Taqwacore und islamisches Schisma?

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Ipsissimus
Dämmerung
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Mo 26. Mär 2012, 15:19 - Beitrag #1

Abgetrennt aus Welches Buch lest ihr gerade? (II) und zwei Beiträge zitiert - Traitor

Zitat von Ipsissimus:Michael Muhammad Knight
Taqwacore

Originaltitel "The Taqwacores", 1. Auflage 2004 ohne Verlag
1. Deutsche Auflage Rogner & Bernhard, 16. März 2012

"taqwa" bedeutet auf Arabisch "Gottesfurcht"]bedeutet [/i]ihre Religion wirklich noch etwas, etwas für die alltägliche Lebenspraxis absolut Verbindliches, dessen Verbindlichkeit ganz und gar nicht zur Debatte steht. Es geht nur um die Frage, was essentieller und was verzichtbarer Teil ist.

Darin liegt teilweise das Tragische begründet. Das Buch endet mit den Worten (Gedächtniszitat): "Es ist vorbei. Ich habe als Muslim versagt, ich bin keiner mehr. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich immer noch und ganz und gar ein menschliches Wesen bin."

Das Büchlein könnte für ein Verständnis des Islam als moderne Religion mehr bewirken als alle wohlfeile Religionswissenschaft zusammen, weil es den Blick durch die Lehre hindurch auf die Menschen richtet, die diese Religion leben. Es zeigt für mich ganz klar, dass Islam und arabischer Kulturkreis völlig getrennt voneinander betrachtet werden müssen.


[quote="Lykurg"]Klingt faszinierend, Ipsissimus, wobei ich aus deiner Beschreibung noch nicht ganz die Trennung zwischen Islam und arabischem Kulturkreis erkennen kann]

vielleicht habe ich das zu wenig herausgearbeitet, Lykurg, ich wollte nicht noch mehr schreiben^^

die Protagonisten dieses Romans leben in einem echten Konflikt, der auch bis zum Ende nicht aufgelöst wird. Aber der Konflikt nimmt ab; es kommt zunehmend zu Klärungen. Das Buch macht ziemlich deutlich, dass diese Generation noch nicht die Lösung ist, aber sie werden sehr viel weniger klassischen Islam an ihre Kinder weiter geben als an sie weiter gegeben wurde. Schon die Generation ihrer Enkel wird vom klassischen Islam gar nichts mehr wissen, dafür aber eine islamische Lebensweise entwickelt haben, die den Standards der Aufklärung entspricht - immer angenommen, die Saat geht auf. Der Autor ist sich darüber im Klaren, dass dies zu einem Schisma größten Ausmaßes führen wird, ungefähr der Reformation Luthers entsprechend.

Lykurg
[ohne Titel]
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Mo 26. Mär 2012, 16:29 - Beitrag #2

Ah, ok. Daß Ansätze dazu vorhanden sind, war mir bewußt, insbesondere aus der Türkei; und einige der im Zuge der Nelkenrevolution verbreiteten Informationen über Tunesien (und eigentlich auch Palästina) gingen in eine ähnliche Richtung. Die Entwicklung in Deutschland weckt da meines Erachtens leider großenteils weniger Hoffnung, falsche Prämissen, falsche Perspektiven, dazu ein völlig falscher Umgang mit der entsprechenden Gruppe. Necla Kelek beschreibt eindrucksvoll, was möglich schien und wie es inzwischen gekippt ist. Aber generell ist eine solche Auseinanderentwicklung jedenfalls feststellbar, und ich denke auch, daß es darüber noch ganz heftig knallen kann. Die Begründung für eine völlig getrennte Betrachtung erkenne ich darin immer noch nicht so recht, soweit Zusammenhänge bestehen, aber ja.

