Euphemismen

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Ipsissimus
Dämmerung
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Fr 21. Mai 2010, 12:12 - Beitrag #1

Euphemismen

wer kennt sie nicht, wohlwollend oder positiv klingende Formulierungen oder Worte à la

"Sie können sich jetzt anderen Aufgaben widmen."
"Motivationsanreiz"
"unten herum"
"Freund Hein"

hinter denen sich unangenehme oder als anstößige empfundene Sachverhalte verbergen können, in Bezug auf die genannten Beispiele also

"Sie sind entlassen."
Erpressung - ("Wenn Sie nicht jede Arbeit annehmen, die wir für sie als zumutbar erklärt haben, erhalten Sie kein Hartz IV mehr.")
Genitalbereich
Tod

Motive für aufwertende, mäßigende oder vertuschende Formulierungen ergeben sich in erster Linie daraus, bestehende Tabus und soziale Normen nicht zu brechen, Anstößiges zu umgehen sowie die Schonung der Gefühle von Sprecher und angesprochener Person zu unterschiedlichen Zwecken.


Rechtfertigen/begründen die angeführten und eventuell weitere Motive die Verwendung von Euphemismen, und bis zu welcher Grenze rechtfertigen sie gegebenenfalls diese Verwendung?

Oder führt die semantische Manipulation, die von einem derartigen Sprachgebrauch ausgeht, dazu, dass darüber das Verständnis des Gemeinten verlorengeht, die Funktion von Sprache also in gefährlicher Weise konterkariert wird? Oder rechtfertigt der Zweck das Mittel?

Wie haltet ihr es mit dem Gebrauch von Euphemismen?

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

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Fr 21. Mai 2010, 14:56 - Beitrag #2

Einerseits können etwa gezielt auch komische Effekte mit Euphemismen erzielt werden (Filmzitat: "ich muß mal für kleine Königstiger"; "er kann jetzt viel mehr Zeit mit seiner Familie verbringen" über einen entlassenen Staatssekretär in HP6), andererseits natürlich auch, wie von dir angemerkt, eine manipulative Wirkung entfalten, einer der bekanntesten Fälle Ende der 90er war ja der "Kollateralschaden". Euphemismen können aus politischer Korrektheit bzw. begrifflicher Unsicherheit entspringende Alternativbezeichnungen ethnischer Gruppen sein, der "Migrationshintergrund" wäre hier ebenso zu nennen wie "dunkelhäutig" oder der große "Mittelmeerraum".

Wer versuchen würde, den Gebrauch von Euphemismen einzuschränken, würde damit mutmaßlich nur neue Euphemismen oder gleich euphemistische Phrasen herbeiführen, schließlich ist ihr sozialer Stellenwert (Tabuwahrung, damit zugleich Distinktion) hoch; wesentlich wichtiger als ihr manipulativer Einsatz, der ohnehin schnell durchsichtig wird und zu regelmäßigem Ersatz führt. Die Euphemismen für "Hure" sind Legion und ständig im Wandel, ebenso für zahlreiche andere Begriffe aus dem Bereich der Sexualität, die unterschwellig alltäglich, aber zur Wahrung des Decorums nicht offen zu thematisieren sind.

Da ich mich als Teil der bürgerlichen Gesellschaft verstehe und es bleiben möchte, wahre ich ihre Spielregeln und verwende Euphemismen, ohne weiter darüber nachzudenken, nach Möglichkeit entsprechend den lokalen Gegebenheiten - das ist nunmal ein zentraler Bestandteil der Erziehung.

Ein typisches Beispiel wäre, wie man bei verschiedenen Bekannten oder aber in unterschiedlich guten Restaurants/Lokalen nach der Toilette fragt...

e-noon
Sterbliche
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Fr 21. Mai 2010, 17:31 - Beitrag #3

Die Frage ist auch, was denn der eigentlich "richtige", dh. neutrale Begriff sein soll. Lykurg nennt Hure - für mich ist "Hure" die Beleidigung und "Prostituierte/r" die korrekte Bezeichnung. Müsste man nicht, wenn man auf Euphemismen verzichtet, auch auf Beleidigungen etc. verzichten? Man ist ja nicht wirklich ein Arschloch...

Die starke Tabuisierung ist unmittelbar mit Euphemismen verbunden, das wird deutlich, wenn man den Sprachraum wechselt. Das Italienische ist reich an Begriffen für "Penis", die auch gerne als Schimpfwörter benutzt werden -
cazzo/minchia - Schwanz (bei uns eher Scheiße!), testa di cazzo - Schwanzkopf ^^, piselletto (Erbschen) - bei uns wohl sowas wie Pimmelchen? :D , uccello (Vogel) - tja, ham wir nicht...
Ehrlich gesagt wüsste ich nicht, welcher Begriff bei uns der "richtige" wäre. In einer medizinischen oder sachlichen Diskussion sicherlich Penis, zwischen jungen Erwachsenen (mit älteren redet man nicht so häufig darüber...) sicher Schwanz, im Fernsehen oft Ding, in Büchern gerne mal Männlichkeit...

