Pygmalion oder Männliche Entgleisungen

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janw
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Sa 2. Sep 2006, 22:30 - Beitrag #1

Pygmalion oder Männliche Entgleisungen

Bei etwas Lektüre zu dem medial in alle erreichbaren (Un-)Tiefen ausgeloteten Fall der entführten Frau Kampusch aus Österreich stieß ich heute auf einen Artikel im Tagesspiegel , der einen in meinen Augen ganz interessanten Aspekt beleuchtet, wie weit nämlich die Sozialisation Männer möglicherweise zu sexuellen und anderen Übergriffen befähigt, treibt und/oder veranlasst.
Ich zitiere den Artikel mal, um ihn dauerhaft als Diskussionsgrundlage zu erhalten.

[quote=" tagesspiegel 2.9.2006"]Frankensteins Töchter
Was der Fall Natascha Kampusch über Mythen und Machtfantasien von Männern erzählt

Von Kai Müller

Der Mann ist gekränkt. Frauen traut er nicht mehr, sie haben ihn zu oft hintergangen. Die Einsamkeit des „ehlos geselligen Lagers“ nagt an ihm. Doch ist er Bildhauer und weiß sich zu helfen. „Mit bewunderter Kunst voll Leichtigkeit schnitzet er helles Elfenbein und gibt ihm Gestalt, wie nimmer noch aufwuchs irgendein Weib“, berichtet Ovid. Pygmalion heißt der Statuenmacher und Frauenkonstrukteur, der sich prompt in sein lebensechtes Kunstgeschöpf verliebt. Auf sein Bitten hin verlebendigt Venus das Traumfraugebilde – unter seinen Liebkosungen beginnt es sich zu regen. Vorausgesetzt wird: Die Frau ist ihrem Mann so verfügbar wie das Bild, das er sich von ihr macht.

Vielleicht hoffte der Elektrotechniker Wolfgang Priklopil auf einen ähnlichen Effekt. In der zwei mal drei Meter großen Montagegrube seiner Garage im österreichischen Strasshof richtete er ein Laboratorium ein, um ein bizarres Menschenexperiment durchzuführen. Acht Jahre hielt er in dem Verlies das Mädchen Natascha Kampusch gefangen. Als ihr vor wenigen Tagen die Flucht gelang, lief der Polizei eine Volljährige in die Hände, die nicht auf die bloße Opfer- Rolle festgelegt werden will. Ihr Entführer habe sie, erklärte sie in einem Brief an die Öffentlichkeit, „auf Händen getragen und mit Füßen getreten“. Selbstbewusst fügte sie hinzu: „Er hat sich mit der Falschen angelegt.“

Während die Welt staunt, dass die Verschollene am Leben und in der Lage ist, die eigene Situation so hellsichtig zu erfassen, begegnet sie voreiligen Interpretationsbenühungen mit der Bemerkung, dass sie sich „zu einer jungen Dame mit Interesse an Bildung und auch an menschlichen Bedürfnissen“ entwickelt habe. Ihr Alltag bestand aus gemeinsamem Frühstück, Hausarbeiten, lesen, fernsehen, reden und kochen. „Das war es, jahrelang.“

Was hat diesen Mann nur bewogen, ein solches Regime zu errichten? War Priklopil ein ausgebuffter Psychopath, der sich mit dem fremden Mädchen die Frau fürs Leben heranziehen wollte? Was für Antriebskräfte waren am Werk, um den Kellergulag aufrechzuerhalten? Wohin sollte das führen? Wir werden es nicht erfahren. Nicht von Priklopil, der sich der Festnahme durch Selbstmord entzog. Auch von Natascha Kampusch nicht, die zu „intimen Details“ jede Auskunft verweigert. Dafür kann man Verständnis aufbringen. Man muss ihre Entschiedenheit auch bewundern. Doch bleibt das Unbehagen, dass sich die Phalanx der wohltätigen Tyrannen mit Wolfgang Priklopil um einen monströsen Protagonisten erweitert.

