Todesstrafe anders herum

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Ipsissimus
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Di 16. Sep 2014, 19:53 - Beitrag #1

Todesstrafe anders herum

Sterbehilfe für Häftlinge in Belgien

Der verurteilte Mörder Frank Van den Bleeken sitzt in Belgien in Sicherungsverwahrung. Weil er das nicht länger erträgt, hat er sich das Recht auf Sterbehilfe erstritten. Entzieht er sich seiner Strafe - oder ist er Opfer eines kaputten Strafvollzugs?


ich möchte das nicht entscheiden müssen

Maglor
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So 4. Jan 2015, 15:08 - Beitrag #2

Die Zeitung "De Morgen" berichtete am Samstag, Frank Van Den Bleeken, der seit 30 Jahren wegen Mordes und Vergewaltigung in Haft sitzt, solle im Gefängnis von Brügge im Nordwesten Belgiens durch eine Giftspritze sterben. Eine Sprecherin des Justizministeriums sagte der Zeitung, am 11. Januar sei "die Zeit gekommen". Ein Anwalt des Häftlings war für eine Bestätigung nicht zu erreichen.

Van Den Bleeken forderte seit Jahren staatliche Hilfe, um sein Leben zu beenden, da er in Haft "unerträgliche psychische Qualen" erfahre. Im September erhielt er schließlich grünes Licht von den Behörden. Der Häftling betrachtete sich selbst als Gefahr für die Gesellschaft und lehnte eine vorzeitige Haftentlassung ab. Zugleich betrachtete er seine Haftbedingungen aber als unmenschlich. Eine Behandlung in einer niederländischen Spezialklinik lehnten die Behörden ab, woraufhin sich der Häftling entschied, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Spiegel


Die belgischen Behörden haben offenbar entschieden.
Das ist dann wohl ein neuer Meilenstein in der Geschichte der Euthanasie. Die Giftspritze ist dann wohl die Alternative zur Freiheitsstrafe.
Psychische Erkrankungen sind bei Häftlingen eher Regel als Ausnahme. Suizid im Gefängnis war ja bislang ausgesprochen unerwünscht bzw. er galt als Indiz dafür, dass im Gefängnis irgendwas oder alles falsch läuft. So wird die Sache natürlich legalisiert. Unter ärtzlicher Aufsicht ist das ja alles kein Problem - wie so eine Art Substitutionsprogramm für Suizidgefährdete. Das könnte ja jetzt Schule machen.

Traitor
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So 4. Jan 2015, 16:41 - Beitrag #3

Bei Geltendmachung "unerträglicher psychischer Qualen" sollte eigentlich erstmal eine unabhängige Untersuchung der Haftbedingungen stattfinden, bevor dieser "Ausweg" "genehmigt" wird. Gerade, wenn er eigentlich selbst offiziell bereits ein Fall war, der in Therapie statt Standardhaft gehört hätte.

Davon abgesehen erscheint es grundsätzlich vernünftig, einem Häftling die Entscheidung über sein eigenes Leben als eines der wenigen verbliebenen Rechte zuzugestehen. Die Frage "Entzieht er sich seiner Strafe?" würde vermutlich nur die eher kleine Splittergruppe der Todesstrafen-Freunde bejahen, die Todesstrafen nicht als härteste und abschreckendste, sondern als "gnädigere" Alternative zu lebenslanger Haft befürwortet.
Eine Gefahr kann man aber leicht darin sehen, dass bei offiziellem Verbot der Todesstrafe, aber großem Interesse der Strafvollzugsbehörden an ihr (sei es aus ideologisch motiviertem Festhalten oder finanzieller Berechnung) ein Anreiz geschaffen wird, die Haftbedingungen absichtlich so grausam wie möglich zu gestalten, um die "indirekte Todesstrafe" durch Freitod gezielt herbeizuführen.

Ipsissimus
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Mo 5. Jan 2015, 11:10 - Beitrag #4

einem Häftling die Entscheidung über sein eigenes Leben als eines der wenigen verbliebenen Rechte zuzugestehen.


