Dem frühkindlichen Trauma auf die Spur kam man durch Beobachtungen von Kleinkindern, die ins Krankenhaus mussten. Vor 50 Jahren völlig selbstverständlich, dass die Eltern ihr Kind an der Tür abzugeben hatten und dann höchstens ein Stündchen am Tag reinschauen durften - manchmal auch nur einmal die Woche. Je nach Krankheit und Krankenhausphilosophie. Eltern wurden als Heilentwicklungsstörend empfunden. Es fiel auf, dass die Kinder allesamt einen gleichartigen Prozess durchliefen: Tränen, Verzweiflung, Rufe nach den Eltern in der ersten Zeit. Stillere Verzweiflung in der Folgezeit. Stille in der Endphase. Die Kinder unter 4 - 6 Jahren waren schwer traumatisiert durch die Trennung von ihren Eltern, die sie sich nicht erklären konnten, waren in Panik (sind meine Eltern tot, warum kommen sie nicht, ich rufe doch!), passten sich dann aber irgendwann an, waren folgsam, brav, still. Alpträume, Bettnässen als einziges sichtbares Zeichen, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Dauerte die Trennung dann noch länger, im Verbund mit mangelhafter emotionaler Betreuung seitens des Klinikpersonals (war und ist keine Zeit für), konnten noch tiefergehende Schädigungen auftreten: autistische Verhaltensweisen, Selbstverletzung, Störung der Sprach-, Motorik-Kognitiventwicklung, einnässen, Wachstumsstörungen, aggressives oder depressives Verhalten ... Hospitalismus wurde es benannt. Als man dies erkannte, die Zusammenhänge verstand, kam ein tiefgreifender Wandel der Medizin und Pflege in Gang: fort von sterilem Funktionalismus, hin zu menschlicherem Umgang mit Kranken im allgemeinen und Kindern im Besonderen. Ein Wandel, der sehr lange dauerte - ich bin Jahrgang 76, und meiner Mutter wurde noch gesagt, dass Stillen sexuelle Belästigung unschuldiger Säuglinge ist. Ich weiß, dass ich bei einer Operation mit 2 Jahren allein im Krankenhaus war. Bei meiner Pflegeausbildung Mitte der 90er war "Rooming in" von Müttern mit ihren Neugeborenen gerade erst im Kommen und schlecht aufgenommen beim alteingesessenen Personal.
Es ist also eine jugendliche Entwicklung, auf die psychischen Bedürfnisse einzugehen. Das gilt auch für die Notfallbetreuung von Unfallopfern oder beistehenden Zeugen. Heute ist es Usus, dass Notfallpsychiater ausrücken und Gesprächsbetreuung anbieten, wenn beispielsweise auf einer Baustelle ein tödlicher Unfall passiert und die Kollegen das mit angesehen haben. Das gibt es erst seit wenigen Jahren. Davor hatte man die Zähne zusammenzubeißen und weiterzumachen.
Ist also die heutige Generation so labil und verweichlicht, dass sie etwas braucht und verlangt, dass es so noch nie gegeben hat?
Ich denke nicht.
Wenn ich zum Beispiel meine Schwiegermutter von ihren frühkindlichen Kriegserfahrungen erzählen höre, dann kann ich ihre Seelennarben quasi mit Händen spüren. Wie sie verschüttet wurde. Wochen im Bunker saß. Bomben fallen sah. Köln brennen sah, und Frauen und Kinder als lebende Fackeln. Wie sie zu Fuß durch ganz Deutschland vertrieben wurde, und dann vor den Russen zurückfloh. Wie sie zuhause so viele Menschen nicht mehr wiederfand. Einschusslöcher an der Wand, an der eine ganze Familie niedergeschossen wurde, weil der Vater Parteimitglied war.
Ihre eigene Mutter, die immer wieder Selbstmord begehen wollte, weil sie ihr neugeborenes Baby in den Bomben verloren hatte, ist ihre tiefste Wunde. Die zweittiefste der Verlust des Vaters, der sich von seiner Familie abgewandt hatte.
Und wenn ich mir dann ihr Leben betrachte, dass sie seitdem geführt hat, dann weiß ich, dass sie diese Traumata nie überwunden hat. Nie. Obwohl sie ein großes Familiennetz hatte, dass sie auffing. Dieses Netzwerk war mit Sicherheit ausschlaggebend, dass sie überhaupt ein normales Leben führen konnte, aber die Narben schmerzen weiterhin.
Meine Omi hat diesen Krieg als junge Frau erlebt. Viele schreckliche Dinge sind geschehen, aber sie hat sie alle verdrängt. Diese Frau hat ein glückliches, in sich zufriedenes Leben geführt, sie hat stets in sich geruht. Das hat sie geschafft, in dem sie alles Traurige, Schreckliche tief in sich verkapselt hat, es kam kaum jemals an die Oberfläche zurück. Erst in ihren allerletzten Lebensmonaten zeigte sie überhaupt Traurigkeit, Angst und Verzweiflung, und auch Wut - und niemals bin ich ihr näher gewesen als da, denn sie war vorher unberührbar gewesen, sei es für Unglück, aber auch für Glück.
