Fremd im eigenen Land - Umdeutung und Vereinahmung

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Maglor
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So 18. Sep 2016, 17:52 - Beitrag #1

Fremd im eigenen Land - Umdeutung und Vereinahmung

In den letzten Monate ist immer wieder das geflügelte Wort "fremd im eigenen Land" zu hören und zu lesen - zumeist als Ausdruck der Ängste sogenannter besorgter Bürger und rechter Hetzer.
So wurde AfD-Opi Alexander Gauland vorgeworfen, er verwende den NPD-Slogan "heute tolerant, morgen fremd im eigenen Land".

Zitat von faz:Fremd im eigenen Land?
Als Innenminister Thomas de Maizière vor einigen Monaten im Zusammenhang mit dem Pegida-Phänomen Verständnis für diese Empfindung und die mit ihr verbundenen Ängste äußerte, war das Stirnrunzeln groß: Wie können sich ausgerechnet die Bürger in und um Dresden bei einem Ausländeranteil von unter drei Prozent (in Sachsen) als Fremde fühlen? Bei 0,1 Prozent Muslimen?

Die scheinbar grotesk auseinanderstrebenden Zahlen werden bis in die aktuelle Flüchtlingsdebatte hinein stets als Ausdruck latenter oder offener Fremdenfeindlichkeit diskutiert. Aber womöglich handelt es sich dabei um eine Fehlzuschreibung, die Forscher wie Befragte gleichermaßen vollziehen und von der rechtspopulistische Organisationen profitieren: „Durch die vielen Muslime fühle ich mich manchmal fremd im eigenen Land“ - dieser Aussage stimmen nach einer aktuellen Studie 17,5 Prozent der Deutschen zu. Es ist aber durchaus unklar, welcher der beiden Aussageteile sie dabei wirklich motiviert: dass sie sich manchmal wie Fremde im eigenen Land fühlen - oder dass daran die Muslime „schuld“ sind?


Auch von anderer Seite wird der Slogan gern verwendet. Der führende deutsche Islamist Sven Lau veröffentliche ein Buch mit dem Titel "Fremd im eigenen Land".

Tatsächlich standen diese Worte anfangs im völlig entgegengesetzen Kontext. "Fremd im eigenen Land" war der Titel eines antirassistisches [url="https://www.youtube.com/watch?v=iL6tzhvF8_c"]Hip-Hop-Songs[/url] aus dem Jahr 1992. Er gilt als bahnbrechend für den deutschsprachigen Hip Hop. Im Text werden Alltagsrassismus, Fremdenfeindlichkeit sowie die Wirkung fremdfeindlicher Stimmung auf die Politik kritisiert.

Zitat von Freitag:Advanced Chemistry »Fremd im eigenen Land«
Protestsong Die Geschichte hinter dem Song »Fremd im eigenen Land« von Advanced Chemistry


Der Song »Fremd im eigenen Land« ist eine Kampfansage gegen diese rassistischen Zustände. Torch, einer der Rapper der Band »Advanced Chemistry«, ist damals 21 Jahre alt. Rückblickend erzählt er: »Noch während wir im Studio waren, gab es die rassistisch motivierten Anschläge in Rostock. Daraufhin haben wir im Studio den Nachrichtensprecher live aufgenommen und als Intro eingebaut.« Den Text hatte die Band schon zwei Jahre zuvor geschrieben. Im Fokus stehen Erfahrungen einer ganzen Generation von Migrantenkindern: Rassismus, Polizeibrutalität, Armut, Arbeitslosigkeit, die Einseitigkeit der Medien.


Für die Umdeutung ist vielleicht bereits der Rapper Fler mit seinem von Deutschtümeleien geprägtes Album "Fremd im eigenen Land".
Bedeutsamer für die rechte Szene war sicherlich die Bearbeitung durch die Rechtsrocker und anerkannten Volksverhetzer "Gigi und die braunen Musikanten" in ihrem Propagandastück "tolerant und geisteskrank" (2010).

Zitat von Gigi und die braunen Musikanten:Sich bei Gewalt empören, auf Nächstenliebe schwören,
doch von Ausländerkriminalität woll'n sie nichts hören.
Immer toleranter, immer geisteskranker.
Heute tolerant und morgen fremd im eigenen Land.

