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Ein Ziel - aber lohnenswert

BeitragVerfasst: Di 13. Mär 2012, 09:22
von Amely67
Wer möchte das nicht - etwas bewegen?

Als Mensch mit Erfahrungen in einem Bereich, in dem nicht jeder Erfahrungen sammeln durfte, möchte ich etwas abgeben davon und der Mehrheit ( was hier vielleicht nicht möglich ist) rüberbringen.

In verschiedenen Praktikas in meiner Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin war/ist es meine Aufgabe Menschen mit Behinderung zu betreuen und ihre Selbstständigkeit weitgehend zu erhalten und zu fördern.

Ich empfinde die Arbeit mit diesen Menschen als sehr erfüllende Aufgabe und bin beeindruckt, wie viel Freude, Lebenslust und auch positive Erwartungen in ihnen stecken.
Um so schlimmer empfinde ich, wie sich die Gesellschaft ihnen gegenüber oft verhält. Böse Blicke, verachtende Bemerkungen, Bedauern und Ignoranz schlug uns entgegen.
Doch es weiß doch im Grunde jeder, dass er morgen schon selbst betroffen sein kann - jeder ahnt wie schnell so etwas passieren kann - ist das der Grund der Flucht und Abneigung?
Wer von den Leuten, die sich so negativ verhalten, möchte denn selber ignoriert oder schief angesehen werden - gesetzt dem Fall?

Ich möchte etwas zitiern, was den einen oder anderen vielleicht zum Nachdenken anregt:

" In den vergangenen 30 Jahren zeigte die internationale Independent-Living-Bewegung auf, dass die wirklichen Probleme behinderter Menschen nicht in ihrer individuellen Beeinträchtigung, sondern in den ausgrenzenden gesellschaftlichen Bedingungen, dem eingeschränktem Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe und den massiven Vorurteilen gegenüber Behinderung bestehen."

Mit diesen Worten wird der Ansatz auf der http://www.disability-studies-deutschland.de beschrieben.

Ist das nicht irgendwo traurig und sind diese Menschen dadurch nicht doppelt gestraft? Warum denk eine Gesellschaft so und wie können wir darauf einwirken um es zu ändern?

Für mich sind Menschen mit geistiger Behinderung Menschen, die anders denken - Menschen mit Defiziten aber dennoch Menschen die eine Menschenwürde besitzen und die man daher wie jeden anderen auch mit Respekt behandelt.
Was für Freude der Umgang mit ihnen wirklich bringt, kann nur jemand wissen, der es erlebt hat.

Meiner Meinung nach müsste ein Netzwerk wie " Behinderte und ihre Freunde" gefördert und erweitert werden und das wird es auch.

BeitragVerfasst: Di 13. Mär 2012, 21:02
von Anaeyon
Ich habe ebenfalls mit Menschen mit Behinderung gearbeitet (meist geistig + körperlich).

Ich habe eine etwas andere Erfahrung gemacht, bzw. würde es anders formulieren. Wird jetzt böser klingen als es gemeint ist ;):
- Menschen mit Behinderung sind Menschen. Sprich, sie sind kein bisschen besser oder schlechter als jeder andere auch.
- Sie denken idR. nicht unbedingt anders, aber dafür, wie du schon sagtest, weniger effektiv. Sonst hätten sie idR. auch keine Behinderung. Dieser Punkt ist wichtig, nicht nebensächlich!
- So sehr ihnen die Gesellschaft auch im Weg stehen mag, 90% der Leute dort wären auch in einer pefekten Gesellschaft nicht in der Lage, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Siehe vorheriger Punkt.
Oft wird davon geredet, dass Menschen mit Behinderung wahnsinnig freundlich und herzlich wären. Das trifft auf den einen mit Behinderung genauso zu, wie auf den anderen ohne Behinderung. Neben Freundlichkeit, Herzlichkeit, Einfühlungsvermögen sind mir dort auch Neid, Gier, Agression, Egoismus extremer aufgefallen als unter Menschen ohne Behinderung.

