Zensur im Kinderzimmer - Der neue Zeitgeist?

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Maglor
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Sa 5. Jan 2013, 18:22 - Beitrag #1

Zensur im Kinderzimmer - Der neue Zeitgeist?

In letzten Wochen gab es ein paar merkwürdige Nachrichten um die sogenannten Klassiker. Die Moderne soll einziehen in die Märchen.

Familienministerin Schröder mäkelt Grimms Märchen seien oft sexistisch. Sie selbst will alle Klassiker selbst zensieren, wenn sie sie ihrem Kind vorliest. Noch besser ist natürlich noch, dass sie das Konstrukt "das liebe Gott" favorisiert, wahrscheinlich, wenn weil sie den Unterschied zwischen grammatischen Genus und biologischem Geschlecht nicht kennt. focus
Die Erben von Ottfried Preussler präsentieren stolz eine politische korrekte Version von "Die kleine Hexe" in der das Wort "Negerlein" nicht mehr vorkommt. taz.

Nicht nur in Deutschland: In Schweden wurden mutmaßlich rassistische Elemente aus einem Weihnachtstrickfilm herausgeschnitten. taz.
Und auch in den USA darf Huckleberry Finn nicht mehr "Nigger" sagen.standard

Das ist der Zeitgeist. Die lieben Kleinen sollen die schlimmen Wörter dann wohl erst in der Grundschule von irgendwelchen schlecht erzogenen Altersgenossen kennenlernen, die Astrid Lindgren im Original gelesen haben. :crazy:

An sich ist das nichts neues. Der Weihnachtsmann wurde in 80ern auch noch häufig mit Rute dargestellt. Die hat er irgendwann verloren.
Vielsagend sind auch die Hollywood-Versionen zu Grimms Märchen. Den berühmten Frosch-Kuss gibt es bei den Grimms nicht, dort wird der garstige Frosch noch an die Wand geworfen.

Die Tradition der Zensur reicht aber bis zum Original zurück. Schon die Brüder Grimms zensierten, gaben den Geschichten oft erst ein glücklichen Ende und nahmen den Märchen zahlreiche sexuelle Anspielungen. Von Rotkäppchen gibt es z. B. ältere Fassungen, in denen das arme Mädchen vom Wolf gefressen, zuvor hatte es die Kleider abglegt und sich zum bösen Wolf auf dessen Aufforderung zu ihm ins Bett gelegt.

009
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Sa 5. Jan 2013, 18:41 - Beitrag #2

Zum Weihnachtsmann: da gibt es auch Gegenbewegungen, die zum 6.12. den Bischof Nikolaus und zum 24.12. das Christkind ins Spiel bringen.
Aber die Hohlkörper bleiben schokoladig und wieviel Wissensleerräume dadurchbei wem gefüllt werden ist wohl auch fraglich.

Traitor
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Sa 5. Jan 2013, 19:40 - Beitrag #3

Ich finde gerade nur etwas ähnliches im Comic-Bereich, aber hatten wir das Thema nicht schonmal...? Erst "in den letzten Wochen" aufgekommen ist das Phänomen nämlich sicher nicht, sondern schon seit Jahren auf dem Vormarsch. Twain ist vermutlich das prominenteste internationale Beispiel.

Selbst, wenn man an sich für das Verdrängen bestimmter Wörter ist: Gerade bei denen, die inhärent nichts schlimmes an sich haben, sondern nur durch ihren historischen Gebrauch "böse" wurden (z.B. "Neger", im Gegensatz zu offenkundigen und reinen Schimpfwörtern, sagen wir mal "Saupreußen" oder "Inselaffen"), zerstört man das Bewusstsein für ihre historische Problematik doch nur, indem man historische Beispiele zensiert.

Die fortschreitende Märchen-Zensur ist eh sehr spannend, Terry Pratchett und Neil Gaiman graben da gerne mal alte Varianten aus.

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Sa 5. Jan 2013, 22:08 - Beitrag #4

Zu der, nicht überraschender Weise, auch von den Kirchen gestützen Aktion gibt es die Webseite Weihnachtsmannfreie-zone.de.