Durch all die Büßermassen füllen sich die Kassen.
Die werden dann gespendet und die Falschen können's verprassen.
Leidet ihr gerne Qualen? Geht weiter zu den Wahlen.
Wählt die Altparteien und ihr könnt auf ewig zahlen.

Immer toleranter, immer geisteskranker.
Heute tolerant und morgen fremd im eigenen Land.



Vielleicht ist es aber auch nur ein harmloser Sarrazynismus.
Zitat von N24:"Fremde im eigenen Land" Sarrazin sorgt sich um Deutschland

Thilo Sarrazin kann es nicht lassen. "Aufgrund der üppigen Zahlungen des deutschen Sozialstaats ziehen wir eine negative Auslese von Zuwanderern an", kritisiert er sowohl die deutsche Einwanderungsspolitik wie auch gewissenlose Ausländer. Vorab veröffentliche Passagen aus dem neuen Buch des Bundesbank-Vorstands schockieren die Nation. Deutsche würden zu "Fremden im eigenen Land", denen nur mit "radikalen Lösungsvorschlägen" zur Einwanderungspolitik geholfen werden könne, heißt es dort.

Wie auch immer: Die Parole ist wieder da! :crazy:

Ipsissimus
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Mo 19. Sep 2016, 00:11 - Beitrag #2

die Erwartungshaltungen dürften unvereinbar sein. Die einen fühlen sich fremd, weil sie sich eine weltoffene, tolerante, humanistisch fundierte, multikulturelle Gesellschaft erhoffen, die anderen fühlen sich fremd, weil sie sich eine nationalistische, geschlossene Gesellschaft mit deutscher Leitkultur erhoffen, und die Mehrheit fühlt sich unbehaglich, weil sie gar nichts erhoffen, außer, irgendwie durchzukommen, ohne behelligt zu werden.

Die Gruppe mit der Leitkultur fasse ich nicht mit der Kneifzange an, und ein Freund, der sich zu solchen Ideen bekennt, war ein Freund. Xenophobes Pack. Das heißt leider nicht, dass mir in der Gruppe mit der Multikultur die Krönung der Menschheit entgegentritt; Idee und guten Absichten halten zu oft nicht länger als bis zur ersten ernsthaften Konfrontation mit einer anderen Kultur.

Und es heißt auch nicht, dass ich Integration für einfach halte oder auch nur unter allen Umständen für wünschenswert. Das Problem mit der Integration besteht darin, dass "Integration", wie sie in Deutschland gefordert wird, mit "Ihr müsst werden wie wir" übersetzt werden kann. Das ist eigentlich etwas völlig anderes als ein Willommenheißen, vor allem, wenn politisches Wollen die Integrationsbedingungen derart verbiegt, dass sie sich wie ein "verpiss dich" anfühlen. Manchen Menschen, die hier her kommen, müsste man daher empfehlen, um ihrer selbst willen wieder zu gehen, weil ihnen hier systematisch ihre Würde genommen wird. Nicht wesentlich anders wie bei HartzIV-Empfängern.

Maglor
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Mo 19. Sep 2016, 15:46 - Beitrag #3

Bei dem Thema möchte ich viel weiter ausholen. Es geht eigentlich gar nicht mehr nur um Einwanderung oder Einwanderer, sondern um die Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben oder bereits hier geboren sind.
Fremd im eigenen Land bedeutet, dass man als Inländer oder Deutscher von Deutschen ausgegrenzt wird. Advanced Chemistry spricht die Binsenweisheit aus, dass sich Fremdenfeindlichkeiten und rechte Gewalt auch gegen Deutsche richten, die lediglich für Ausländer gehalten werden.
Zitat von Advanced Chemistry:Ist es so ungewöhnlich, wenn ein Afro-Deutscher seine Sprache spricht und nicht so blaß ist im Gesicht?
Das Problem sind die Ideen im System: Ein echter Deutscher muß auch richtig deutsch aussehen!
Blaue Augen, blondes Haar, keine Gefahr! Gab's da nicht 'ne Zeit, wo's schon mal so war?
Gehst Du mal später zurück in Deine Heimat? Wohin? Nach Heidelberg, wo ich ein Heim hab'?
Nein, Du weißt, was ich mein'! Komm', lass' es sein, ich kenn' diese Fragen, seitdem ich klein
bin in diesem Land vor zwei Jahrzehnten geboren, doch frag' ich mich manchmal: Was hab' ich hier verloren?
Ignorantes Geschwätz, ohne End, dumme Sprüche, die man bereits alle kennt!
Ey, bist Du Amerikaner oder kommste aus Afrika? Noch ein Kommentar über mein Haar, was ist daran so sonderbar?
Ach, Du bist Deutscher, komm', erzähl' kein' Scheiß! Du willst den Beweis? Hier ist mein Ausweis:
Gestatten sie, mein Name ist Frederik Hahn! Ich wurde hier geboren, doch wahrscheinlich sieht man es mir nicht an.