Man nehme sich einen Standard-Mensch und mache ihn weniger effektiv in wichtigen Bereichen des Lebens. Warum sollte der Umgang mit ihnen mehr Freude bereiten, als der Umgang mit jedem anderen?

Letztlich ist das Geschmackssache und auch stark davon abhängig, mit welchen Persönlichkeiten du zu tun hast. Natürlich dürfen Menschen mit Behinderung nicht schlechter behandelt werden und man sollte nachsichtig sein, aber hast du nicht auch Verständnis dafür, dass man erstmal genervt reagiert, wenn im Bus einer anfängt in extrem hohen Tönen rumzuschreien?

Oder sich eine ungepflegte Dame neben dich setzt und dir eine halbe Stunde lang das Ohr abkaut, inklusive extrem langsamer Sprache und grottiger Grammatik? ^^ Das ist schlechtes Verhalten, ob nun gewollt oder nicht. Einerseits sollte ich einem Behinderten dafür natürlich nicht böse sein, andererseits kann er auch von mir nicht erwarten, dass mich sein Unvermögen bezaubert..

Ich bin oft mit einem unterwegs gewesen, der hat oft so getan als würde die Welt untergehen, nur weil er zwei Treppenstufen hochsteigen musste. Er hatte einen etwas kaputten Fuß, es dauerte ein paar Sekunden länger als bei mir. Schon sprach er von "dieser ständigen Ungerechtigkeit gegen uns". Seine Ansicht diesbezüglich wurde glaube ich maßgeblich durch Gutmenschen beeinflusst, die ihm das gleiche erzählt haben, was diese Bewegung erzählt (auch wenn sicher einiges daran richtig ist!). Ich würde hier nicht immer sofort abnicken und glauben, dass Behinderte immer nur die Opfer sind, die ja überall ignoriert werden. Es gibt verhältnismäßig wenige von ihnen und die Kosten, die auf ein Land zukommen würden, um es jedem Behinderten recht zu machen, sind vollkommen unverhältnismäßig.

Ich habe auch die Erfahrung gemacht, wie viele Leute tatsächlich hilfsbereit sind. Als ich einen Tag im Rollstuhl durch die Stadt gefahren bin, musste ich Hilfsbereite geradezu abwimmeln, sobald ein Hindernis ersichtlich wurde.

Und zum Schluss möchte ich noch hinzufügen, dass es unter den respektablen HEPs leider auch eine bestimmte Unterart gibt: die Rudolf-Steiner-Verehrer, von denen hatten wir eine ganze Menge in unserem Heim und DENEN sollte man überhaupt nichts glauben. Denn das sind ganz oft die, die behaupten, dass Menschen mit Behinderung "nur anders denken", "ganz wundervoll sind" und damit oft genug auch den Betreuten selbst eine völlig falsche Sicht der Realität geben. Eine Sicht, die den Betroffenen nicht unbedingt glücklicher machen muss sondern ihn meines erachtens nach von der Welt der "Gesunden" trennt.

Und nicht selten sind es "wir" Pfleger, die für diese Trennung sorgen. Wenn mich ein Betreuter fragte, was ich so am Wochenende mit meinen Freunden mache, dann habe ich mal 1-2 Bier erwähnt und "zuviel Alkohol macht eh nur agressiv" und "mit ein wenig Ruhe lässt sich eh alles besser genießen", hauptsache es konfrontiert die Betreuten nicht mit einer Realität, nach der sie sich einerseits sehnen (Selbstständigkeit), in der sie andererseits untergehen würden.

Edit: Bisschen umformuliert..
Edit: Stark umformuliert..

