge ist. Ich weiß, dass ich bei einer Operation mit 2 Jahren allein im Krankenhaus war. Bei meiner Pflegeausbildung Mitte der 90er war "Rooming in" von Müttern mit ihren Neugeborenen gerade erst im Kommen und schlecht aufgenommen beim alteingesessenen Personal.
Es ist also eine jugendliche Entwicklung, auf die psychischen Bedürfnisse einzugehen. Das gilt auch für die Notfallbetreuung von Unfallopfern oder beistehenden Zeugen. Heute ist es Usus, dass Notfallpsychiater ausrücken und Gesprächsbetreuung anbieten, wenn beispielsweise auf einer Baustelle ein tödlicher Unfall passiert und die Kollegen das mit angesehen haben. Das gibt es erst seit wenigen Jahren. Davor hatte man die Zähne zusammenzubeißen und weiterzumachen.

Ist also die heutige Generation so labil und verweichlicht, dass sie etwas braucht und verlangt, dass es so noch nie gegeben hat?
Ich denke nicht.
Wenn ich zum Beispiel meine Schwiegermutter von ihren frühkindlichen Kriegserfahrungen erzählen höre, dann kann ich ihre Seelennarben quasi mit Händen spüren. Wie sie verschüttet wurde. Wochen im Bunker saß. Bomben fallen sah. Köln brennen sah, und Frauen und Kinder als lebende Fackeln. Wie sie zu Fuß durch ganz Deutschland vertrieben wurde, und dann vor den Russen zurückfloh. Wie sie zuhause so viele Menschen nicht mehr wiederfand. Einschusslöcher an der Wand, an der eine ganze Familie niedergeschossen wurde, weil der Vater Parteimitglied war.
Ihre eigene Mutter, die immer wieder Selbstmord begehen wollte, weil sie ihr neugeborenes Baby in den Bomben verloren hatte, ist ihre tiefste Wunde. Die zweittiefste der Verlust des Vaters, der sich von seiner Familie abgewandt hatte.
Und wenn ich mir dann ihr Leben betrachte, dass sie seitdem geführt hat, dann weiß ich, dass sie diese Traumata nie überwunden hat. Nie. Obwohl sie ein großes Familiennetz hatte, dass sie auffing. Dieses Netzwerk war mit Sicherheit ausschlaggebend, dass sie überhaupt ein normales Leben führen konnte, aber die Narben schmerzen weiterhin.

Meine Omi hat diesen Krieg als junge Frau erlebt. Viele schreckliche Dinge sind geschehen, aber sie hat sie alle verdrängt. Diese Frau hat ein glückliches, in sich zufriedenes Leben geführt, sie hat stets in sich geruht. Das hat sie geschafft, in dem sie alles Traurige, Schreckliche tief in sich verkapselt hat, es kam kaum jemals an die Oberfläche zurück. Erst in ihren allerletzten Lebensmonaten zeigte sie überhaupt Traurigkeit, Angst und Verzweiflung, und auch Wut - und niemals bin ich ihr näher gewesen als da, denn sie war vorher unberührbar gewesen, sei es für Unglück, aber auch für Glück.

Und das sind für mich die Prototypen derjenigen Menschen, die ihr Leben schaffen, egal unter welchen Umständen. Egal zu welcher Zeit oder mit welchem Hilfswerk. Die einen, die zwar leiden, von einer Depression in die nächste treiben, aber durchaus klar kommen, ihre Fassade hochhalten können, immer mal wieder verzweifeln, nicht mehr weiterwollen, dann aber wieder anpacken. Sie haben eine Aufgabe (Familie, Arbeit, wai), und solange die erfüllt werden muss, funktionieren sie. Das gilt für den Menschen heute genauso wie für den Menschen im Mittelalter, Antike, Steinzeit... Die grundsätzliche Leidensfähigkeit des Menschen ist unerschöpflich, solange er einen Grund hat, dieses Leid zu ertragen. Ob nun unter Depressionen oder innerer Versteinerung, wer einen Sinn im Leben sieht, der lebt auch weiter. Egal, ob ständiger Kriegszustand droht, die Kinder wegsterben, man heute nicht weiß, was man morgen essen soll - es geht voran.

