Eine Definitionsmöglichkeit für Maurices "dritten Grad des Kennens" wäre folgende:
Man kennt einen Menschen, wenn das Bild, das man von ihm hat, bereits so komplex ist, das neue Informationen über ihn ohne allzu große Probleme integriert werden können.
Damit meine ich, dass die Grenze ungefähr in dem Bereich verläuft, in dem man beginnt, sich ein ganzheitliches Bild von einem Menschen zu machen, anstatt nur wenige Facetten zu kennen.
Von einem Klassenkameraden, mit dem ich wenig zu tun habe, kenne ich z.B. nur einen kleinen Teil seines Tagesablaufs, fast keine seiner Interessen und Beschäftigungen.
Einen guten Freund dagegen habe ich schon bei einem großen Teil seiner bevorzugten Aktivitäten erlebt, mit ihm über eine repräsentative Themenauswahl gesprochen, ihn in einem breiten Stimmungsspektrum erlebt.
Er kann mich noch immer überraschen, das wird auch immer so bleiben, egal wie gut ich ihn kenne. Aber alles, was er tut, passt sich in das Bild ein, das ich von ihm habe. Es können durchaus bestimmte Urteile und EInschätzungen über ihn komplett umgestoßen werden, aber es kommen keine absolut entscheidenden Bereiche mehr zum Bild dazu und es werden keine komplett ausgetauscht.
Unter dieser Definition ist es durchaus möglich, Menschen zu "kennen", es erfordert je nach Intensivität des Kontakts auch keine allzu lange Zeitspanne.
Mich selbst kenne ich nach dieser Definition, und zwar sehr gut: es mag mich zwar immer wieder auf den ersten Blick überraschen, was ich gerade getan habe, aber wenn ich es analysiere, ist mir kein Fall bekannt, in dem ich die Gründe dafür nicht herausbekommen hätte. (Funktioniert leider nur retrospektiv *g*)
Zu Taboos letzter Frage nach "virtuellem Kennen": meiner Meinung nach unmöglich. Denn auf diese Art kennst du nur einen kleinen Teil dieses Menschen. Du hast nie gesehen, wie er auf eine Vielzahl elementarer Dinge reagiert. Und selbst, wenn du ihn danach fragen würdest und er die absolute Wahrheit sagen würde, könntest du diese Informationen aufgrund deiner eigenen menschlichen Denkstruktur nicht so verarbeiten, wie wenn du sie selbst beobachtet hättest. Bei einem ersten Treffen wird dein Bild von ihm also in riesigen Bereichen stark erschüttert, erweitert und teils umgedreht, so dass nicht von einem Kennen in meinem Sinne gesprochen werden kann.
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