Gefährdete Culinaria

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janw
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So 17. Nov 2013, 16:50 - Beitrag #1

Gefährdete Culinaria

Ersten kam mir der Gedanke, daß im Laufe der Zeit auch einige Culinaria zunehmend selten geworden sind.
Den Anstoß hierzu gab ein aus Andertier konstruiertes Culinozoon, der Mettigel.

In diesem Sinne wäre zu diskutieren, ob nicht besser von Culinarismen zu sprechen wäre in Anlehnung an entsprechende Sachverhalte in anderen kulturellen Bereichen.
Aber zunächst eine Würdigung jenes heute seltener gesehenen kulinarischen Zeitgenossen.

Der Mettigel:
Der Mettigel entspricht in Form und Größe einem kleinen Exemplar des bekannten und vielfach geschätzten Igels.
Im Unterschied zu diesem ist er aber weniger scheu, vielmehr gänzlich reaktionslos gegenüber jeglicher Zuleiberückung.
Auch sein Lebensraum weicht deutlich von dem des wilden Vertreters ab, grundsätzlich zerfällt es in eine Küche, in der der Mettigel die Zeit seiner Entstehung verbringt, bevor er dann in sein kurzes Leben auf einem Partytisch entlassen wird.
Aus Hackfleisch mit Zwiebelstacheln bestehend, ist er auch kulinarisch deutlich einfacher und vollständiger zu genießen als sein wildes Vorbild, da es keines vorherigen Bratens mit Stachelbeseitigung bedarf.
Ein Vergleich der geschmacklichen Qualitäten ist mangels entsprechender Erfahrungen des Verf. nicht zu sagen.

Trotz seines niedlich zu nennenden Anblicks und sonstigen Qualitäten ist der Mettigel in letzter Zeit allerdings zunehmend seltener zu sehen.
Möge er nicht ganz verschwinden.

Traitor
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So 17. Nov 2013, 17:02 - Beitrag #2

Zum Generikum:
Ein Verlust kulinarischer Vielfalt ist sowohl aus persönlicher Genussperspektive als auch aus der Sicht kultureller Diversität zu bedauern. Im Gegensatz zu Tier-, Natur- oder selbst Denkmal- und Kunstwerkschutz ist da aber nichts faktisch und objekthaft existierendes, das es zu schützen gilt, sondern nur ein Prozessgut, analog eher zu Tänzen, Riten und anderen kulturellen Tätigkeiten. Dementsprechend ist eine begrenzte Pflege im Rahmen von Traditionsvereinen machbar, auch das Wiederentdecken aus Forschungsgründen oder durch simple Retrowellen. Ein echter Schutz vor nachfragenachlassensbedingtem Aussterben ist aber weder machbar noch wirklich gut begründbar.

Zum Igel:
Das Phänomen an sich scheint ein eher norddeutsches zu sein, oder? Zumindest habe ich ihn erst hier in der Gegend kennengelernt. Vielleicht war er früher auch bundesweit verbreitet, ist nur im Westen dank französischer Einflüsse schneller ausgestorben...?
Abgewinnen kann ich ihm, wie auch Mettbrötchen oder Mettwurst oder jeder Form von Mett, sehr wenig. Zu schleimig und, nun ja, roh.
Insofern würde ich ihm auch nicht nachweinen. Ein Hinweis auf seine Zukunftsfähigkeit könnte allerdings sein, dass ich schon einige Ausländer dabei beobachten konnte, ihn äußerst fasziniert zu entdecken, zu beobachten und zu konsumieren.
Der Mettigel entspricht in Form und Größe einem kleinen Exemplar des bekannten und vielfach geschätzten Igels.
Da würde ich widersprechen, die mir bekannten Exemplare sind deutlich größer und schwerer als ihre wildlebenden Verwandten.
Möge er nicht ganz verschwinden.
Lykurg wird dir deutlich widersprechen. ;)

janw
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So 17. Nov 2013, 20:35 - Beitrag #3

Zitat von Traitor:Zum Generikum:
Ein Verlust kulinarischer Vielfalt ist sowohl aus persönlicher Genussperspektive als auch aus der Sicht kultureller Diversität zu bedauern. Im Gegensatz zu Tier-, Natur- oder selbst Denkmal- und Kunstwerkschutz ist da aber nichts faktisch und objekthaft existierendes, das es zu schützen gilt, sondern nur ein Prozessgut, analog eher zu Tänzen, Riten und anderen kulturellen Tätigkeiten. Dementsprechend ist eine begrenzte Pflege im Rahmen von Traditionsvereinen machbar, auch das Wiederentdecken aus Forschungsgründen oder durch simple Retrowellen. Ein echter Schutz vor nachfragenachlassensbedingtem Aussterben ist aber weder machbar noch wirklich gut begründbar.

Nach der UNESCO-Diktion gibt es neben den materiellen Kulturgütern auch immaterielle, die ggf. in gleicher Weise zu schützen sind, wie schwierig das auch im Einzelfall sein mag.
Die französische Küche wurde iirc hierfür gelistet.