So ein politisch überkorrektes Zensieren gerade bei Märchen finde ich sinnfrei. Märchen sind doch gerade etwas, das bei Überlieferung an die nächste Generation erklärt wird, da diese im ganz jungen Alter nochn icht alles versteht oder zB für bare Münze nehmen würde. Geradezu zwingend böte es sich doch an, auf diesem Wege auch ein differenziertes Verständnis von Worten wie zB Neger zu sorgen.

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Mo 28. Jan 2013, 09:17 - Beitrag #5

In der Zeit findet sichnun ein Interview mit einem Psychologen, der erklärt, warum es fatal ist, Märchen und andere Geschichten aus "PC" zu glätten.
Die diesen seltsamen Zensurbestrebungen innewohnende Motivation wird widerlegt:
ZEIT: Ein Kind wird nicht zum Rassisten, weil es in Pippi Langstrumpf vom »Negerkönig« liest?

Kasten: Definitiv: nein. Von Kinderbüchern allein wird sowieso kein Menschenbild geprägt. Die Haltung der Bezugspersonen, der Eltern und Erzieher, fließt ein ins Vorlesen und Lesen. Idealerweise beschäftigen sich die Erwachsenen ja gemeinsam mit dem Kind mit dem Buch – je jünger das Kind, desto intensiver. Dann passiert es automatisch, dass das Kind Fragen stellt. So lernt es, dass es Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe gibt, wie man diese Menschen früher nannte und wie man sie heute nennt, dass es Vorurteile gibt. Unsere Kinder wachsen hinein in eine für sie teilweise unüberschaubare Welt. Die Erwachsenen müssen ihr eine Semantik geben.


Interessant auch dies:
ZEIT: Was passiert nun, wenn solche exotischen Figuren getilgt und Geschichten geglättet werden?

Kasten: Dieses Konfektionieren zerstört Fantasie und Kreativität. Schablonenhafte Bücher können nicht leisten, was gute Kinderliteratur ausmacht: dass man darin immer wieder neue Facetten entdecken kann. Die politische Korrektheit, die man jetzt – wieder einmal – etablieren will, grenzt an Zensur. Gern heißt es: »Kinder brauchen Grenzen.« Diese Regel sollte zumindest durch den Satz »Kinder brauchen grenzenlose Gedankenfreiheit« in ihre Schranken verwiesen werden.

Lykurg
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Mo 28. Jan 2013, 11:23 - Beitrag #6

Sehr gut! Insbesondere über den taz-Artikel hatte ich mich ziemlich geärgert. Es ist naiv, Kindern Teile der Welt verbergen zu wollen, jedenfalls diesen Teil. Diskriminierung über Sprache ist kindlicher Alltag, es ist besser, sie lernen, damit umzugehen - vorausgesetzt natürlich, die Eltern begleiten, vermitteln und erklären. Aber wenn sie das nicht tun, sind meines Erachtens ohnehin generell schlimmere Folgen zu erwarten als ein Wort in einem Buch bewirken könnte.

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Mo 28. Jan 2013, 11:38 - Beitrag #7

Wenn man sich nicht passiv drauf verlässt, von den Massenmedien für einen passendes vorgesetzt zu bekommen, finden sich zum Glück oft ebendoch irgendwo die (fachlichen) Stimmen, die mit dem so empfundenen eigenen gesunden Menschenverstand übereinstimmen. Und darüber kann man dann in der Matrix, äh wohl auch eher im persönlichen Umfeld, trefflich kommunizieren :-).

Maglor
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Mo 28. Jan 2013, 22:25 - Beitrag #8

Beachtenswert ist, dass Astrid Lindgren seit den 70er Jahren mit Forderung der Streichung des Wortes "Neger" konfrontiert wird. Sie hat es immer abgelehnt. Kaum ist sie tot und wehrlos, wird der Rotstift gezückt.

