Leitkultur + Identität

Das Forum für allgemeine Diskussionen! Alle Themen, die nicht in andere Bereiche passen, können hier diskutiert werden.
dmz
Diligent Member
Diligent Member

 
Beiträge: 205
Registriert: 29.02.2004
Mi 24. Nov 2004, 17:06 - Beitrag #1

Leitkultur + Identitaet

Leitkultur und Identitaet
Diese beiden Begriffe sind bisher oft quasi in einheitlichem Sinne genannt worden;
ob die Ausssagenden immer genau gewusst haben, von was sie im Detail eigentlich sprechen, wage ich zu bezweifeln.
Ich bin auch unsicher und erhoffe mir Unterstuetzung beim Abwaegen der Begriffe,
indem ich das Thema zur Diskussion stelle:
Was versteht man unter der (dtsch) Leitkultur und Identitaet?
:::
Dazu fallen mir zunaechst einmal die Stichworte "Humanismus/Humboldtsches Bildungsideal, Weltbild/Christl.Menschenbild, Tugenden, Gesellschaftssystem (polit/sozial/oekonom)" ein.
Die (dtsch) Leitkultur und Identitaet duerfte uebergereifend Elemente enthalten,
die in ganz West-Europa gelten wegen der gemeinsamen lateinisch-christlichen Vergangenheit des Mittelalters seit ca.500n.Chr. und der gemeinsamen Geschichte ueberhaupt bis auf den heutigen Tag.
:::
Ich beginne mit einem kurzen Ueberblick ueber den Begriff "Tugenden", der m.E. in diesem Zusammenhange als Ausgangspunkt dienen kann.
In einer zeitlichen Folge ergeben sich laut lexikalischen Recherchen:
:::
(T1) Die 4 Grund- und Haupttugenden des Altertums:
1) Weisheit 2) Tapferkeit 3) Besonnenheit 4) Gerechtigkeit
:::
(T2) ergaenzt durch die christlich-mittelalterliche Philosophie:
5) Naechstenliebe 6) Hingabe 7) Wahrhaftigkeit 8) Treue
:::
(T3) ergaenzt durch die theologische Lehre:
9) Glaube 10) Liebe 11) Hoffnung
:::
(T4) ergaenzt durch die neuzeitlichen (Sekundaer-)Tugenden:
12) Ordnung 13) Fleiss 14) Sparsamkeit 15) Solidaritaet
16) Toleranz 17) Disziplin / Zuverlaessigkeit 18) Hoeflichkeit
19) Puenktlichkeit 20) Ehrlichkeit
(- ich ergaenze -)
21) Sicherheitbeduerfnis 22) Gesundheitsbewusstsein 23) Informationsbeduerfnis
24) wissenschaftlich-technische Orientierung 25) Umweltbewusstsein .....
:::
(1) Leitkultur
Ich wuerde den Begriff "Leitkultur" allgemein beschreiben mit "Kulturgut (Sprache, Kunst, Bildung), Christentum, aesthetisch-moralisch-ethische Lebensgestaltung,
Weltbild: Menschen-/Voelkerrecht, Freiheit, Demokratie, Sozialstaat, wissensch.-techn.Fortschritt".
Darin allgemein eingeschlossen die Tugenden der Gruppe (T1)-(T3),
waehrend die Tugenden der Gruppe (T4) als Werte der modernen Industrie-Gesellschaft im besonderen zu verstehen sind.
Letztere sind Werte ohne religioesen Bezug, sogenannte Sekundaer-Tugenden.
---
Was aber ist die typisch dtsch "Identitaet"?
Der franz.Publizist AlfredGrosser hat einmal von individuell verschiedenen Identitaeten gesprochen, die jeder Mensch hat; -
so dass nicht jeder alle Identitaeten haben muss.
Demnach waere die Verwendung des Begriffes zur Beschreibung eines einheitlichen Gesellschaftssystems gar nicht sinnvoll, obwohl es offiziell versucht wird.
Es kommt vielmehr darauf an, womit sich der Einzelne "identifiziert";
aber das mag dann auch mehrheitliche, gesellschaftliche Bedeutung haben.
Ich mache mal den Versuch typisch dtsch Merkmale und Anliegen aufzuzaehlen, welche "Identitaeten" sein muessten / koennten:
:::
(2) Identitaet
Sprache und Bildung dienen sicher der Identitaet wie der Leitkultur und
werden durch ein offizielles Normen- und Ausbildungssystem vorgegeben.
Also sind Erziehungs- und Ausbildungsmethoden ebenfalls Identitaetsmerkmale,
obwohl manche Gesellschaftsmitglieder sich nicht damit "identifizieren" moegen
(Persoenlichkeitsdefizite, Ausbildungsversagen, Asoziales Verhalten).
Obwohl ich hier anscheinend noch nicht fertig bin, nenne ich eine Gruppe von Begriffen, die unsere Oeffentlichkeit beschaeftigten und mit denen sich etliche Menschen,
- so meine ich -, "identifizieren":
:::
Jugendwahn und Altersvorbehalt, Autowahn, Bildungswahn,
Gesundheitswahn, Sozialstaatsgehabe, Bevoelkerungsnachwuchs, Arbeitsplatzsorge,
Konsumverhalten, Wohlstand, Wirtschaftswachstum, Politikverdrossenheit,
Nazi-Erinnerung und Schuldkomplexpflege,
Fussball-Bundesliga und Fan-Identitaet, Sexbesessenheit .....
-
Ich weiss nicht: aber diese Merkmale klingen irgendwie negativ .......
Koennte es sein, dass der Begriff "Identitaet" durchweg weniger wuenschenswerte Eigenschaften beschreibt und deshalb auf die Gemeinschaft polarisierend wirkt;
waehrend der oben genannte Dualismus "Leitkultur und Identitaet" gegenteilig auf Einheitlichkeit abzielt ?
Was meint ihr dazu ?

