Relotius' Flunkerreportagen

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Traitor
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Di 1. Jan 2019, 13:54 - Beitrag #1

Relotius' Flunkerreportagen

Arbeiten wir mal den großen Skandal von letztem Monat auf: Claas Relotius, mehrfach preisgekrönter Journalist, vor allem bei Spiegel aber auch als Gelegenheitsbeitragender bei anderen Medien, hat es mit dem Berufsethos wohl nicht allzu genau genommen.

Einer meiner ersten Gedanken war, dass nun nicht nur diese einzelne Person und die ihn nicht hinreichend kontrolliert habenden Vorgesetzten schwer beschädigt sind, aber auch nicht unbedingt gleich der gesamte Journalismus an sich - sondern vor allem das Genre der Reportage. Politikerporträts, in denen mehr Zeilen für die Beschreibung der Wandtapete im Büro als für die Inhalte aufgewendet werden, oder vor-Ort-Recherchen, bei denen dann vor allem die Lichtstimmung ausführlich gewürdigt wird, waren mir schon immer unsympathisch, da sie a) meine Lesezeit auf der Suche nach den eigentlichen Informationen verschwenden und b) eben die Subjektivität und Fehleranfälligkeit des Journalisten unangenehm hervorheben. a) ist meinetwegen eine reine Frage der persönlichen Vorliebe, und der Markterfolg gibt den Produzenten solcher Quasi-Belletristik halt bisher recht; b) ist aber eben genau das eigentlich offensichtliche Problem, das anscheinend verantwortlichen Redakteuren nie so richtig aufgefallen zu sein scheint - oder im Dienste der Auflagenzahl und in pseudoliterarischer Hybris halt bewusst ignoriert wurde. Angesprochen wurde diese Teillektion des Skandals auch ganz gut in diesem Interview mit di Lorenzo.

Interessanter Nebenaspekt: wie sehr sich der Begriff "Reporter" in der Allgemeinsprache und im Journalisten-Slang anscheinend auseinanderentwickelt haben. Verwendet die Allgemeinheit den Begriff (oder ist es zumindest mein Eindruck davon) vor allem für Journalisten, die über eine aktuelle Faktenlage vor Ort berichten - siehe den "Rasenden Reporter" - war es dem Spiegel in dieser Affäre anscheinend besonders wichtig, zu betonen, ein "Reporter" sei ein spezieller Journalist, der eben "Reportagen" schreibt, also lang recherchierte, tief in den Hintergrund eintauchende und eventuell halt auch subjektiv gefärbte Texte, eben keine aktuellen und simplen Faktenberichte.

Maglor
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Di 1. Jan 2019, 21:16 - Beitrag #2

Relotius ist ein Opfer der Globalisierung. Karl May seinem Publikum noch die stinkendsten Bären aufbinden.
Relotius hat ein paar Märchen zu seiner Reportage aus der amerikanischen Kleinstadt Fergus Falls dazuerfunden. Bereits wenige Monate werden die Einwohner der Stadt auf die den spannenden Zeitungsartikel aufmerksam und beginnen sich gegen die miesen Lügen zu wehren. Hut ab! In unserer Welt gibt es keine Geheimnisse mehr. Nicht einmal eine andere Sprache oder dieser große Teich können unser liebgewonnenes Bild des hässlichen Amerikaners vor Aufklärung schützen.

Wenn die Geschichte eines beweist, dann die, dass es eine insgeheime Qualitätskontrolle gibt. Jede Flunkerei wird auffliegen.

Man muss Relotius zumindest insoweit in Schutz nehmen, dass er den Lesern und den Redakteuren jede Lügen lieferte, die sie hören wollten. Gezielt hat er doch das antiamerikanische Vorurteil bedient.

Ipsissimus
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Do 3. Jan 2019, 22:32 - Beitrag #3

Der Spiegel wird es unter "vorbildliche Aufklärung" abheften.

Maglor
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Mo 7. Jan 2019, 14:31 - Beitrag #4

Mir ist immer noch unklar, was die besondere Qualität seiner kleinen Realitätsverbesserungen sein soll. Ich bin mir sicher, dass ich schon größere Lügen in Zeitungen gelesen habe.
Es ist doch noch nicht mal das große Problem, dass sich ein paar Einwohner von Fergus Falls darüber beschwert haben. Normalerweise gibt es dann so eine Gegendarstellung und der Spiegel wird wieder zugeklappt.

Das Qualitätsmedium hat vor gar nicht all zu langer Zeit die größten Zeitungsenten aller Zeiten aufgelistet.

Ipsissimus
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Di 8. Jan 2019, 13:43 - Beitrag #5

Das Problem dürfte eher die grassierende "große Empfindlichkeit" mit massiver Neigung zu Shitstürmen sein. Da muss man als Qualitätsmedium dann wenigstens so tun, als sei man über sich selbst bestürzt.

Traitor
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So 20. Jan 2019, 13:02 - Beitrag #6

Die ganz besondere Qualität liegt wohl vor allem daran, dass er intern gelogen hat. Wenn ein Medienhaus insgesamt die Leserschaft belügt, ist das legitime Strategie. Wenn ein Reporter seine Chefs und Kollegen belügt, ist das bitterer Verrat. ;)

Hat jemand (Maglor?) die Nerven gehabt, zu verfolgen, was die üblichen "Lügenpresse!"-Rufer so zu der Geschichte zu sagen hatten?

Zitat von Ipsissimus:Der Spiegel wird es unter "vorbildliche Aufklärung" abheften.
Steht zu befürchten. Zumindest habe ich bisher weder von ihnen noch von der Branche als ganzes ein ernsthaftes Bekenntnis zu mehr Faktenbezug im Reportage-Genre gelesen. Aber naja, wenn zumindest die Gewichtung, was die interne "Dokumentation"-Abteilung überprüft, ein Stück weit von reiner Erbsenzählerei bei öffentlich nachprüfbaren Zahlen hin zum Gegenprüfen von Quellen und subjektiven Behauptungen verschoben wird, wäre das zumindest ein marginaler Fortschritt.

Ipsissimus
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So 20. Jan 2019, 23:06 - Beitrag #7

Optimist^^


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