Etwas anderes ist es mit jenen, die eben keinen Sinn mehr sehen. Die keine Aufgabe haben, der sie sich so verpflichtet fühlen, dass sie weitermachen wollen - gerade dass ist eine Pest der heutigen Zeit: entwurzelte Familien, Arbeitslosigkeit, keine Perspektive für irgendetwas. Das zwingt einen Menschen stärker in die Knie als alles andere. Selbst Sklaven in einem Steinbruch hatten noch irgendeine Sinnhaftigkeit, und sei es auch nur, der Peitsche zu entkommen oder den Hass zu schüren. Wer keinerlei Familienbund hat, keine Arbeit, kein Ziel - Stillstand ist Tod.

Nun zurück zu dem frühkindlichen Trauma. Man glaubte ewige Zeiten lang, dass neugeborene Kinder keine Schmerzen fühlen und auf Schmerzreize nur durch Reflex reagieren. Entsprechend ging man mit den Würmchen um. :( Erst seit recht kurzer Zeit man, dass schon Ungeborene Schmerz fühlen können, und das Gehirn ein ausgeprägtes Schmerzgedächtnis hat. Starke Schmerzerfahrungen im frühkindlichen Alter bringt Erwachsene hervor, die sehr schlecht mit Schmerz umgehen können, auf Krankheiten und Stress sehr viel stärker als "normal" reagieren, schneller in Depressionen verfallen und allgemein stressanfälliger sind.
Das gleiche gilt für psychische Traumata. Hospitalismuserfahrungen, einschneidende Erlebnisse wie Gewalt, Verlust einer Vertrauensperson etc. wirken ein Leben lang nach. Alpträume, mangelndes Selbstvertrauen, soziale Kontakt- und Bindungsstörungen, Depressionsneigungen, Suchtanfälligkeit, "Opferhaltung" - durch ängstliches Verhalten immer wieder als Opfer ausgesucht werden - das alles sind mögliche Folgen. Dazu die gesamte Palette möglicher Psychosomatischer Erkrankungen. Das alles ist keine Träumerei irgendwelcher Spinner, die dafür bezahlt werden sich irgendetwas auszudenken um die Massen zu amüsieren, es ist Fakt.
Wenn in früheren Zeiten jemand in die Scheune ging und sich aufhängte, tja, dann wurden die Hinterbliebenen schräg angeguckt, der Tote in ungeweihte Erde entsorgt und das Leben ging weiter. Das derjenige mit irgendwelchen Dingen nicht klar kam, tja, armer Kerl, war halt so.

Ich persönlich halte die Gesellschaft nicht für emotionsärmer als früher. Die Familiennetze gehen verloren, ja, etwas, woran die Schwachen zu leiden haben. Die Kranken, die Alten, und ganz besonders die Kinder. Die Starken schaffen sich einfach neue Netzwerke und leben prima damit.
Die Kranken, die Alten und ganz besonders die Kinder waren schon immer und zu allen Zeiten die Opfer. Und zu allen Zeiten gab es wohltätige Menschen, die sich darüber sorgten und für eben diese kämpften. Wäre Jesus jemals ähnlich erfolgreich gewesen, wenn er einfach nur gegen die Besatzer rebelliert hätte statt sich nebenbei auch noch für die Schwachen, die Armen, die Rechtlosen einzusetzen? Hätte er eine ähnlich große Gefolgschaft gehabt, hätte er einfach nur gegen die Reichen gewettert statt zu sagen: "Bringt die Kinder zu mir?"