In meinen Augen lohnt es durchaus, solche Kulinarismen zu betrachten und zu würdigen. Ein sehr kontroverses Beispiel wären gebratene Singvögel, die von manchen als typische Bestandteile regionaler Küchen Südeuropas dargestellt werden.

Der Beitrag war aber auch etwas augenzwinkernd gemeint, etwas im Stile einen zeitgenössischen Tierfreundes auf einem der damals noch drei(!) Fernsehkanäle.

Ehrlich gesagt würde ich den Mettigel auch eher anderen überlassen und mich am Dran und Drum erfreuen.
Vielleicht finden sich ja irgendwo noch Nachtigallenzungen...;)

Maglor
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So 17. Nov 2013, 20:56 - Beitrag #4

Der Mettigel wurde zunehmend durch das Mettschwein verdrängt.
Der tatsächliche Bestand aber von nicht zoomoprhen Mettmassen dominiert.

Traitor
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Mo 18. Nov 2013, 11:31 - Beitrag #5

Jan, der "immaterielles Erbe"-Status ist (neben dem hauptsächlichen Tourismus-Werbe-Aspekt) am ehesten nützlich, um noch recht vitale Traditionen gegen externe Bedrohungen (Konkurrenz, gesetzliche Regulierung, ... ) zu schützen. Ist eine Tradition einmal quasi tot und wird nur des Schutzes wegen weitergeführt oder gar wiederbelebt, ist das Produkt künstlich - analog dazu, bei materiellem Erbe das Orignal durch eine billige Kopie zu ersetzen.

janw
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Mo 18. Nov 2013, 12:53 - Beitrag #6

Hinsichtlich der künstlichen Weiterführung hast Du natürlich recht.

Aber gut...weitere Beispiele? Wie geht es dem Rheinischen Sauerbraten, gibt es da etwas zu bedauern?

Lykurg
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Mo 18. Nov 2013, 13:06 - Beitrag #7

gibt es da etwas zu bedauern?
Das Pferd (bzw. Rind)? (SCNR)
Wenn man mich schon zum Widersprechen aufruft... ja, auch den Mettigel sehe ich nicht als schützenswertes gefährdetes Kulturgut, ähnlich wie der röhrende Hirsch hat er seine Zeit hinter sich, ohne daß es sich um einen Verlust handelt, wenn man ihn nicht mehr in freier Wildbahn antrifft. Wer darauf besteht, kann ihn ja durch eine billige Kopie aus Plastik oder Wachs ersetzen, wahlweise auch durch eine teurere, die dann etwas originalgetreuer aussieht, ohne daß es die Sache besser machen würde.

Traitor
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Mo 18. Nov 2013, 13:58 - Beitrag #8

Ist er Rind, ist der Braten bereits bedroht. ;) Die echte Pferdeform scheint sich aber ganz gut zu halten. Der Pferdefleisch"skandal" soll wohl auch die Nachfrage bei Pferdemetzgern allgemein und Sauerbratenlokalen im Besonderen kurzfristig hochgetrieben haben, da Leute interessiert waren, wie das Viech pur schmeckt.

Als bedroht zählen würde ich vor allem Gerichte, die alle gerne mögen, die man aber fast nie in ihrer eigentlich angedachten Form und Komposition bekommt. Kaum noch ein Wiener Schnitzel ist aus Kalb, kaum eine Pizza heiß genug gebacken und mit den richtigen Käsesorten belegt, kaum ein Crepe so dünn wie er sollte...

Lykurg, ist das nicht paradox, einerseits tierlieb zu sein, andererseits mit Igel und Hirsch gleich zwei Spezies die Ausrottung zu wünschen? ;)
Wikipedia hält Käseigel für einen Ersatz für Mettigel. Die Form ist dann eher noch sinnloser, geschmacklich aber meines Erachtens eine klare Verbesserung.

Maglor
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Mo 18. Nov 2013, 21:31 - Beitrag #9

Die teutsche Küche hatte eben ihre Zeit, genau wie die russischen Eier.
Ersatz für den Mettigel ist nicht der Käseigel, sondern dieses Potpourri aus falschem Mozzarella, Hollandtomaten und fehlendem Basilikum. Alternativ kann man sich auch den Schinke auf eine Melone legen. Diese beiden Beispiele sind jedoch keineswegs die schlimmsten Vorboten des Sittenverfalls.
Viel schlimmer finde ich diese neuen "Rezepte" für Salate, deren Hauptzutat Instant-Nudeln mit Glutamatmischung sind.
Da greife ich doch lieber zur lachenden Blutwurst, die mit Fettaugen und Zunge das wahre Gesicht des guten Geschmacks darstellt.