Maglor
Karteizombie
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4281
Registriert: 25.12.2001
Do 25. Nov 2004, 02:26 - Beitrag #2

Re: Leitkultur + Identitaet

Original geschrieben von dmz
[b]Koennte es sein, dass der Begriff "Identitaet" durchweg weniger wuenschenswerte Eigenschaften beschreibt und deshalb auf die Gemeinschaft polarisierend wirkt;
waehrend der oben genannte Dualismus "Leitkultur und Identitaet" gegenteilig auf Einheitlichkeit abzielt ?
Was meint ihr dazu ?

Die Sache mit der Leitkultur ist, dass sie ja nur Leitfaden der Kultur ist; sprich tatsächlich werden besagte deutsche Tugenden auch von Deutschen nicht unbedingt in Ehren gehalten. Sprich tatsächlich ist die sogenannte Leitkultur ein Ideal von der Kultur der Deutschten, die mit der Realität freilich nicht unbedingt übereinstimmt.

Die Identität scheint mir da schon Produkt der Empirie zu sein, was auch zum negativen Bilde führt. Aber ich glaube, ich liege ich liege hier falsch.

Identität ist das, was einen geprägt hat und auch das, was man ist. Leitkultur beschreibt die Identiät, die man haben sollte, wobei das Sollen vom Erfinder der jeweiligen Leitkultur bestimmt wird.

Darüber, ob Deutsche wirklich auch Deutsche sind und so weiter, wird übrigens auch hier diskutiertDeutsche Einigung 1871

MfG Maglor

aleanjre
Moderatorin im Ruhestand
Moderatorin im Ruhestand

Benutzeravatar
 
Beiträge: 2071
Registriert: 10.05.2004
Do 25. Nov 2004, 09:31 - Beitrag #3

Jugendwahn mit Volksidentität gleichzusetzen, ist aber außerordentlich gewagt! Das deutsche Volk, das, was "Deutschsein" ausmacht, hat mit Sicherheit nichts mit Jugend-, Auto- oder sonstigen Wahnvorstellungen zu tun.
Deutschland hat eine Geschichte. Eine recht traurige, in einigen Punkten - Nazibewußtsein gehört unbedingt dazu. Aber auch eine starke, gewachsene Geschichte. Wiederaufbau, DDR, Wiedervereinigung gehört ebenfalls zu unserem Volk.