Damit lernte ich zählen:
Bild

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Mo 28. Jan 2013, 23:25 - Beitrag #9

Waaah! Ich muß wohl mal in den Altbeständen bei den Eltern suchen oder mein Patenkind investigativ befragen - da dürfte ein weiteres Exemplar dieses Buches zu finden sein.
Auch habe ich, so meine dunkele Erinnerung, Bilderbücher gehabt, die u.a. zu typischen Berufsbildern für die Geschlechter eine traditionelle Haltung hatten, während ich mir für mich einbilde, da ein modern aufgeklätes Verständnis zu haben (dem hier wohl keiner widersprechen kann/will/muss).

Lykurg
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Di 29. Jan 2013, 10:06 - Beitrag #10

Ähmm... wenn mein Bewußtsein in so primitiver Weise von meinen Kinder- und Jugendbüchern geprägt wäre, wie manche Wohlmeinende wohl meinen, müßte ich nicht in jede Kirsche, jeden Apfel etc. genau ein kreisrundes Loch beißen? Abgesehen davon ist es dann aber ein Wunder, daß ich angesichts der antiosmanischen Stereotypen bei Karl May und dem (nebenbei völlig gaga-igen) Antisemitismus in der 1938er Originalausgabe von "Tecumsehs Tod" noch zu einem einigermaßen normaldenkenden Menschen werden konnte, der sogar über Sprache reflektieren kann. Und Geschlechterrollen - du meine Güte. Wo soll man denn da anfangen, bei den Märchen zum Beispiel? Die tapfere Schneiderin? Aschenpeter?

Ipsissimus
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Di 29. Jan 2013, 11:12 - Beitrag #11

du gehst ja auch vom Idealzustand erziehender Eltern aus, die viel Zeit mit ihren Kindern verbringen^^ gibt es das heute außerhalb der Werbung noch?

009
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Di 29. Jan 2013, 15:06 - Beitrag #12

Gottlob sind mir zumindest 3 Beispiele im Umfeld bekannt (bei 3 Familien, wo noch zu erziehende Kinder vorhanden sind eine gar nicht mal so übele Quote).

Lykurg
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Di 29. Jan 2013, 16:20 - Beitrag #13

Ist bei den meisten jungen Eltern in meinem Bekanntenkreis der Fall, Ipsissimus. Die Lösungen sind teils unkonventionell und nach den jeweiligen Möglichkeiten gestrickt (in immerhin drei der fünf mir spontan einfallenden Familien in meinem Umfeld arbeitet der Mann von zuhause aus bzw. hat sein Arbeitspensum erziehungsbedingt reduziert; wer kann, greift dazu auf seine Eltern, Geschwister etc. zurück), in jedem Fall aber kümmern sich die Eltern selbst um ihr Kind, soviel sie können.

Ipsissimus
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Di 29. Jan 2013, 16:35 - Beitrag #14

in jedem Fall aber kümmern sich die Eltern selbst um ihr Kind, soviel sie können


<Korinthenkackermodus>
was nicht notwendigerweise dasselbe ist wie "soviel, wie das Kind braucht"
</Korinthenkackermodus>

Lykurg
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Di 29. Jan 2013, 16:42 - Beitrag #15

Mir bewußt, aber wieviel ein Kind wirklich braucht, läßt sich auch kaum beziffern. Es gibt durchaus auch Kinder, die zu behütet aufwachsen; manche der mir bekannten Fälle - nun, schwer zu sagen. Was ist denn deines Erachtens "viel Zeit mit den Kindern verbringen"?

Padreic
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Di 29. Jan 2013, 19:00 - Beitrag #16

@Ipsi:
du gehst ja auch vom Idealzustand erziehender Eltern aus, die viel Zeit mit ihren Kindern verbringen^^ gibt es das heute außerhalb der Werbung noch?
Das trägt ja implizit die Botschaft, dass sich früher um Kinder gekümmert wurde... bei "Doppelverdienerhaushalten" ist nur der Begriff modern. Nach allen Berichten meines Vaters hatten meine Großeltern, als sie noch Bauern waren, nicht viel Zeit für ihre Kinder.