BeitragVerfasst: Di 13. Mär 2012, 21:34
von Milena
..da kann ich Anaeyon nur zustimmen...
auch ich habe in meiner ausbildung ein praktikum in einer kerzenwerkstatt gemacht und konnte sofort feststellen, dass es ua helle und dunkle menschen gab...nicht alle mit morbus down syndrom waren sogenannte sonnenkinder...menschen, die einen umarmen und knuddeln und wie die sonne stets strahlen....
ich habe diese menschen dort nicht anders als die menschen hier eingeteilt, abgesehen von ihrer einschränkung....es gab agressive, giftige und unfreundliche menschen, wie du sie jeden tag überall antreffen kannst...
für mich galt es, diese pflegebedürftigen menschen zu begleiten, vielleicht ihnen etwas zu geben und helfen zu können...mehr wollte ich nie..
es gab für mich keine einteilung, in mensch hier und mensch dort....
vor meiner haustür und an meinem arbeitsplatz wusste ich, dass es menschen gab, die weitaus dümmer und gehässiger waren, als die in der kerzenwerkstatt, aber auch anders herum...und sie hatten offensichtliche behinderungen, sonst wären es keine sog. behinderte menschen oder wie ich sie zu nennen pflege: seelenpflegebedürftige..^^

BeitragVerfasst: Mi 14. Mär 2012, 09:13
von Amely67
Im Moment arbeite ich zum Praktikum in einer Heilpädagogischen Kita.
Ich gebe zu, dass ich im ersten Lehrjahr noch nicht allzuviel weiß, doch ich weiß, dass mir die Arbeit viel Spaß macht und dass ich mich freue von den Kindern auch so genommen zu werden, wie ich bin.
In meinen vorangegangenen Praktikas hatte ich es mit Jugendlichen zu tun und ich habe oft gestaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit sie ihre Hausarbeiten erledigten - da habe ich mit der eigenen Tochter eher zu kämpfen und weiß manchmal nicht weiter. Die Fachkräfte dort hatten stets gute Vorarbeit geleistet und ich werde mir viel mitnehmen und abschauen bei meiner Ausbildung.
Jedoch habe ich nicht vor, das Menschenbild, welches in mir wohnt aufzugeben. Dieses sagt mir - jeder hat das Recht auf Gleichbehandlung.
Und es sagt mir auch - jeder ist es wert geliebt zu werden.
Gerade Menschen mit geistiger Behinderung sind sehr feinfühlig. Sie merken wenn es einem nicht gut geht viel eher als andere Menschen - es ist schwer so etwas vor ihnen zu verbergen (ist besser sich nicht zu verstellen).
Wenn man nicht nur nach den Defiziten schaut, sondern zielgerichtet beobachtet was alles vorhanden ist und wozu der Einzelne fähig ist, so ist dieser auch gezielter förderbar und es macht Spaß - mir jedenfalls, die Freude in deren Augen zu sehen, wenn sie über sich selbst hinauswachsen - wenn sie mehr schaffen, als sie gedacht hätten. Das ist einer der Gründe, weshalb ich so gern mit ihnen arbeite und weshalb es mir Freude macht sie zu unterstützen und für sie dazusein.

BeitragVerfasst: Mi 14. Mär 2012, 11:50
von Ipsissimus
Eure Perspektiven dürften alle richtig sein, es sind halt unterschiedliche Perspektiven. Natürlich sind Menschen mit einer Behinderung ethisch keine per se besseren Menschen, es sind Menschen wie alle anderen auch, es gibt solche und solche unter ihnen. Und natürlich ist die soziale Ausgrenzung dieser Menschen deren wirkliches Problem. Vielleicht erinnert sich noch jemand an die "Aktion Sorgenkind", die vor einigen Jahren in "Aktion Mensch" umbenannt wurde. Die Namensänderung wurde damals von vielen belächelt, aber ich denke, sie war wichtig.

BeitragVerfasst: Mi 14. Mär 2012, 20:10
von Amely67
Das werde ich natürlich nicht abstreiten, dass es solche und solche gibt. Doch ein richtig böser Mensch mit Behinderung ist mir in meinem 45 Jahre währendem Leben noch nicht begegnet.

Vielleicht habe ich Glück oder es kommt darauf an, wie man auf diese Menschen zugeht und mit welchem Gefühl man an sie herantritt. Ich glaube sie spüren viel mehr als manch einer denkt.