Aber das ist es nicht, was Politiker meinen, wenn sie von Leitkultur sprechen. Sondern eben die Tugenden, die du oben so schön aufgelistet hast, von denen v.a. christliche Werte und Demokratie. Ein Volk, das anstrebt zur EU anzuschließen, sollte also Folter, Völkermord, religiöse Verfolgungen, Todesstrafe etc. aufgeben.

Wobei ich dir Recht gebe, dass "Leitkultur" ein ungenauer und unschöner Begriff ist.

Feuerkopf
Moderatorin
Moderatorin

Benutzeravatar
 
Beiträge: 5707
Registriert: 30.12.2000
Do 25. Nov 2004, 10:29 - Beitrag #4

Ich tu mich immer schwer mit aufgepfropften Begriffen.
Hoffentlich gehört zum Deutschen Kulturgut nicht auch, regelmäßig das Volksliedergut zu pflegen und sonntags das Dirndl aus dem Schrank zu holen! :s126:

Das Deutschland, das wir kennen, ist ein Konstrukt, bestehend aus Komponenten, die im Laufe der Geschichte mehrfach gewechselt haben und die dauerhaften Zustrom und Zuwachs von "außen" hatten.
Eigentlich können wir nur eine Momentaufnahme machen und gucken, was "uns", wer immer wir auch sind, heute ausmacht.
Die gemeinsame Sprache ist sicherlich eine mächtige Klammer, vor allem, seit in ganz Deutschland Hochdeutsch zumindest gelehrt wird.
Auch ist unsere noch recht junge Demokratie ein Markenzeichen.
Aber so etwas wie einen typischen Deutschen wird man nicht finden.
Es gibt maulfaule Bayern und lebenslustige Friesen, Sachsen, die mehr sind als ein komischer Dialekt und Kölner, die Karneval hassen.
Außerdem gibt es mehr als einen Deutschen, der Vorfahren aus anderen Ländern, anderen ethnischen Gruppen hat.
Wenn etwas inzwischen typisch für uns ist, dann die Vielfalt.

Ich misstraue diesen Aufwallungen von nationaler Identitätssuche. Mir gefällt diese sonderbare Abgrenzungssucht nicht.
Bin halt ein Kind der 60er und 70er, als "Multikulti" kein Schimpfwort, sondern ein Traum war.

dmz
Diligent Member
Diligent Member

 
Beiträge: 205
Registriert: 29.02.2004
Fr 26. Nov 2004, 05:40 - Beitrag #5

Hallo! Danke fuer die Beitraege,
die mir bei der Interpretation des Begriffspaares "Leitkultur + Identitaet"
neue Aspekte gegeben haben, so dass ich diesbezueglich sicherer in der Beurteilung geworden bin.
:::
Gut hat mir die Definition von 'Maglor' gefallen:
"Leitkultur beschreibt die Identitaet(en), die man haben sollte ....."
:::
Man koennte dann behaupten, dass gewisse Fuehrungseliten im Volke,
da sie (dtsch) "Leitkultur + Identitaet" propagieren, eine gewisse Gleichschaltung der Gesellschaft anstreben.
Der Begriff "Gleichschaltung" ist auf Grund unserer Geschichte in der juengeren Vergangenheit
negativ besetzt; dennoch gibt es m.E. auch einen positiven Grad an Gleichschaltung.
Letzteres waere dann die bisweilen propagierte und angestrebte (dtsch) "Leitkultur + Identitaet".
Nur bedeutet das u.U. Einschraenkung und Verschwinden kultureller Vielfalt,
wenn die Grenzen eng gezogen werden.
Aus dieser Sicht ist das Wertepaar (dtsch) "Leitkultur + Identitaet" umstritten;
manche meinen daher: offiziell diese lieber nicht.
-
-
Der Hinweis auf die Dtsch Geschichte von 'aleanjre' hat mich nachdenklich gestimmt.
Dann koennte doch was dran sein, dass die 'Dtsch Mentalitaet' durch die traumatischen Ereignisse
der Kriege (seit 1618 dem 30jaehrigen und zuletzt WII bis 1945) in Mitleidenschaft gezogen worden ist;
- weil die jeweils nachkommenden Generationen durch eine 'gefaerbte' Leitkultur und
daraus sich (teilweise) ergebenden Identitaetsspektren gelenkt und 'ver-bildet' worden sind.
:::
Nachdem Dtschl bis 1945 immer wieder die bekannten Erniedrigungen und Niedergaenge erlebt hatten,
- und die Erinnerung daran intensiv hochgehalten wird (heute medial) -,
leiden und nehmen wir wohl intensiver Anteil an den Geschehnissen der Welt als andere Nationen (?),
obwohl das gar keiner von uns verlangt.
Waere es verwunderlich, wenn sich nachkommende (dtsch) Generationen
gegen historisch bestimmte Bezugselemente (z.B. wg.3.Reich, Holocaust) als relative Anteile
einer "Leitkultur" zukuenftig entschiedener wehren wuerden als bisher,
weil sie nicht mehr leiden wollten?
(Ablehnung jeglicher "Leitkultur"; Multikulti)
-
-
'Feuerkopf' schrieb:
Hoffentlich gehört zum Deutschen Kulturgut nicht auch,
regelmäßig das Volksliedergut zu pflegen und sonntags das Dirndl aus dem Schrank zu holen!

