Brunner-Prozess

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Ipsissimus
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Di 20. Jul 2010, 20:57 - Beitrag #1

Brunner-Prozess

http://www.stern.de/panorama/mordprozess-in-muenchen-zugfuehrer-haelt-brunner-fuer-den-angreifer-1585346.html

so ganz blicke ich da wirklich nicht mehr durch. Zeugen, die ganz sicher sind, dass die Kids die bösartigen Scheisskerle waren, Zeugen, die aussagen, dass die Aggression von Brunner ausging - ich bin wirklich gespannt, ob das Gericht es schafft, den sachlichen Gehalt herauszufinden und entsprechend zu bewerten. Wie schätzt ihr das alles ein?

Lykurg
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Di 20. Jul 2010, 21:09 - Beitrag #2

Ich denke nicht, daß sich das noch vollständig klären läßt. Ich zweifle an der Version des Zugführers, der weder die gesamte Vorgeschichte im Wagen kennen konnte noch - vermutlich - dicht genug dran war, um zum Beispiel gesprochene Beleidigungen, Drohungen oder was auch immer zu verstehen. Ich stehe aber auch der Version der Schüler, die sich (in jedem Fall zu Recht!) zu Dankbarkeit verpflichtet fühlen und daher eventuell sogar ungewollt ihre Erinnerung verbrämen, skeptisch gegenüber. Ein Fall mehr, der zeigt, daß wir mehr Überwachungskameras brauchen.
Und ob es Mord war? Geplant wohl nicht, ob heimtückisch, kann ich nicht beurteilen. Aber gleichgültig, ob sie möglicherweise provoziert waren - wer auf den Kopf eines am Boden liegenden Menschen eintritt, bis der sich nicht mehr rührt, verdient eine langjährige Haftstrafe.

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Mi 21. Jul 2010, 01:16 - Beitrag #3

Und die Gesellschaft hätte es verdient, wenn zusätzlich zur Haftstrafe auch therapeutisch mit dem Täter gearbeitet wird, damit er möglichst nie wieder solche Verhaltensweisen ergreifen wird.
(Ja, ich bin da etwas Optimist)

Der Hinweis, das nicht alle Zeugen ggf. das ganze Geschehen sehen und Gesprochenes hören konnten, ist m.E. sehr wichtig. So muß es nicht zwangsläufig etwas bedeuten, sollte Brunner tatsächlich den ersten Schlag gesetzt haben. Denkbar wäre beispielsweise, das die von ihm gestellten Täter fliehen wollten und er davon ausging, denen körperlich so weit überlegen zu sein, um sie an der Flucht zu hindern und in Schach zu halten, bis die Polizei eintrifft.

Ipsissimus
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Mi 21. Jul 2010, 11:11 - Beitrag #4

das sind in der Tat bedenkenswerte Aspekte. Andererseits schleicht sich bei mir seit geraumer Zeit ein unangenehmes Gefühl ein - dass nämlich die Medien einen Helden kreiert haben und jetzt, da allmählich Aspekte bekanntwerden, die das Bild etwas differenzierter gestalten, am Heldenstatus nicht mehr rütteln wollen. Das Mord und Totschlag nicht okay ist, ganz klar. Aber ich habe mittlerweile den Eindruck, es könnte im Bereich des Möglichen liegen, dass die Täter in Bezug auf Brunner aus echter oder vermeintlicher Notwehr gehandelt haben. Es wirkt auf mich jedenfalls so - um das mindeste zu sagen - dass der sachliche Gehalt der gesamten Situation noch längst nicht so deutlich geklärt ist, wie für eine sachgerechte Bewertung notwendig wäre.

Lykurg
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Mi 21. Jul 2010, 11:41 - Beitrag #5

Ja, der Verzicht auf einen Helden ist schwer zu bewerkstelligen, gerade da diese Art von Heldentum (des sich verantwortlich fühlenden Helfers) insbesondere in München nach den S-Bahn-Vorfällen so dringend erwünscht war... Schwer zu sagen, was da lief. Offenbar haben auch Zeugen ausgesagt, der am Boden liegende Brunner sei nicht mehr weiter angegriffen worden.

Und wenn er dann möglicherweise an Herzversagen starb, wie es in manchen Berichten hieß, sieht es wirklich schon wieder sehr anders aus, auch unabhängig vom kaum zu durchschauenden Kausalgefüge der Schlägerei.