BeitragVerfasst: Mi 14. Mär 2012, 20:40
von Anaeyon
Zitat von Amely67: und ich habe oft gestaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit sie ihre Hausarbeiten erledigten - da habe ich mit der eigenen Tochter eher zu kämpfen und weiß manchmal nicht weiter.

Ich weis nicht, wie es bei Kindern ist. Zumindest bei uns im Erwachsenen-Wohnheim war natürlich auch zu beobachten, dass sie manche Dinge anders, manche durchaus auch besser machen. Das lag zumindest bei uns daran, dass sie an ein Leben im Heim gewöhnt waren. Menschen mit Behinderung passen sich so an ihre Umgebung an, wie auch wir es tun. Da wo wir die Freiheit haben, uns von den vielen Möglichkeiten die wir haben ablenken zu lassen, haben sie diese oft nicht.

Bei mir waren zwei, die hatten einmal pro Woche "Schule" und hatten da als auch Hausaufgaben. Meist ein wenig Mathe, um den Umgang mit Geld zu erlernen. Da waren sie wahnsinnig stolz drauf, entsprechend konzentriert konnten sie dann auch lernen. Immerhin hatten sie damit die Aussicht, ein großes Stück Freiheit zu erlangen: Alleine in die Stadt gehen und Dinge kaufen, ohne dass ein Betreuer nebendransteht.

Jedoch habe ich nicht vor, das Menschenbild, welches in mir wohnt aufzugeben. Dieses sagt mir - jeder hat das Recht auf Gleichbehandlung.

Sehe ich auch so. Gleichbehandlung ist halt schwer, wenn du damit auch meinst, dass es ihnen genauso leicht gemacht werden muss, wie uns. Nimm dir nur mal die Gehbehinderten und sorge dafür, dass sie überall hinkommen. Das wirst du schlichtweg nicht schaffen, großflächig. Aber zumindest was die bösen Blicke und das Unverständnis angeht, sehe ich das genauso wie du. Bis auf den Unterschied, dass man eben auch mal genervt sein darf, solange man das nicht unverhältnismäßig zur Schau stellt.

Gerade Menschen mit geistiger Behinderung sind sehr feinfühlig. Sie merken wenn es einem nicht gut geht viel eher als andere Menschen - es ist schwer so etwas vor ihnen zu verbergen (ist besser sich nicht zu verstellen).

So geht es sicher einigen. Allerdings will ich auch da zu bedenken geben, dass zumindest die Heimbewohner daran gewöhnt sind, ihre Emotionen vor einer Gemeinschaft auszuleben. Somit sind sie auch nicht so wie wir darauf konditioniert, zu schweigen wenn man jemand anderem mal schlechte Laune ansieht. Wie oft glauben wir denn jeden Tag, die Laune eines anderen zu spüren, kommentieren dass dann aber nicht weil wir uns nicht einmischen wollen, weil wir das so gelernt haben? Die Laune der Mitmenschen spielt in einem Heim ja eine noch deutlich größere Rolle als in den meisten Bereichen unseres "gesunden" Lebens, weil wir uns sagen können "mir gehts zwar gerade schlecht aber jetzt sitze ich im Büro, jetzt funktioniere ich, und zu hause schrei ich den Duschkopf an" oder sowas..

Wenn man nicht nur nach den Defiziten schaut, sondern zielgerichtet beobachtet was alles vorhanden ist und wozu der Einzelne fähig ist, so ist dieser auch gezielter förderbar und es macht Spaß - mir jedenfalls, die Freude in deren Augen zu sehen, wenn sie über sich selbst hinauswachsen - wenn sie mehr schaffen, als sie gedacht hätten. Das ist einer der Gründe, weshalb ich so gern mit ihnen arbeite und weshalb es mir Freude macht sie zu unterstützen und für sie dazusein.

Das kann ich auch nachvollziehen Bild
Vielleicht hast du das Glück, bei Kindern schneller Fortschritte zu bemerken. Bei den Erwachsenen hat sich da kaum was geändert in einem Jahr. Aber auch da hat man schon gemerkt, dass schon der Versuch ihnen viel bedeutet.