Problematisch an der Sache ist eigentlich nur eines: Die Rücksicht auf psychische Empfindsamkeit wird im Exzess übertrieben. Man sieht es in Amerika, dem Land, dass Exzesse erfunden hat, wo es in einer gewissen Gesellschaftsschicht so selbstverständlich wie atmen ist, einen privaten Therapeuten zu haben. Ob man nun ein Problem hat oder nicht. Na, wer keines hat, der hat schon mal eines, oder? Medien fokusieren den Blick auf Dinge, die es in der Problemhaftigkeit eigentlich gar nicht gibt - aber wenn man nur noch von randalierenden, totschlagbereiten Jugendlichen hört, dann glaubt man irgendwann gar nicht mehr, dass dies eine Minderheit sein könnte.
Meine Mutter wäre reichlich irritiert gewesen, wenn mein Vater meine Geburt hätte miterleben wollen. Heutzutage muss ein werdender Vater sich quasi schon mit Koma oder Pestbeulen entschuldigen können, wenn er einfach keinen Bock auf Kreissaal hat. Es wird übertrieben, und darum bekommt es schon wieder einen negativen Touch: "Ach ja - psychisch. Nee, is' klar, scho' Recht, mein Freund. Psychisch geht immer."
Das negiert aber nicht die Tatsache, dass es so ist, wie es ist. Und schon immer so war.

Aydee
Excellent Member
Excellent Member

Benutzeravatar
 
Beiträge: 637
Registriert: 17.12.2004
Mi 13. Dez 2006, 11:17 - Beitrag #3

Zitat von aleanjre:Erst in ihren allerletzten Lebensmonaten zeigte sie überhaupt Traurigkeit, Angst und Verzweiflung, und auch Wut - und niemals bin ich ihr näher gewesen als da, denn sie war vorher unberührbar gewesen

alearnje... ist das nicht genau das worum es geht? dieses Abkapseln....?
Etwas anderes machen diese Kinder ja auch bloß nicht wenn sie dann still werden....

Zitat von aleanjre:Die einen, die zwar leiden, von einer Depression in die nächste treiben, aber durchaus klar kommen, ihre Fassade hochhalten können (....)

imo geht es nciht darum dass einige es packen trotzalledem weiterzumachen... sondern darum sich um die Fassaden-Notwendigkeit zu kümmern. die dürfte nicht notwendig werden....

Zitat von Jan:Oder muss dabei in Betracht gezogen werden, daß in diesen Zeiten der soziale Zusammenhang, auch das Netz an Bezugspersonen der Kinder erheblich größer gestrickt war, nicht wie heute auf wenigen Strängen auf die Eltern und das - so vorhanden - eine Geschwister zu lief?

Zitat von aleanjre:Die Familiennetze gehen verloren, ja, etwas, woran die Schwachen zu leiden haben. Die Kranken, die Alten, und ganz besonders die Kinder. Die Starken schaffen sich einfach neue Netzwerke und leben prima damit.

das erfasst es imo am Besten.

Zitat von Jan:Wenn man von einem kommunitaren Gesellschaftsideal als dem menschenangemessensten ausgeht, sind dann die Traumata nicht Ausdruck allgemeiner gesellschaftlicher Fehlentwicklungen, der Ent-Gesellschaftung?

Das ist ne gute Frage
imo sind sie zumindest ein Merkmal der heutigen (westlichen) Gesellschaft(en) (???)

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Mi 13. Dez 2006, 12:28 - Beitrag #4

ein wesentlicher Aspekt der Trauma-Diskussion liegt meines Erachtens darin, daß traumatisierte Menschen einen hohen Input an "primären" Kulturleistungen erbringen. Der traumatisierte Mensch hat etwas, das ihn bewegt, hat sich selbst etwas zu beweisen, hat etwas zu hassen, zu zerschlagen, etwas zu kompensieren usw. Der Rest ist nur eine Frage der geschickten Ausnutzung. Wenn man sich die Ausbildungsmethoden mancher Armeen ansieht - darauf läuft es hinaus - tretet die Rekruten, bis sie nur noch vom blindwütigen Verlangen beherrscht werden, selbst zu treten, dann lasst sie auf die Feinde los.

Analoges passiert in vielen anderen Fällen. Wissenschaftler, Künstler - die bedeutendsten unter ihnen sind die gestörtesten unter ihnen, zumindest in überwiegender Tendenz. Egomane Selbstdarsteller, durch den Zwang zur Sublimation kindlicher Traumen zu einer Leistugnsfähigeit angetrieben, auf die normal motivierte Menschen einfach keinen Zugriff haben.