Nicht vernünftiger als bei anderen Suizid-Interessierten auch, denen das Recht auf Selbstmord üblicherweise verweigert wird. Jede Erleichterung kann zum Missbrauch führen. Ein Argument, das zur Verewigung des Bestehenden führt. Das Problem ist m.E. nach nicht objektiv entscheidbar, das Umschlagen zwischen Erleichterung und Missbrauch ist inhärent.

Also Einzelfallbewertung, die wieder zu Ungerechtigkeit auf Grund ungleicher Bewertungsmaßstäbe führen kann usw.

Was nachdenklich stimmt: anscheinend hat im Falle van den Bleeken niemand Lust, dem Hinweis auf unerträgliche psychische Qualen nachzugehen.

Maglor
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Mo 5. Jan 2015, 20:47 - Beitrag #5

Die Krankheit des Systems ist unverkennbar. Eine psychiatrische Therapie wird dem Sträfling zwar verweigert, aber natürlich bekommt er Mediziner zugeteilt, die ihm einen lebensunwerten Leben attestieren und später dann die Giftspritze setzen können. (Es sei denn es findet sich kein Arzt, der Henker werden möchte.)

Traitor
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Mo 5. Jan 2015, 22:10 - Beitrag #6

Zitat von Ipsissimus:Nicht vernünftiger als bei anderen Suizid-Interessierten auch, denen das Recht auf Selbstmord üblicherweise verweigert wird.
Möglicherweise ist mein Eindruck des gesellschaftlichen Konsens mal wieder progressiver als der tatsächliche Konsens, aber ich würde schätzen, dass eine Mehrheit "anderen Suizid-Interessierten" das Recht prinzipiell durchaus zugesteht, ihnen aber nur meistens nicht zutraut, sich wirklich vollstens reflektiert dafür zu entscheiden. Daher wird versucht, alles Mögliche zu tun, jemanden davon abzuhalten, teils auch bis hin zu Zwangsmaßnahmen; aber hat sich jemand umgebracht, ist das "nur noch" eine Tragödie, keine Sünde oder Straftat mehr. (Außer bei direktem persönlichen Bezug oder besonders eklatantem Verantwortungsentzug.)

Zitat von Ipsissimus:Jede Erleichterung kann zum Missbrauch führen. Ein Argument, das zur Verewigung des Bestehenden führt. Das Problem ist m.E. nach nicht objektiv entscheidbar, das Umschlagen zwischen Erleichterung und Missbrauch ist inhärent.
Es gibt ja noch den dritten Weg, den wir auch alle drei schon angesprochen haben: erstmal herausfinden, ob man sich nicht mit der Symptom-Debatte in ein Dilemma verrennt, während das eigentliche Problem sehr viel sauberer zu lösen wäre. Ansonsten, ja: Einzelfallbewertung. Aber die auch nur formell zu ermöglichen, selbst wenn sie nie positiv ausfiele, bedeutet ja bereits eine grundsätzliche Verschiebung, also muss man die Gegenargumente bereits beim ersten Einzelfall grundsätzlich durcharbeiten.

Ipsissimus
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Di 6. Jan 2015, 14:21 - Beitrag #7

ihnen aber nur meistens nicht zutraut, sich wirklich vollstens reflektiert dafür zu entscheiden

Und wo steht geschrieben, dass nur vollstens reflektierte Entscheidungen zu respektieren seien? Beim Kinderkriegen z.B. sieht die Gesellschaft das nicht so streng.

also muss man die Gegenargumente bereits beim ersten Einzelfall grundsätzlich durcharbeiten

Nöö, man muss lediglich politisch durchsetzen, dass im Einzelfall lediglich der Wunsch des Interessierten relevant ist und kirchliche Gruppen sich aufs Beten zu beschränken haben. Ich jedenfalls würde mir mein Recht auf Selbstmord nicht nehmen lassen, nur weil ich jemanden grundsätzlich oder situativ nicht von meiner Position überzeugen kann

Traitor
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Di 6. Jan 2015, 22:02 - Beitrag #8

Der Einzelfall dann wohl vom Tisch.