Und das sind für mich die Prototypen derjenigen Menschen, die ihr Leben schaffen, egal unter welchen Umständen. Egal zu welcher Zeit oder mit welchem Hilfswerk. Die einen, die zwar leiden, von einer Depression in die nächste treiben, aber durchaus klar kommen, ihre Fassade hochhalten können, immer mal wieder verzweifeln, nicht mehr weiterwollen, dann aber wieder anpacken. Sie haben eine Aufgabe (Familie, Arbeit, wai), und solange die erfüllt werden muss, funktionieren sie. Das gilt für den Menschen heute genauso wie für den Menschen im Mittelalter, Antike, Steinzeit... Die grundsätzliche Leidensfähigkeit des Menschen ist unerschöpflich, solange er einen Grund hat, dieses Leid zu ertragen. Ob nun unter Depressionen oder innerer Versteinerung, wer einen Sinn im Leben sieht, der lebt auch weiter. Egal, ob ständiger Kriegszustand droht, die Kinder wegsterben, man heute nicht weiß, was man morgen essen soll - es geht voran.
Etwas anderes ist es mit jenen, die eben keinen Sinn mehr sehen. Die keine Aufgabe haben, der sie sich so verpflichtet fühlen, dass sie weitermachen wollen - gerade dass ist eine Pest der heutigen Zeit: entwurzelte Familien, Arbeitslosigkeit, keine Perspektive für irgendetwas. Das zwingt einen Menschen stärker in die Knie als alles andere. Selbst Sklaven in einem Steinbruch hatten noch irgendeine Sinnhaftigkeit, und sei es auch nur, der Peitsche zu entkommen oder den Hass zu schüren. Wer keinerlei Familienbund hat, keine Arbeit, kein Ziel - Stillstand ist Tod.
Nun zurück zu dem frühkindlichen Trauma. Man glaubte ewige Zeiten lang, dass neugeborene Kinder keine Schmerzen fühlen und auf Schmerzreize nur durch Reflex reagieren. Entsprechend ging man mit den Würmchen um.

Erst seit recht kurzer Zeit man, dass schon Ungeborene Schmerz fühlen können, und das Gehirn ein ausgeprägtes Schmerzgedächtnis hat. Starke Schmerzerfahrungen im frühkindlichen Alter bringt Erwachsene hervor, die sehr schlecht mit Schmerz umgehen können, auf Krankheiten und Stress sehr viel stärker als "normal" reagieren, schneller in Depressionen verfallen und allgemein stressanfälliger sind.
Das gleiche gilt für psychische Traumata. Hospitalismuserfahrungen, einschneidende Erlebnisse wie Gewalt, Verlust einer Vertrauensperson etc. wirken ein Leben lang nach. Alpträume, mangelndes Selbstvertrauen, soziale Kontakt- und Bindungsstörungen, Depressionsneigungen, Suchtanfälligkeit, "Opferhaltung" - durch ängstliches Verhalten immer wieder als Opfer ausgesucht werden - das alles sind mögliche Folgen. Dazu die gesamte Palette möglicher Psychosomatischer Erkrankungen. Das alles ist keine Träumerei irgendwelcher Spinner, die dafür bezahlt werden sich irgendetwas auszudenken um die Massen zu amüsieren, es ist Fakt.
Wenn in früheren Zeiten jemand in die Scheune ging und sich aufhängte, tja, dann wurden die Hinterbliebenen schräg angeguckt, der Tote in ungeweihte Erde entsorgt und das Leben ging weiter. Das derjenige mit irgendwelchen Dingen nicht klar kam, tja, armer Kerl, war halt so.
Ich persönlich halte die Gesellschaft nicht für emotionsärmer als früher. Die Familiennetze gehen verloren, ja, etwas, woran die Schwachen zu leiden haben. Die Kranken, die Alten, und ganz besonders die Kinder. Die Starken schaffen sich einfach neue Netzwerke und leben prima damit.
Die Kranken, die Alten und ganz besonders die Kinder waren schon immer und zu allen Zeiten die Opfer. Und zu allen Zeiten gab es wohltätige Menschen, die sich darüber sorgten und für eben diese kämpften. Wäre Jesus jemals ähnlich erfolgreich gewesen, wenn er einfach nur gegen die Besatzer rebelliert hätte statt sich nebenbei auch noch für die Schwachen, die Armen, die Rechtlosen einzusetzen? Hätte er eine ähnlich große Gefolgschaft gehabt, hätte er einfach nur gegen die Reichen gewettert statt zu sagen: "Bringt die Kinder zu mir?"
Problematisch an der Sache ist eigentlich nur eines: Die Rücksicht auf psychische Empfindsamkeit wird im Exzess übertrieben. Man sieht es in Amerika, dem Land, dass Exzesse erfunden hat, wo es in einer gewissen Gesellschaftsschicht so selbstverständlich wie atmen ist, einen privaten Therapeuten zu haben. Ob man nun ein Problem hat oder nicht. Na, wer keines hat, der hat schon mal eines, oder? Medien fokusieren den Blick auf Dinge, die es in der Problemhaftigkeit eigentlich gar nicht gibt - aber wenn man nur noch von randalierenden, totschlagbereiten Jugendlichen hört, dann glaubt man irgendwann gar nicht mehr, dass dies eine Minderheit sein könnte.
Meine Mutter wäre reichlich irritiert gewesen, wenn mein Vater meine Geburt hätte miterleben wollen. Heutzutage muss ein werdender Vater sich quasi schon mit Koma oder Pestbeulen entschuldigen können, wenn er einfach keinen Bock auf Kreissaal hat. Es wird übertrieben, und darum bekommt es schon wieder einen negativen Touch: "Ach ja - psychisch. Nee, is' klar, scho' Recht, mein Freund. Psychisch geht immer."
Das negiert aber nicht die Tatsache, dass es so ist, wie es ist. Und schon immer so war.