Der innere Frieden eines Menschen ist für die Gesellschaften, in denen wir leben gegenstandslos - viele begreifen noch nicht einmal mehr, daß es sowas geben könnte, oder was damit gemeint ist. Nur die Werbung spielt mit dem Topos. Es erscheint mir kaum, wenn überhaupt, übertrieben, zu sagen, daß unsere Gesellschaften ihre Mitglieder vorsätzlich traumatisieren, im Vertrauen darauf, daß ihre Kontroll- und Verwertungsmechanismen stark genug sind, auch noch mit den renitentesten Mitgliedern fertigzuwerden.

Neben diesen "beiläufigen" legalen Traumatisierungen gibt es dann natürlich auch noch die "bösen" Traumatisierungen - Vergewaltigungen von Kindern oder Frauen z.B., die den legalen Elementen des "Kulturmotor Trauma" anscheinend schädlich gegenüber stehen. Hat mensch jedoch mal die gesellschaftsstabilisierende Funktion der Traumatisierung verstanden, versteht es auch, daß das "Böse" dieser Art von Traumatisierungen in ihrer anscheinenden Privatheit besteht, nicht aber in einer grundsätzlich anderen Qualität ihrer Auswirkungen auf die Opfer.

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Di 31. Jul 2007, 01:24 - Beitrag #5

Bin mal auf diesen älteren thread gestoßen...

Ipsi, dann ist also Gewalt gegen Kinder eine der treibenden Kräfte unserer Gesellschaft? Dann zielt also die Gewaltprävention im Grunde nur darauf ab, das Ausmaß der Gewalt auf einem level zu halten, auf dem seine systemkonstituierende Wirkung noch nicht zu offensichtlich ist, ohne unter die Wirksamkeitsschwelle zu sinken...
Passiert dies "einfach so", oder ist es so gewollt, werden diese Mechanismen tatsächlich auf staatstragender Ebene so durchschaut?

Hat etwas von dem, was Luhmann über den Justizapparat geäußert hat...

henryN
Diligent Member
Diligent Member

Benutzeravatar
 
Beiträge: 247
Registriert: 21.01.2007
Di 31. Jul 2007, 03:52 - Beitrag #6

Das würde mE das Geschichtsbild kräftig umgestalten. Ist die gesellschaftliche Kultur des römischen Reiches an sich selbst gescheitert oder vielleicht nur, weil keiner mehr "Bock" hatte dieses Spiel mitzuspielen?

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Di 31. Jul 2007, 10:29 - Beitrag #7

ich denke, der Aspekt der "strukturellen Gewalt" erklärt es am Besten. In den seltensten Fällen ist jemand persönlich verantwortlich, aber die Strukturen unserer Gesellschaft sorgen dafür, daß ein relativ genaues Maß eingehalten wird.

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Di 31. Jul 2007, 14:49 - Beitrag #8

Exkurs @henryN wegen Untergang Roms:
In der derzeitigen Forschungsdiskussion im Wesentlichen ein Ausbluten aufgrund niedriger Geburtenraten und staendiger Kriege (die Truppen konnten schon lange nicht mehr mit Roemern besetzt werden, waren groesstenteils Soeldnereinheiten, letztlich war es nicht verwunderlich, dass die irgendwann genug davon hatten, nur zu dienen) sowie wirtschaftliche und verwaltungstechnische Schwierigkeiten, es ist schon erstaunlich genug, dass mit (fuer damalige Kommunikationsmittel) so langen Nachrichtenwegen das Reich so gross werden und so lange bestehen konnte; das ging in friedlicheren Zeiten besser als in der Voelkerwanderung und zur Zeit des Vandalen- und Hunnensturms...

e-noon
Sterbliche
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4576
Registriert: 05.10.2004
Di 31. Jul 2007, 22:54 - Beitrag #9

Lykurg, du Spammer! Könnte es auch damit zu tun haben, dass in der Zeit der Kaiser immer weniger Gelegenheit blieb, sich politisch zu engagieren (außer mit Erlaubnis des Kaisers oder wenn man ihn stürzte) und somit die Idee des Imperiums verloren ging beim mehrheitlichen Rückzug des Adels ins Privatleben? Obwohl natürlich ein Volk, das keine Kinder bekommt, zwangsläufig irgendwann auseinander fällt (sollte sich da vielleicht jemand ein Beispiel an der Geschichte nehmen?).

