Mein Reisetagebuch
Montag
Liebes Tagebuch,
ich schreibe Dir aus dem Reisezentrum der Deutschen Bahn. Ich habe gerade
viel Zeit zu schreiben, denn ich will einen Fahrschein kaufen. Die ca. 200
anderen Leute, die außer mir hier sind, wollen das auch, drum habe ich mir,
um die Wartezeit zu überbrücken, ein bißchen Arbeit und was zu lesen
mitgebracht: „Der Herr der Ringe, Band 1 – 3“.
Die Deutsche Bahn hat jetzt ein neues Preissystem. Wenn man seinen
Fahrschein z.B drei Tage vor Abfahrt des Zuges bucht, kostet er weniger.
Ich bin daher schon seit vorgestern hier. Leider bin ich seitdem noch nicht
an die Reihe gekommen, aber dafür kenne ich die meisten anderen schon mit
Vornamen. Ab und zu lade ich welche in mein Zelt ein, und wir kochen uns
was Leckeres auf meinem Campigkocher. Ich hoffe, mein Konservenvorrat
reicht noch bis Dienstag, da fährt nämlich mein Zug.
Dienstag, früher Morgen
Liebes Tagebuch,
es könnte sein, daß ich heute doch noch rechtzeitig drankomme. Sie haben
nämlich einen zweiten Schalter aufgemacht, so daß jetzt nur noch zwölf
unbesetzt sind. So kriege ich zwar keinen supergünstigen
Frühbucher-Sparpreis mehr, dafür aber wenigstens meinen Zug.
Dienstag, früher Nachmittag
Liebes Tagebuch,
der Bahnbedienstete am Schalter hat mir meinen Fahrschein netterweise doch
zum Frühbucher-Sparpreis verkauft. Mein Zug hat nämlich schätzungsweise
drei Tage Verspätung. Welch ein Glück, denn vom gesparten Geld kann ich
meinen Konservenvorrat wieder auffrischen!
Freitag
Liebes Tagebuch,
als ich vorhin in den Zug eingestiegen bin, haben mir alle vom Bahnsteig
gewunken. Es war herzzerreißend, aber es ist tröstlich zu wissen, daß ich
sie bei meiner Rückkehr in zwei Wochen eh fast alle wiedersehen werde. Mein
Zelt habe ich einem armen Geschäftsmann geschenkt, der versucht hatte, sich
seinen Fahrschein am Automaten zu lösen.
Der ICE, mit dem ich jetzt fahre, ist ziemlich voll, doch ich habe einen
Stehplatz vor dem Klo ergattern können. Hier kann ich mich schön anlehnen,
zumindest solange die Klotür sich nicht öffnet. Aber die fünf Leute, die
drin sind, kommen eh selten nach draußen; es sei denn, es muß mal jemand
auf’s Klo.
Samstag
Liebes Tagebuch,
wegen der maroden Gleise fährt der Zug langsamer als er eigentlich könnte.
Das macht aber nichts. So können wir in aller Ruhe die an uns vorbei
plätschernde malerische Landschaft genießen. Das Wetter ist herrlich, und
es sind viele Fahrradfahrer unterwegs. Sie winken uns immer fröhlich zu,
wenn sie an uns vorbei fahren.
Vor jedem Bahnhof, den wir anlaufen, gibt der Zugchef über Lautsprecher die
Anschlußzüge der letzten paar Monate durch, die wir übrigens fast alle noch
erreichen. Er wünscht allen Fahrgästen, die aussteigen, zum Abschied noch
einen schönen Tag und bedankt sich bei Ihnen für das Reisen mit der
Deutschen Bahn. Aber aussteigen tut eigentlich kaum jemand, denn dazu sind
ja nur die in der Lage, die einen Stehplatz in unmittelbarer Nähe zu einer
Tür ergattert haben - und das sind ja meistens die, die gerade erst
eingestiegen sind.
Anschließend übersetzt der Zugchef seine gesamte Ansage immer nochmal auf
Englisch. Schließlich ist der ICE ja der „official carrier“ für die Expo.
Die Expo ist zwar schon vorbei, aber hier an Bord befinden sich noch einige
Expo-Besucher, die damals in Hannover zugestiegen sind. Man erkennt sie
leicht an den hüftlangen Vollbärten.
Am Ende jeder Durchsage empfiehlt uns der Zugchef immer noch ein paar
Gerichte von der Speisekarte, die für uns im Speisewagen vom freundlichen
Team von der Mitropa aufgetaut werden. Ein Croissant mit Butter und Honig
für 6 Euro 30 hört sich verlockend an, aber zum Speisewagen zu gelangen ist
praktisch unmöglich, denn hier ist absolut kein Durchkommen. Auch nicht für
den Schaffner, deshalb erleichtern wir ihm die Arbeit und kontrollieren
unsere Fahrscheine gegenseitig. Manchmal brauchen wir ihn aber doch, wenn
es darum geht, Fahrscheine für die Passagiere nachzulösen, die seit der
Abfahrt des Zuges hier geboren wurden.
Montag
Liebes Tagebuch,
der Zug ist vorhin mitten in der Nacht wieder einmal auf offener Strecke
stehen geblieben. Der Zugchef hat gerade über Lautsprecher durchgegeben,
die Ursache für die kleine Verzögerung sei diesmal nicht wie sonst eine von
Vegetation überwucherte Signalanlage sondern ein brennender Triebwagen.
Um der ansteigenden Hitze im Inneren des Zuges entgegenzuwirken, werden vom
freundlichen Team von der Mitropa gekühlte Getränke verteilt. Leider ist
nur noch Kaffee da. Aber immerhin. Der Strom ist ausgefallen. Doch der
Flammenschein spendet genügend Licht, so daß ich Dir diese Zeilen noch
schreiben kann:
Was bin ich froh, daß ich nicht mit dem Auto gefahren bin! Ich hätte sonst
nie so viele liebe, nette Menschen kennengelernt. Selten erlebe ich eine
Reise so bewußt, intensiv und naturverbunden. Schön, daß es in dieser
schnellebigen Zeit noch so etwas gibt wie die Deutsche Bahn.