Den sachlichen Gehalt der Situation zu klären, ist selbstverständlich Aufgabe des Gerichts - schwierig auch in diesem Fall, aber ich denke, viele Prozesse ohne jede mediale Aufmerksamkeit sind in der Hinsicht schwieriger. Immerhin waren auf dem Bahnsteig eine ganze Reihe von Zeugen.

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Mi 21. Jul 2010, 12:08 - Beitrag #6

Zitat von Ipsissimus:Aber ich habe mittlerweile den Eindruck, es könnte im Bereich des Möglichen liegen, dass die Täter in Bezug auf Brunner aus echter oder vermeintlicher Notwehr gehandelt haben.


Wobei nicht zu vergessen ist, dass die "Täter in Bezug auf Brunner" auch die zugleich die Täter sind, die die in der S-Bahn jüngere ausrauben wollten.
Und wie das ganze wohl ausgegangen wäre, wenn außer Brunner weitere Personen hätte klärend eingegriffen, um zB die jugendlichen Täter wirksam festzusetzen, ohne zuviel derartige Gewalt anzuwenden (2-3 Erwachsene sollten zB einen Jugendlichen zu Boden bringen und fixieren können), bleibt auch offen.

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Mi 21. Jul 2010, 12:30 - Beitrag #7

Zitat von Lykurg: Den sachlichen Gehalt der Situation zu klären, ist selbstverständlich Aufgabe des Gerichts - schwierig auch in diesem Fall, aber ich denke, viele Prozesse ohne jede mediale Aufmerksamkeit sind in der Hinsicht schwieriger. Immerhin waren auf dem Bahnsteig eine ganze Reihe von Zeugen.



Das kann auch ein Nachteil sein - lieber einen medial nicht besonders begleiteten Prozess mit nur einem Zeugen, der doch recht sicher weiss, was er sah und das bei Polizei und Gericht dann konstant erinnert, als diesen Fall, wo es zwar mehrere Zeugen hat, die aber so im Interesse der Medien und der Öffentlichkeitz stehen, dass sie eventuell sich unter starkem Druck fühlen, entweder gerade das gewünschter oder als Trotzreaktion etwas anderes auszusagen. Das kann in beiden Fällen die Wahrheit sein, muss es aber nicht.

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Do 22. Jul 2010, 09:23 - Beitrag #8

ein Artikel zum Zeugendilemma, anhand des Brunner-Falls, relativ sachlich. Der Spiegel scheint von seiner bisherigen Bewertung ein klein wenig abzurücken

http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,707724,00.html

Lykurg
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Do 22. Jul 2010, 09:52 - Beitrag #9

Interessant, ja. Sein Verhalten ist menschlicher geworden. Auch bei diesem Kenntnisstand hat er richtig gehandelt, indem er die Kinder schützte. Und er ist deswegen und infolge der Gewalthandlungen zu Tode gekommen. Der Heldennimbus, den die Boulevardpresse ihm verpaßte, wäre allerdings damit ein Stück weit getrübt.

Immerhin bliebe die Tatsache, daß die Jugendlichen an derselben Station ausgestiegen sind wie Brunner und die Kinder, nachdem sie sie auf der langen gemeinsamen Bahnfahrt bedroht und zu berauben versucht hatten - eines der Kinder hatten sie dabei sogar geschlagen. Es wäre also zur Beurteilung der Lage, in der Brunner sich befand, nützlich zu wissen, ob die Jugendlichen sie verfolgten oder einen Grund hatten, in Solln auszusteigen, die Sache also eigentlich vorbei war.

Man sollte sich aber dringend fragen, ob man mit Schnellverfahren bei der Verleihung von Orden diesen nicht mehr schadet als nützt. Nicht, daß ich eine Aberkennung angemessen fände - aber vielleicht sollte auch hier ein audiatur et altera pars gelten und grundsätzlich eine mehrmonatige Wartezeit eingeführt werden (das für Jogi Löw fand ich, so quasi als Bonbon zum Abpfiff, total deplaciert).

Ipsissimus
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Do 22. Jul 2010, 11:06 - Beitrag #10

sagen wir so, dass er die Kinder schützte, war begrüßenswert. Die Art, wie er sie schützte, und vor allem, wie es dann zu der tödlichen Auseinandersetzung kam, ist anscheinend nicht hinreichend geklärt. Natürlich entschuldigt nichts diesen Gewaltexzess; aber es holt die beiden Jugendlichen doch aus den Sphären des unhinterfragbar Bösen in menschliche Dimensionen.

Dieses ganze mediale Heldengesabbel geht mir sowas von auf den Keks, aber dafür kann Brunner ja nichts.


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