Zitat von Ipsissimus:Das Problem mit der Integration besteht darin, dass "Integration", wie sie in Deutschland gefordert wird, mit "Ihr müsst werden wie wir" übersetzt werden kann.

Nein, so werden wie wir, ist noch viel zu wenig. Wenn Biodeutsche komisch werden, spricht man von besorgten Bürger, deren Sorgen man ernstnehmen muss. Agitieren Deutschtürken jedoch im Graubereich, ist da natürlich unverzeilich und unerhört. Und selbst denen, die sich scheinbar problemlos anpassen, macht man zum Vorwurf, dass sie "uns" unterwandern und Deutschland zerstören.

Es auch auch gar nicht um die Kultur. Kultur wird nur als Kampfbegriff verwendet. Der Kulturbegriff ist auch so ein Beispiel dafür, wie Rassisten die Sprache der Antirassisten übernehmen und umdeuten. Anschließend tauchen die Begriffe in der öffentlichen Debatte in umgekehrter Bedeutung wieder auf und werden schließlich auch von der "Mitte" und später von so genannten "Linken" auf die neue, umgekehrte Weise verwendet. (Eigentlich geht mir aber in erster Linie um die Kultur - allerdings um die Kultur der Debatte.)

Ein anderes Beispiel ist der Begriff der "No-Go-Areas". Das Wort kam mit der 00er in Deutschland in Gebrauch und bezeichnete Gebiete, in denen Rechtsradikale angeblich die Herrschaft über den öffentlichen Raum erlangt haben und in denen sich Leute, die Ausländer und Linke aussehen, nicht mehr wagen sollte. Vor ein paar Jahren wurde der Begriff der No-Go-Area jedoch völlig umgedeutet. Als No-Go-Area werden nunmehr Gebiete bezeichnet, in denen kriminelle Ausländer die Herrschaft übernommen haben. Alternativ spricht man auch von sozialen Brennpunkten. Es soll sich demnach um Orte handeln, von denen sich Deutsche besser fernhalten. Gebiete, über die Polizei die Kontrolle verloren habe. (Gern wird hier die Geschichte von mächtigen Clans aus dem Orient erzählt, dabei organisieren ausländische Kriminelle längst nach dem westlichen Vorbild in Rocker-Clubs.)
Am Ende des Prozesses steht natürlich eine verkehrte Wirklichkeit, so etwa ausformuliert von Sachsen CDU-Generalsekretär Kretschmer.
Zitat von BILD:„Wir haben das Problem, dass eine No-Go-Area entstanden ist“, sagt er über den Kornmarkt in Bautzen. „Und das hat etwas damit zu tun, dass Menschen, die zu uns gekommen sind, sich nicht so verhalten haben, wie wir das erwarten. Ich glaube, dass am Anfang nicht konsequent vorgegangen worden ist. Wir dürfen solche Situationen gar nicht erst entstehen lassen.“

Traitor
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Sa 19. Nov 2016, 14:16 - Beitrag #4

Interessanterweise war mir die linksrappige Verwendung ganz entfallen (oder nie bekannt) und ich hielt die Phrase für eine primär rechte, fand es dann eine kreative linke Umdeutung, als sie für britische Proeuropäer nach dem Brexit-Referendum oder amerikanische Nichtrassisten nach der Trump-Wahl verwendet wurde. Umdeutung und Vereinnahmung funktionieren in beide Richtungen und tun dies wohl auch schon seit langem. Sogar in der DDR-Hymne kommt dsa von links doch eigentlich eher gemiedene Wort "Vaterland" vor.

Gerade derzeit ist aber zumindest gefühlt, wenn auch sicher schwer statistisch zu belegen, Umdeutung und Vereinnahmung nach rechts besonders in der Mode, da es mit "Alternativer Rechter" & Co ganze Bewegungen gibt, die sich vor allem diesem Propaganda-Trick verschrieben haben. Wohl auch nicht nur auf Worte, sondern auch auf Kleidung etc. bezogen, wenn ich das auch alles nur aus dritter Medienhand mitbekomme und daher eben nichts über tatsächliche Verbreitung sagen kann. Die Neurechten, die mir online am ehesten unterkommen, sind eigentlich meistens so geradlinig pöbelig rechts, dass da kaum kreative Wortarbeit zu beobachten ist.