Natuerlich gehoert das zum Dtsch Kulturgut; jedoch nicht zur "Leitkultur",
aber zum Identitaetsmerkmal einer (dtsch) Person mag es bisweilen gehoeren.
("Am Brunnen vor dem Thore .....": ich hoer's gelegentlich gerne .....)
Wie 'Maglor' oben schon schrieb:
Identitaet 'soll' durch die Leitkultur beschrieben werden;
muss aber in der Praxis nicht immer mit dieser uebereinstimmen.
Deshalb kann Identitaet auch negativen Eindruck hinterlassen;
ich hatte eingangs (2) ein paar Beispiele aufgeschrieben,
die mir gar nicht so positiv erschienen.
Ich misstraue diesen Aufwallungen von nationaler Identitätssuche.
Mir gefällt diese sonderbare Abgrenzungssucht nicht.

Mir - ehrlich gesagt - auch nicht.
Mir ist es schon zuwider, wenn vor dem Fussball-Laenderspiel die National-Hymnen
gespielt und gesungen werden; in einer Zeit der wirtschaftlichen Zusammenschluesse von Nationen
und dem Abbau von Schranken und Barrieren zwischen den Nationen,
die frueher von Zeit zu Zeit Krieg gegeneinander fuehrten.
Ich halte dieses Gehabe der (nationalen) Sportverbaende fuer antiquiert, ueberfluessig,
sogar 'schaedlich', wenn ich an die angestrebte Voelkerverstaendigung denke
und an den Abbau von Vorurteilen.
Das Deutschland, das wir kennen, ist ein Konstrukt,
bestehend aus Komponenten, die im Laufe der Geschichte mehrfach gewechselt haben und
die dauerhaften Zustrom und Zuwachs von "außen" hatten.

Aber das bedeutet nicht, dass eine so zustande gekommene Gesellschaft
keine "Leitkultur" haette.
Im Franken-Reich der 'Merowinger' und 'Karolingen' (ca500-900n.Chr)
bestand die "Leitkultur" u.a. darin:
"Wer die Obrigkeit und die Leitlinien der Gesellschaft anerkannte (und auch mitkaempfte),
der gehoerte dazu".
So gehoerten zum Reich der (germ.) Franken und Gallo-Romanen im Laufe der Zeit:
Sachsen, Thueringer, WestGoten, Hunnen, Alemannen u.a.m.
Die gemeinsame Sprache ist sicherlich eine mächtige Klammer,
vor allem, seit in ganz Deutschland Hochdeutsch zumindest gelehrt wird.

Ganz meine Meinung.
Gestern Abend, 21h in Phoenix-TV ging es wieder um die Elemente einer (dtsch) Leitkultur;
Thema: mangelhafte Dtsch-Sprachkenntnisse von Auslaendern in der bereits 3. Generation.
Die Integration von Zugezogenen aus dem Ausland ist bisher daran gescheitert,
dass man es von dtsch Seite aus nicht zu regeln weiss,
bei den Betroffenen die Defizite der (dtsch) Sprachkenntnisse zu beseitigen.
Damit scheitern der Aufbau eines angemessenen Bildungsniveaus und auch der Integrationserfolg.


Zurück zu Diskussion

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 1 Gast