Das Urmodell liefert der „Pygmalion“- Mythos. In George Bernhard Shaws Bühnenadaption (später, im Musical, „My Fair Lady“) warnt der Sprachforscher Higgins das Blumenmädchen, das er zur Herzogin umzuerziehen verspricht: „Ich werde schlimmer als zwei Väter sein.“ Er wird sich in sein Geschöpf verlieben und als Wissenschaftler scheitern. So erzählt Shaw von der Eigendynamik eines Ausbildungsprogramms, bei dem Mädchen und Mann zu Insassen desselben Kerkers werden, weil er sie vor gesellschaftlichen Konventionen schützt. Der ethische Ausnahmezustand schweißt sie zusammen.

In einer früheren Dramatisierung des Mythos’ durch Jean-Jacques Rousseau wird diese Bindung von Täter und Opfer eigens betont. Da erkennt sich die Frau als Spiegelbild des Künstlers, sie sagt zu ihm „ich“, wie sie es zu sich selbst sagt. Von der Gewalt eines solchen Akts will allerdings auch diese Schöpfungsgeschichte nichts wissen. Überhaupt kann Rousseaus Modell einer „negativen Erziehung“, das er in „Émile“ propagiert, auch als Anleitung zum Kerkerbau missverstanden werden. Die Forderung, das Kind gegen schädliche Einflüsse abzuschirmen, damit es sich nach seiner eigenen Natur entwickeln kann, dürfte für jene Reiz haben, die in der Umwelt nur Zudringlichkeit und Deformation ausmachen.

Auf die Spitze wird dieses Prinzip der Käfig-Pädagogik in Jonathan Demmes Horror-Thriller das „Schweigen der Lämmer“ getrieben: Junge Frauen werden von einem Psychopathen wie Versuchstiere gehalten. „Buffalo Bill“ will sie nicht als Lebenspartnerinnen gewinnen, aber heranzüchten will er schon etwas: Eine schöne Haut sollen sie haben. Die braucht er, um sich einen Frauenkörper zu nähen („Er fertigt sich ein Frauenkleid aus echten Frauen an.“) Auch hier geht es um den Wunsch eines Mannes, die perfekte Frau herzustellen. Mit der Pointe, dass er selbst diese Frau sein will.

In dieser Verweiblichung des Unterdrückers klingt ein Motiv an, das sich schon bei Rousseau findet und seinen Ursprung in übermäßiger mütterlicher Fürsorge hat. Die mache aus Söhnen verletzliche Zimperlinge, die später zu übertriebener Härte neigen. Priklopil wuchs ohne Vater auf]

Nun ist Vergleichbares immer wieder mal zu lesen, ich frage mich dabei jedoch, ob es tatsächlich stichhaltige Beweise gibt, die den Mythos als Tatsache erhärten.

Maurice
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So 3. Sep 2006, 12:12 - Beitrag #2

So wie der Artikel den Fall beschreibt, erinnert er mich an einen Text mit einer ähnlichen, vielelicht sogar derselben Thematik, den ich mal geschrieben habe.
Hoffentlich kommt der Fall mal als gutes Buch oder Film raus. Meine Idee gabs ja allen Anschein nach schon oft genug. ^^

aleanjre
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So 3. Sep 2006, 15:27 - Beitrag #3

Interessanter Artikel, soweit.
Ich verstehe im Moment nicht, auf welche Frage du genau hinauswillst, Jan: ob es die Angst eines von einer übermächtigen Mutter geprägten Mannes vor der Weiblichkeit ist, die ihn dazu bringen, eine Frau zur vollkommenen Dienerinfigur herabbrechen zu wollen?