Lykurg
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So 4. Mai 2014, 23:29 - Beitrag #10

Heute entdeckt:
Eine Gans lebendig zu braten / daß sie in der Schüssel schreyet / wann man von ihr schneidet.
Nimm eine Gans / betropffe sie bis auf den Hals und Kopff / mache rings um sie ein Feuer / nicht allzu nahe / auf daß sie nicht ersticke / sondern daß sie allgemach brate / setze zu ihr ein Gefäß voll Wassers / darunter Honig und Saltz vermischt / damit sie offt möge trinken. Danach nimm Aepffel / schneide sie klein / koche sie in einer Bratpfannen / betreuffele damit oft die Gans / daß sie desto eher gebraten werde / rücke das Feuer näher zu ihr / aber doch eile nicht zu geschwinde / und wenn sie anhebet zu kochen / laufft sie inwendig im Feuer herumb / und begehret zu fliegen / welches so sie es (von wegen des Feuers) nicht kan zu wegen bringen / trincket sie ohn Unterlaß / sich zu erlaben / und zu erkühlen: und wenn sie heiß worden / brät und kocht sie auch inwendig / du mußt aber ohn Unterlaß das Haupt und Hertz mit einem feuchten Schwamm erkühlen und wenn sie anhebt zu fallen und zu zappeln / so nimm sie hinweg vom Feuer / lege sie in eine Schüssel / und gib sie den Gästen zu essen / so ist sie gebraten / und lebet noch und schreyet / wann man von ihr schneydet / welches fast [=sehr] gar lustig zu sehen.
aus: Max Rumpolt: Ein new Kochbuch, Frankfurt a.M. 1581.

Lykurg
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So 4. Mai 2014, 23:57 - Beitrag #11

Interessanterweise scheint das Rezept nicht aus dem genannten Kochbuch zu stammen - anders als das von mir ebenfalls abfotografierte Rezept, wie man lebende Kaninchen in (zuvor gebackenen) Pasteten unterbringt, damit sie beim Anschneiden herausspringen und "höfflich und zierlich" herumlaufen, und das sich tatsächlich dort findet, ist dieses zumindest im Abschnitt mit Gänserezepten der genannten Ausgabe anscheinend nicht enthalten.

Traitor
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Di 6. Mai 2014, 20:54 - Beitrag #12

Woher hast du es dann abphotographiert?

Ganz abgesehen von der Grausamkeit finde ich es doch schwer zu glauben, dass die Gans das so lange überleben soll. Doch eher eine rural legend?

Der Kaninchengag dagegen ist schon ulkig, ich würde mir aber große Sorgen über ungeplante und unhygienische Bonuszutaten machen. Interessant wäre auch, ob man die Kaninchen darauf dressieren kann, nach dem Anschneiden die Bankettgäste niederzumetzeln. Vielleicht mit Miniatur-Repetierarmbrüsten, oder man nimmt einfach eine spezielle britische Zuchtsorte.

Ach ja, @Maglor von letztem Jahr:
Viel schlimmer finde ich diese neuen "Rezepte" für Salate, deren Hauptzutat Instant-Nudeln mit Glutamatmischung sind.
Diese Mode scheint zum Glück an mir vorbeigegangen zu sein, in welchen Kreisen muss man sich davor denn hüten? Nur von "Ramen-Burgern" habe ich letztens mal gelesen...

Lykurg
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Mi 7. Mai 2014, 00:38 - Beitrag #13

In der Burg Altena gab es ein paar laminierte A4-Seiten mit abgetippten Auszügen aus diesem Kochbuch (ein paar offensichtliche Tippfehler habe ich korrigiert). Und ja, ich halte die rural (oder eher courtly) legend auch für wahrscheinlich: das Kochbuch dient zu erheblichen Teilen repräsentativen Zwecken. Die zu Anfang wiedergegebenen angeblichen Menüzusammenstellungen verschiedener Stände vom Kaiser- und Königshof bis hinunter zum Bauern sind sicher nicht zum Nachkochen gedacht, sondern eher ein idealtypisches kulinarisches Abbild der gottgegebenen Gesellschaftsordnung (das wird im Vorwort auch ungefähr so gesagt). In diesem Sinne könnte auch der Showeffekt einer solchen lebenden Gans eher dafür da sein, die Besonderheit herrschaftlicher Tafeln zu unterstreichen (wobei der am Stück gebratene Strauß da noch mehr hermacht, finde ich) - als tatsächlich zum Nachkochen gedacht zu sein.

Und ja, das mit den Bonuszutaten fragte ich mich auch - allerdings sprach schon das Füllmaterial für den späteren Kaninchenstall beim Backen dafür, daß es nicht so sehr ums Essen geht - der Hohlraum sollte mit Kleie verfüllt werden. Aber ein richtiges britisches Kaninchen braucht keine Armbrust für den Amoklauf.

Maglor
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Mi 7. Mai 2014, 17:54 - Beitrag #14

Zitat von Traitor:
Viel schlimmer finde ich diese neuen "Rezepte" für Salate, deren Hauptzutat Instant-Nudeln mit Glutamatmischung sind.
Diese Mode scheint zum Glück an mir vorbeigegangen zu sein, in welchen Kreisen muss man sich davor denn hüten? Nur von "Ramen-Burgern" habe ich letztens mal gelesen...

Der "Kreis" ist groß. Der "Salat" ist besonders bei jungen Frauen sehr beliebt. Er ist auch als Yum-Yum-Salat bekannt - benannt nach der Hauptzutat. Ich habe schon anstandshalber davon probiert, aber das hat auch nicht geholfen.


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