Ipsissimus
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Mo 26. Mär 2012, 16:50 - Beitrag #3

die getrennte Betrachtung ergibt sich aus dem Umstand, dass fast alles - das ist ganz wichtig - fast alles, was den Islam derzeit ungenießbar macht, Sunna ist, die in den Hadithen festgehalten wurde. Diese jungen Muslime verwerfen die Hadithen in zunehmendem Maße und damit auch die darin enthaltenen Vorstellungen, die praktisch ausschließlich aus dem arabischen Kulturkreis stammen.

janw
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Mo 26. Mär 2012, 20:36 - Beitrag #4

Zitat von Ipsissmus:die getrennte Betrachtung ergibt sich aus dem Umstand, dass fast alles - das ist ganz wichtig - fast alles, was den Islam derzeit ungenießbar macht, Sunna ist, die in den Hadithen festgehalten wurde. Diese jungen Muslime verwerfen die Hadithen in zunehmendem Maße und damit auch die darin enthaltenen Vorstellungen, die praktisch ausschließlich aus dem arabischen Kulturkreis stammen.

In meinen Augen liegt das Problem des Islam darin, daß er in die Hände einer Auslegung gelangt ist, welche die Sunna zu seinem Kernbestand erklärt.
Der fundamentalistische Islam der Eltern der Jugendlichen wird nach meinem Eindruck nie in dieser Weise fundamentalistisch gewesen sein, die konservative Befolgung der Sunna war Befolgung des Normsystems, mit dessen Befolgung man seit Jahrhunderten nach eigener Wahrnehmung gut gefahren war, nicht religiöse Pflichtübung.

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Di 27. Mär 2012, 09:33 - Beitrag #5

für die arabischen Kernländer dürfte das einigermaßen hinkommen, Jan; aber in den Peripherien hat der Islam durchaus eigenständische kulturelle Züge entwickelt, von denen wir so gut wie nichts wissen, vielleicht auch nichts wissen wollen. Daher ja das wahrscheinlich kommende Schisma. Die Kernländer halte ich auf unabsehbare Zeit für einen aufgeklärten Islam verloren; aber das muss nicht für alle anderen Länder gelten, in denen sich Spielarten davon entwickeln, die trotzdem Islam sind - ganz analog wie auch Evangelische weiterhin Christen sind, obwohl sie keine Katholiken sind.

Ipsissimus
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Mi 4. Apr 2012, 11:55 - Beitrag #6

nachdem ich das Buch nochmal gelesen habe, bin ich mir meiner ursprünglichen Einschätzung hinsichtlich der Aufgeklärtheit nicht mehr so ganz sicher. Es ist zumindest anhand des Buches beinahe ununterscheidbar, ob es wirklich die Aufklärungsferne heutiger Moslems ist, oder die Aufklärungsferne des durchschnittlichen US-Amerikaners - es ist eine Art unaufgeklärter Fundamentalismus in der emotional-religiösen Grundlegung des Lebens, die sich bei beiden Gruppen nachweisen lässt.

Maglor
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Mi 4. Apr 2012, 22:19 - Beitrag #7

Ich glaube auch nicht, dass die heute so gefürchteten Islamismen unaufgeklärt sind.
Der heutige Salafismus oder auch die iranische Staatsideologie fußen auf strenger Exegese, ähnlich wie Martin Luther und andere Hirngespinste, die gern mal als Wegbereiter der Aufklärung gelten. Eine solche Frömmigkeit kennt man im Abendland nur noch bei Wiedertäufer und ernsten Bibelforschern.

Beachtenswert ist hier natürlich die Grundkrise des Islams. Über Jahrhunderte wurde die Umma von Kalifen und anderen regiert, weltlichen und geistlichen Herrschern, Nachfahren Mohammeds. Die letzte dieser Autoritäten ging mit dem Ende des Osmanischen Reiches verloren. Seither heißt es auch für Sunniten: selber denken
Vor 1900 wurden noch keine Traditionen infrage gestellt. Man hat einfach Haschisch geraucht, Knaben geraubt und Wein getrunken - einfach so.


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