Und wo steht geschrieben, dass nur vollstens reflektierte Entscheidungen zu respektieren seien? Beim Kinderkriegen z.B. sieht die Gesellschaft das nicht so streng.
Die böse Antwort wäre jetzt, dass Kinderkriegen leichter rückgängig zu machen ist. ;)
Dass grundsätzlich jede auch noch so spontane Nicht-mehr-leben-wollen-Entscheidung unantastbar sein soll, vertrittst du vermutlich genausowenig wie ich, dass nur tausendseitige Begründungsschriften auf Habilitationsniveau akzeptiert werden sollen. Wo genau die Grenze verlaufen soll, wird laufend und in jedem Fall neu ausgehandelt. Die Frage hier ist ja "nur", ob Häftlingen da grundsätzlich mehr oder weniger Entscheidungshoheit zugestanden werden sollte.

Nöö, man muss lediglich politisch durchsetzen, dass im Einzelfall lediglich der Wunsch des Interessierten relevant ist und kirchliche Gruppen sich aufs Beten zu beschränken haben. Ich jedenfalls würde mir mein Recht auf Selbstmord nicht nehmen lassen, nur weil ich jemanden grundsätzlich oder situativ nicht von meiner Position überzeugen kann
Habe ich im konkreten Fall größere kirchliche Propaganda verpasst? Zumindest hier im Thread tauchte deren Perspektive ja noch gar nicht auf.
Davon abgesehen: kann man den Selbstmord auf die selbst gewünschte Art alleine umsetzen, braucht man dazu eh kein Recht, man hat die Macht des Faktischen auf seiner Seite. Ist das nicht der Fall (wie hier diskutiert), muss einem aber offensichtlich das Recht zugestanden werden - und zwar entweder als grundsätzliches und nicht aberkennbares Menschenrecht, wie du es zu fordern scheinst (?), und gerade dann müsste man doch im Voraus grundsätzliche Einwände wegdiskutieren und somit eine Einzelfallregelung unnötig machen; oder eben nur bedingt, mit ausstehender Einzelfalldiskussion.

Ipsissimus
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Mi 7. Jan 2015, 10:45 - Beitrag #9

Die Frage hier ist ja "nur", ob Häftlingen da grundsätzlich mehr oder weniger Entscheidungshoheit zugestanden werden sollte.

Es wäre wahrscheinlich für alle Beteiligten im konkreten Falle einfacher, Bleeken hätte einfach nur Selbstmord begangen, die Grundsatzdebatte wäre allen erspart geblieben. Andererseits sind die "unerträglichen psychischen Qualen" ein interessanter Ausgangspunkt. Es stimmt mich wirklich merkwürdig, dass da niemand anknüpfen will. Worin bestehen die Qualen? Einfach nur leben zu müssen? Hinter Gitter leben zu müssen? Leben zu müssen, ohne seine Neigung ausleben zu können? Oder etwas ganz anderes, das mit den Bedingungen seiner Haft zu tun hat? Warum hakt da niemand nach?

Der wichtigste Punkt wäre wohl, seine Qualen zu lindern, gesetzt, sie bestehen wirklich und sind nicht nur Vorwand. Wenn das möglich ist, würde er wahrscheinlich ohnehin nicht mehr auf den assisitierten Selbstmord bestehen. Wenn das unmöglich ist, sehe ich ihn in einer analogen Situation wie jeden unheilbar Kranken, dessen Krankheit mit großen, nicht oder nur unzureichend linderbaren Schmerzen einher geht.

und gerade dann müsste man doch im Voraus grundsätzliche Einwände wegdiskutieren

Das wird schlicht nicht funktionieren, weil sich von Argumenten nur Leute überzeugen lassen, die mit den möglichen Positionen keine Avresionen verbinden. Auch in einer Demokratie sind Argumente höchstens dazu da, die Unentschlossenen zu beeindrucken; der Rest hat seine Überzeugungen, von denen bestenfalls im Falle gegenäufiger massiver Schicksalsschläge abgerückt wird. Es ist eben ein Unterschied, ob in einem technischen Kontext technische Probleme diskuitiert werden - da haben Argumente ihren Platz - oder in einem gesellschaftspolitischen Kontext grundlegende Sichten auf's Leben.

Ipsissimus
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Mi 7. Jan 2015, 12:08 - Beitrag #10

Das hier klärt die Sache ein bisschen auf und setzt das Ganze nochmal in ein völlig neues Licht. Scheint sich also doch was zu bewegen.

http://www.spiegel.de/panorama/gesellsc ... 11575.html


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