Dazu sage ich: ja. Das gibt es.
Wobei eine übermächtige Mutterfigur alleine nicht reicht, um einen Mann zum Psychopathen zu machen. Sonst hätten alle Söhne alleinerziehender Mütter ein Problem. Es ist lediglich das Zusammentreffen vieler ungünstiger Komponenten, wobei die alles erdrückende Mutter im wahresten Sinne des Wortes dann die "schwerwiegenste" ist.

janw
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So 3. Sep 2006, 16:56 - Beitrag #4

Ich will darauf hinaus, daß es zum einen einen mythologisch fundamentierten und literarisch mehrfach prominent umgesetzten Archetyp gibt, der psychologisch als Syndrom beschrieben und damit mit der Aura des wissenschaftlich Faktischen umgeben ist, und eine Tat, die dieses Schema und Syndrom zugeordnet wird.
Worauf sich für mich die Frage ergibt, ob das mythologisch-literarische Schema in der Realität als hinreichend konstantes Muster existiert, daß die Beschreibung als Syndrom einer kritischen Betrachtung standhält, nachfolgend, wie der Mechanismus funktioniert bzw. vor allem auch, welche Aspekte kritisch zu ihm beitragen oder den Mechanismus behindern.

Sprich: Was muss noch alles passieren im Leben eines stark mutterbezogen aufgewachsenen Mannes, um ihn zu derartigem Handeln zu treiben, zu befähigen oder die "Sicherungen" dagegen auszuschalten?

Maurice
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So 3. Sep 2006, 17:27 - Beitrag #5

Naja um solche Phantasien zu haben, bedarf es freilich deutlich weniger. Sieht man ja an mir ^^ ...

PS: Was gegeben sein muss, damit jemand solche Phantasien in die Tat umksetzt, fühle ich mich nicht kompetent zu beurteilen. :rolleyes:

Ipsissimus
Dämmerung
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Di 5. Sep 2006, 14:27 - Beitrag #6

in "Der Rote Drachen" kann Polizist xy den Fall eines Psychopathen nur deswegen aufklären, weil er sich in die Gedankengänge und Stimmungen des Psychopathen hineindenken und -fühlen konnte, ohne diese schon apriori mit "bäh, wie bösartig, wie erbärmlich" zurückzuweisen. Als seinen Kollegen das klar wurde, ward er fortan gemieden. Als seiner Frau das klar wurde, hat sie sich scheiden lassen

janw
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Di 5. Sep 2006, 16:44 - Beitrag #7

Ipsi, setzt der polizeiliche Aufklärungswille nicht schon eine Bewertung der Tat voraus?
Das "gesunde Volksempfinden" ist schon länger nicht so wirklich meine Sache...
EDIT:
Vor allem, wenn es darauf hinausläuft, Einfühlungsvermögen, verstehen-können von Gewalt mit Sympathie dafür gleichzusetzen oder gar der Bereitschaft, selbst so zu handeln.

Maurice
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Do 7. Sep 2006, 00:08 - Beitrag #8

Wer hat alles das Interview gesehen? Ich nur zur Hälfte, weil ich immer wieder auf ZDF gezappt ahbe, um das Schützenfest unserer Nationalelf zu genießen. ^^
Das Interview fand ich sehr interessant. Ich habe noch nicht gesucht, aber weiß jemand, wo man das downloaden kann?
Ich hoffe sie schreibt ein Buch (und das möglichst bald), da ich die Thematik echt spannend finde. Wenn ich gut im Geschichten schreiben wäre, würde ich die Story als Vorlage nehmen und selbst eine Geschichte daraus machen.

Lykurg
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Do 7. Sep 2006, 11:10 - Beitrag #9

Ja, tatsächlich interessant. Ich habe das Interview nicht gesehen, aber eben hier gelesen. Da ich den Fall nicht besonders aufmerksam verfolgt habe, blieb mir weitgehend rätselhaft, wie ihre geistige Entwicklung in der völligen Isolation stattfinden konnte, Wortschatz, Allgemeinwissen etc. - und somit, wie sie in Freiheit leben kann. Das Ziel, Schauspielerin zu werden, ist jedenfalls ehrgeizig.