@topic: Früher war Selbstmord immerhin eine Sünde. Und andersrum konnte man mit ein bisschen Durchhalten das Paradies erreichen. Ist doch schon mal ein Ansporn ^^ Außerdem war der Glaube generell sicher etwas, das Halt gab, ebenso wie das tägliche Leben - auch wenn man keine Arbeit hatte, musste gewaschen werden (mehrere Stunden Arbeit) und ähnliche Tätigkeiten...

Ich stimme alea weitestgehend zu, Leid gab und gibt es immer, heute macht man eben mehr Aufhebens drum und darum fallen die Konsequenzen eher auf.

Trotzdem eine Frage:
Diese Frau hat ein glückliches, in sich zufriedenes Leben geführt.../
...denn sie war vorher unberührbar gewesen [...] für Glück.
Was nun? ^^

@Aydee:
Ich finde heute noch immer kaum Freunde und hab ich das Gefühl einen von den wenigen zu verlieren, raste ich förmlich aus. Man könnte sagen ich bin sozialphobisch, dabei brauche ich zwischenmenschlichen Kontakt den ich kaum je selber herstellen kann.
Das ist nicht der Normalzustand? :confused:
Der innere Frieden eines Menschen ist für die Gesellschaften, in denen wir leben gegenstandslos
Inwiefern gegenstandslos? Ich habe irgendwoher die Vermutung, dass zufriedene Menschen automatisch keine Agressionen haben und mit anderen Menschen verständnis- und rücksichtsvoll umgehen. Aber kann das sein? Warum sollte das eine mit dem anderen zu tun haben? Folgt auf Frustration notwendig Agression - und kann man von Agression sicher auf Frustration schließen? Würde mich interessieren...

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Mi 1. Aug 2007, 00:47 - Beitrag #10

Aufstieg und Fall von Mahoganny, Rom und Mordor wäre doch mal ein gutes Thema, oder?
Zitat von e-noon:Inwiefern gegenstandslos? Ich habe irgendwoher die Vermutung, dass zufriedene Menschen automatisch keine Agressionen haben und mit anderen Menschen verständnis- und rücksichtsvoll umgehen. Aber kann das sein? Warum sollte das eine mit dem anderen zu tun haben? Folgt auf Frustration notwendig Agression - und kann man von Agression sicher auf Frustration schließen? Würde mich interessieren...

(Selbst)zufriedene Menschen dürften einen vergleichsweise geringen Anteil an der Gesellschaft ausmachen, davon ab bedingt Nicht-Aggressivität nicht zwangsläufig Philanthropismus und entsprechenden Umgang mit Mitmenschen, besonders solchen außerhalb des direkten Blickwinkels. Da gibt es zu viele andere Verhaltenstrigger wie Gewinninteressen, Nützlichkeitserwägungen, Macht, Gleichgültigkeit,... Vielleicht, so kommt mir gerade in den Sinn, ist Gewalt sogar ein notwendiges konstituierendes Element jeder Herrschaftsstruktur, weil ein "weiser" und kulturbeflissener Herrscher insgesamt weniger Eindruck macht, seine Macht weniger psychologisch zu sichern und verankern vermag als einer, der dann und wann zeigt, wozu seine Leibgarde in der Lage ist.
Frustration führt nicht selten zu Aggression, wie sich immer wieder zeigt, außerdem zu Apathie, Rückzug, Dienst nach Vorschrift usw., was insgesamt weniger in äußere Erscheinung tritt.

Mir macht in dem Zusammenhang zu schaffen, daß die Gewalt schon in der Sprache liegt, wie Derrida gezeigt hat. Oder gibt es eine griffige Widerlegung der Differance-Theorie? Aber das führt auch weg...

henryN
Diligent Member
Diligent Member

Benutzeravatar
 
Beiträge: 247
Registriert: 21.01.2007
Mi 1. Aug 2007, 04:16 - Beitrag #11

Wenn ich einen Virus nicht in mein Lebenssystem integrieren kann, aüßert sich das in Form von eines gewaltigen Fiebers. Im gesellschaftlichen nennt man es Krieg oder Unterdrückung.

Eine Impfung hilft auch.


Zurück zu Diskussion

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 1 Gast