Zum eigentlichen Thema: Zu dieser Art von Zensur muss man wohl nicht viel mehr sagen. Eine derartige Begriffsänderung finde ich allerdings in Ordnung (wenn auch nicht zwangsläufig gut), wenn ohnehin aufgrund eines alten Sprachstandes eine behutsame Modernisierung nötig ist - bis auf Rechtschreibung vielleicht, die beim Vorlesen ohnehin keine große Rolle spielen sollte, dürfte das aber bei den üblichen Kindergeschichten noch nicht notwendig sein. Ein zu radikales Anpassen an den Sprachstand des Kindes dürfte eh für dessen Sprachentwicklung kontraproduktiv sein (Tolkien merkt das auch explizit für seinen Der Kleine Hobbit an).

Ipsissimus
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Di 29. Jan 2013, 20:35 - Beitrag #17

nein, früher gab es in vielen Familien, und zumal auf dem Land, sehr viele Kinder, und entsprechend viele Onkels und Tanten oder Cousins/Cousinen, so dass im Rahmen der Großfamilien-Gruppe immer Bezugspersonen da waren, die im Rahmen der Sozialisationsarbeit auch Geborgenheit und Halt vermittelten. Heute ist das alles auf sehr viel weniger Personen konzentriert, im Wesentlichen die Eltern, und wenn die mehr oder weniger durch das Arbeitsleben ausgeschaltet sind, kann man sich die Folgen denken.

e-noon
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Di 29. Jan 2013, 22:55 - Beitrag #18

Geborgenheit und Halt allerdings wenn, dann eher durch Anwesenheit und Anweisungen als durch behutsames Vorlesen und gemeinsames Erarbeiten von Kulturgut. Ich halte es für unangemessen, früheres Familienleben zu idealisieren - es wäre zwar eine tröstliche Vorstellung, wenn die Menschheit es Generationen lang richtig gemacht hätte und unsere Zeit nur eine durch Überrolltwerden von der Moderne hervorgerufene Verwirrung - aber für viel wahrscheinlicher halte ich es, dass früher unter Kindern und Eltern, auf jeden Fall aber zwischen Kindern und Vätern und Großvätern, ein deutlich förmlicheres und weit weniger auf die kindlichen Bedürfnisse eingehendes Verhältnis herrschte.

Des Weiteren halte ich es für gegeben, dass durch das Lesen von Begriffen wie "Neger" kein Rassismus entsteht, egal, ob die Eltern sich darum kümmern oder nicht. Höchstens könnte ein durch die Eltern vermittelter Rassismus dadurch minimal gestärkt werden.

"Durchwichsen" würde ich allerdings wohl tatsächlich streichen. Die Hauptbedeutung ist heute einfach eine andere, und selbst die noch passiv beherrschte Nebenbedeutung als "Schuhe wichsen" ist ja hier offenbar nicht gemeint.

Lykurg
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Mi 30. Jan 2013, 00:57 - Beitrag #19

Zwar will ich nicht ausschließen, daß sowohl in früheren Generationen als auch heute Großeltern, Onkels und Tanten erzählt bzw. vorgelesen haben bzw. eben das tun, und nicht nur für Ermahnungen etc. gut sind. Ansonsten stimme ich aber darin überein, daß auch ich keine grundsätzliche Verschlechterung gegenüber früheren Erziehungsprinzipien und -rahmenbedingungen erkenne.

e-noon, das finde ich nicht nötig, weil 'durchwichsen' ja offensichtlich als Kompositum unmißverständlich eine andere Bedeutung haben muß, außerdem aber, weil der Verzicht auf das Wort an einer bekannten Belegstelle dazu führt, daß, wenn man ihm an einer weniger bekannten begegnet, es dort um so unverständlicher wird. Gerade seltsame, außer Gebrauch gekommene Wörter können einen Text bereichern, wenn sie zu seiner Sprache passen.

Maglor
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Sa 30. Nov 2013, 18:20 - Beitrag #20

Im schlimmsten Fall stellen Kinder unangenehme Fragen.
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