Das als Pygmalion-Effekt zu betrachten, ist verlockend. Eine Person, die dadurch geformt wurde, daß ihr Entfaltungsraum sich in solchem Maße auf die geistige Welt beschränkte, wird nun auf einmal ins Leben geworfen. Ich bin mit diesem Vergleich aber insofern nicht einverstanden, als der Versuch an ihr ziemlich deutlich mißglückt ist - jedenfalls aus ihrer Sicht war sie dem Entführer in gewisser Weise überlegen, sie war eben nicht willenloses Objekt. Möglicherweise liegt darin die wesentliche Schwäche einer solchen Kategorisierung: Wer einen Menschen nach seinem Bilde formen will, braucht dafür einen überlegenen Willen - und wenn die Formung nicht zur Brechung geraten soll, scheinen mir die Anforderungen schier übermenschliche Kraft zu erfordern. Professor Higgins besitzt eine Fähigkeit zur Sprachbeherrschung, die alles menschliche Maß sprengt. Nur so kann er aus dem Blumenmädchen eine Herzogin machen - da er sprachlich beiden überlegen ist. Das ist der Unterschied zwischen Fiktion und Realität...

Maurice
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Do 7. Sep 2006, 11:33 - Beitrag #10

Mir fällt gerade auf, dass der Thread-Titel für manchen hier nicht genug Informationen liefern könnte, weshalb ich hier nochmal anmerken möchte, dass ich noch einen Thread zum Thema "Natascha" mit einer anderen Schwerpunktsetzung gestartet habe.

@Lykurg: Sie hatte die Möglichkeit Radio zu hören, später sogar TV zu gucken und auch ein bisschen Zeitung zu lesen. Darüber hinaus scheint er sie auch mit Lernmaterial versorgt zu haben, da sie meinte, sie hätte zu gut wie möglich versucht, sich die Schulbildung selbst beizubringen.

Welche Frage ich sehr interessant finde, aber leider für unlösbar halte, ist ob die Entführung ihrer gesitigen Entwicklung mehr geschadet oder genützt hat. Versteht mich nicht falsch, die Entführung hat sie in gewissen Punkten auf jeden Fall beeinträchtigt. Aber es war erstaunlich, wie reif sie doch gewirkt hat. Zumindest auf mich und einige andere Leute. Ich frage mich nun, ob sie diese Reife auch erlangt hätte, wenn sie ein normales Leben mit Klasenkammeraden, Clique, Party usw. gelebt hätte. Da sie die meiste Zeit alleine war, hat sie wohl mehr über sich nachgedacht und ergeiziger die ihr zu Verfügung stehenden Mittel der Entwicklung verfolgt, als die meisten andere Menschen in ihrem Alter. Leider kann man die Zeit nicht zurückspulen und ihre Entwicklung unter mit ein paar anderen Parametern zum Vergleich verlaufen lassen.

Lykurg
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Do 7. Sep 2006, 11:41 - Beitrag #11

Maurice, genau diese Überlegung stand auch hinter meinen Anmerkungen. Dazu kommt eine aktuelle Studie aus den USA, die besagt, daß die Kinder, die dort von ihren Eltern zu Hause unterrichtet werden (immerhin 2%!) bei Tests und Abschlüssen durchschnittlich besser abschneiden als Besucher der (wie bereits oft bemerkt) desaströsen öffentlichen Schulen.

Aber wir kommen vom Thema ab. Du kannst ja einen neuen Thread dazu aufmachen, wenn du darüber diskutieren möchtest. Oder ein Moderator könnte das abspalten. ;)

Maurice
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Do 7. Sep 2006, 11:52 - Beitrag #12

Oh ja splitten! Ich liebe es, wenn Threads gesplittet werden. ich würde das am liebsten selbst machen, aber ich darf nicht ^^* ...