Lykurg
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Sa 19. Nov 2016, 18:27 - Beitrag #5

Sogar in der DDR-Hymne kommt dsa von links doch eigentlich eher gemiedene Wort "Vaterland" vor.
Gut, aber zwischen Johannes R. Becher und den heutigen Linken liegen Welten. Und auch in der späteren DDR sollte die Hymne ja eben wegen der Zeile "Deutschland, einig Vaterland" nicht mehr gesungen werden (und wurde es dann zu ihrem Ende natürlich doch).

Aber ja, die Wut auf die eigenen Landsleute ist bei den Rechten schon sehr deutlich, von "Gutmenschen" bis zu "Willkommensklatschern" und natürlich "linksgrünversifft" etc. sind da viele Begriffe im Umlauf, liberal denkende Menschen auszugrenzen - da sehe ich auch durchaus eine gewisse Kreativität, wenn auch das nekrophile Verlangen, inkriminierte NS-Begriffe wie z.B. 'völkisch' wieder auszugraben, demgegenüber noch stärker zu sein scheint.

Traitor
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Sa 19. Nov 2016, 20:28 - Beitrag #6

Zitat von Traitor:Sogar in der DDR-Hymne kommt dsa [...] vor.
Da bekommt der Begriff "Systemfeind" eine ganz neue Bedeutung...

Was ich noch vergessen hatte: Umdeutung von Kleidung, Symbolen und Musik ist ja auch nichts neues, siehe die beiden Varianten von Skinheads und das mir bis heute rätselhafte Tragen von Militärkleidung bei linken Punks und Antifas.

Maglor
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So 20. Nov 2016, 19:03 - Beitrag #7

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Umdeutung und Vereinahmung in beide Richtung nicht gleich gut funktioniert oder gleich oft praktiziert wird. Ich sehe hierbei durchaus den Fehler bei den Linken, die in ihren Begriffbestimmungen häufig stark ideologisch eingefärbt sind. Es wäre ganz im Sinne des Wortes, wenn die sogenannte Antifa neurechte Straßenkämpfer mit Wirmer-Flagge und Merkel-Phobie als Volksverräter und Anti-Deutsche bezeichnen würde. Das tun aber viel zu wenige. Stattdessen fallen sie selber auf die Versuche der Rechten ein offene Staats- und Menschenfeindlichkeit als Artikulation einer sozialen Frage zu tarnen.

Zitat von Traitor:Was ich noch vergessen hatte: Umdeutung von Kleidung, Symbolen und Musik ist ja auch nichts neues, siehe die beiden Varianten von Skinheads und das mir bis heute rätselhafte Tragen von Militärkleidung bei linken Punks und Antifas.

Den neusten Trend liefert die Rockbande "Boxclub Osmanen Germania". Die Gang plagiiert im weitesten Sinne kriminelle Motorradklubs wie Hell's Angels und Bandidos, nur eben ohne Motorrad. Die Stilmittel der Kluft (Farbwahl Schwarz-Weiß-Rot, Frakturschrift, "Germania") wirken jedoch wie aus der Neonaziszene entliehen, obwohl die Mehrheit offen türkisch-nationalistisch auftritt.
Bei den Kleidungstrends von Rocker, Skinheads usw. spielt die Gewaltfixierung der Szenen sich eine große Rolle. Natürlich ist nicht jeder, der Spingerstiefel, Tarnfleckhosen, schwarze Hoodys nicht sofort gewaltbereit. Mit gewisser Ironie wurde Modetrends auch von eher friedlichen Szenen übernehmen, etwa Heavy Metall. Zu beachten ist jedoch z.B. bei Heavy Metal, dass Gewalt und Hass innerhalb oft auf Metabene im Zentrum der Kunst stehen. Die Grenzen zwischen echter Gewalt und künstlerischem Gewaltkult können jedoch fließend, was im Gangsterrap immer wird. Wenn man sich wie ein Gangster, Straßenkämpfer oder Soldat kleidet ist es also entweder Ernst gemeint oder nur eine subkulturelle Botschaft.


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