Übrigens gibt es natürlich auch den positiven Gebrauch von Euphemismen, in der (Liebes-)lyrik vor allem, wo der Euphemismus nicht dazu dient, zu verschleiern (nicht in erster Linie), sondern dazu, das erhabene, anbetungswürdige, überirdisch schöne der geliebten Person herauszustellen - dann hat sie halt mal ein Haupt statt einen Kopf, milchigweiße statt einfach blasse oder hautfarbene Finger, rosenfarbige Lippen statt Standardlippen, eventuell auch eine Quelle der Lust statt eine Klitoris :D Eben alles romantisch eingefärbt, was bei rein sachlicher Beschreibung wohl schwer würde (bzw. wäre dann nicht einzusehen, warum man statt des Gedichts nicht einfach ein Foto drucken sollte).

Wenn mir jemand sagen würde "Sie können sich jetzt anderen Aufgaben widmen", würde ich sofort sagen "Ja, super, welche denn?"
Bei mir wäre es also durchaus sinnvoll, deutlicher zu werden.

"Freund Hein" habe ich noch nie gehört. Bei mir/uns heißt der Tod immer Tod (wobei auch die Verben abkratzen, abnippeln und ins Gras beißen nicht selten sind). Sterben ist offenbar gesellschaftlich anerkannter als *Liebe machen*.

Wie ich das finde... keine Ahnung. Ich denke, man hört lieber "die Frisur steht dir nicht" als "du siehst damit scheiße aus". Man hört lieber "Hast du etwas zugenommen?" statt "Mann, bist du fett geworden!". Man hört lieber "du hattest wohl einen schlechten Tag" als "tja, du bist einfach zu doof".

Im täglichen, direkten sozialen Miteinander heiße ich Euphemismen im Großen und Ganzen gut. Wo es aber von Presse und Politik zum Verschleiern tatsächlicher Gegebenheiten angewendet wird - wenn zum Beispiel Jugendliche Straftäter aus muslimischen Ländern auf einmal nur noch "Asiaten" heißen oder man nicht mehr weiß, ob ein Afroamerikaner weiß oder schwarz oder farbig oder vielleicht auch gar nicht mehr in ist, wird es absurd und gefährlich. Ebenso ist es bei Kollateralschaden - zivile Opfer ist neutral und deutlich aussagekräftiger. Anwohner des ostnordöstlichen Mittelmeerraumes sind einfach Türken. Mit Menschen, "die einen alternativen Lebensstil praktizieren", kann man ruhig auch Homosexuelle nennen, wenn man ausschließlich diese Gruppe meint. Und "Menschen mit speziellen Bedürfnissen" gibt es viele, eigentlich hat jeder Mensch spezielle Bedürfnisse, daher ist es sinnvoll, von Behinderten zu sprechen, wenn man nur diese meint und nicht alle Menschen.

Also: Privat aus Höflichkeit ja, öffentlich aus political correctness und Verschleierungstaktik heraus nein.

Lykurg
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Sa 22. Mai 2010, 00:03 - Beitrag #4

Absatz 3 fällt großenteils in den Bereich der Metapher, ohne speziell ein Euphemismus zu sein (sinngemäß: ein als negativ/tabu empfundener Begriff wird durch einen positiven oder neutralen ersetzt). Entsprechend auch das "Arschloch" aus Absatz 1; wenn man zu jemandem sagt, "Arschloch" wäre für ihn noch ein Euphemismus, macht man sich nicht unbedingt nur Freunde. Bild

Über die Hure hatte ich einen Moment nachgedacht - sicher ist das heute im Wesentlichen eine Beleidigung, zumindest historisch aber auch die Berufsbezeichnung, während prostituieren 'draußen hinstellen' und 'öffentlich feilbieten' meint, um den käuflichen Sex aber herumredet.

Freund Hein ist mir vertraut, Menschen "mit speziellen Bedürfnissen" bin ich dagegen noch nicht begegnet, tatsächlich auch ein Musterbeispiel.

Traitor
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So 23. Mai 2010, 16:29 - Beitrag #5

Generell haben Euphemismen ihre gerechtfertigte soziale Rolle, wie von Lykurg dargestellt. Diese korrekt wahrnehmen können sie aber nur, wenn alle am Kommunikationsprozess teilnehmenden die tatsächlich auch gemeinte Bedeutung auch verstehen. Insofern unsere gesteigerte Intoleranz gegenüber modischen Euphemismen von Politikern, Managern und Journalisten, denn bei denen ist es allzu oft erkennbar das Ziel, sich so umständlich, weithergeholt oder auch gerne mal schlicht und ergreifend falsch auszudrücken, dass die Betroffenen einen nicht verstehen.

Ein mich sehr ärgerndes Phänomen sind Euphemismen-Ketten, also ähnlich dem, was Lykurg für "Huren" anspricht: alle paar Jahre wird ein neuer "offizieller" Euphemismus eingeführt und der Ausdruck, der vor kurzem noch als "politisch korrekt" propagiert wurde, plötzlich auch wieder inkorrekt sein soll. Das extremste Beispiel sind hier sicherlich Behinderte, bei denen man vor all den neuen Begriffen längst völlig den Überblick verloren hat.

"Freund Hein" kenne ich nur sehr passiv, ich würde ihn als völlig veraltet einstufen, vielleicht noch norddeutsch-regional oder so erhalten geblieben, aber im wesentlichen ausgestorben. (;))

Zu den Huren sei auch angemerkt, dass hier ein schönes Beispiel unterschiedlicher Wortkonnotationsentwicklung in verwandten Sprachen vorliegt: in Holland findet man in jedem Ort mehrere ganz offen beworbene Bordelle, die Fahrräder oder Bungalows "verhuuren". :D


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