So jetzt aber genug gespammt :crazy: ...

janw
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Do 7. Sep 2006, 17:46 - Beitrag #13

Ich werd mich nachher mal mit Schere und Faden dransetzen^^

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Do 7. Sep 2006, 18:08 - Beitrag #14

Nein, nein! Ich wollte nur ein bißchen Spam provozieren! :D

Lykurg
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Fr 8. Sep 2006, 09:19 - Beitrag #15

In der 'WELT' wurde heute ein Artikeldes österreichischen Schriftstellers Franzobel abgedruckt, der auf die Nähe zum Pygmalion-Mythos ausdrücklich Bezug nimmt, zugleich aber auch den angesprochenen Aspekt der Selbst-Bildung und das Medienecho berücksichtigt. Er endet bezeichnenderweise:
Zitat von 'DIE WELT' vom 7. 9. 2006:Wie eine Naturkatastrophe nimmt der "Fall Kampusch" die Öffentlichkeit in Geiselhaft. Je mehr das Perverse und Bestialische an Priklopil betont wird, desto normaler und typischer erscheint er auch. Je bestialischer er gezeichnet wird, desto gewöhnlicher, lässt sich vermuten, ist sein Kontroll- und Sicherheitsdenken, was den Fall noch beängstigender macht. Denn welcher Chef, welcher Partner, welcher Elternteil will nicht Macht ausüben, andere nach eigener Fasson sich modellieren? Insofern ist Pygmalion wohl überall, nicht nur in Österreich. Seine Verliese sind in uns.

janw
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Mi 13. Sep 2006, 22:30 - Beitrag #16

Zitat von Lykurg:Ich bin mit diesem Vergleich aber insofern nicht einverstanden, als der Versuch an ihr ziemlich deutlich mißglückt ist - jedenfalls aus ihrer Sicht war sie dem Entführer in gewisser Weise überlegen, sie war eben nicht willenloses Objekt. Möglicherweise liegt darin die wesentliche Schwäche einer solchen Kategorisierung: Wer einen Menschen nach seinem Bilde formen will, braucht dafür einen überlegenen Willen - und wenn die Formung nicht zur Brechung geraten soll, scheinen mir die Anforderungen schier übermenschliche Kraft zu erfordern.

Nun, dann müßte auch der Begriff des Bildhauers nur auf jene anzuwenden sein, denen es tatsächlich für die Außenwelt erkennbar erfolgreich gelingt, willentlich eine bestimmte Struktur aus Stein heraus zu meißeln.
Der Gedanke, einen Menschen für sich zu besitzen und nach seinen Vorstellungen zu gestalten, war möglicherweise leitend in dieser Angelegenheit, wie er auch zum Scheitern verurteilt war und wohl auch immer ist - man kann einen Menschen nicht in dem Maße "besitzen" und "gestalten", ohne daß nicht der Mensch sich entweder irgendwann auf irgendeine Weise dagegen zur Wehr setzt - und sei es durch innere Emigration - oder daran psychisch und letztlich wahrscheinlich auch physisch zugrunde geht.

Zitat von Maurice:Welche Frage ich sehr interessant finde, aber leider für unlösbar halte, ist ob die Entführung ihrer gesitigen Entwicklung mehr geschadet oder genützt hat...

Nun, es kommt auf den Betrachtungswinkel an, denke ich.
Wenn man ihre kognitiven Fähigkeiten und ihre Sprachkompetenz betrachtet, so wie diese aus ihren Interviews und dem Brief an die Medien sich erschließen lassen, hat sie einiges vorzuweisen, was sie in den Jahren erworben hat - ob trotz oder wegen ihrer Umstände, ist schwer zu entscheiden.
Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie im Bereich dessen, was man "soziale Intelligenz" nennt, Defizite aufweisen könnte - etwas, das viele Menschen haben, die in dem Alter mit wenig Kontakten zu Gleichaltrigen aufwachsen. Dies wäre in dem Falle sicher auf ihre besonderen Umstände zurückzuführen, und insofern wäre dann von einem Schaden auszugehen.


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