Rückläufigkeit in Wörterbüchern, Astronomie und Geschichte

Wenn Ihr ein paar gute Witze kennt oder etwas Lustiges in den Weiten außerhalb der Matrix gefunden habt, könnt Ihr es hier posten - keine Zählung der Beiträge.
Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Mo 7. Jul 2014, 16:21 - Beitrag #1

Rückläufigkeit in Wörterbüchern, Astronomie und Geschichte

Abgetrennt aus den Germanizismen - Traitor

Zitat von Traitor:
Zitat von John Huehnergard:I did a rough "guestimate" of the number of Akkadian roots listed in one dictionary (an interesting Rückläufiges Wörterbuch; since so many Akkadian texts are broken, it helps to have a dictionary listing words from the end) — about 60 roots per page over 31 pages, so about 1,800 roots.
(via Language Log)


Zitat von Lykurg:Sehr, sehr schöner Treffer, auch, weil damit alle drei Umlaute (richtig!) verwendet werden (fehlt nur noch ein ß). :D


Zitat von Traitor:Und das trotz seines nichts gutes versprechenden Nachnamens. Aber wäre dir "Rückläufigeß Wörterbuch" wirklich lieber gewesen? ;)


Sowas taucht im Barock öfters auf, alß auß meinen Schrifften mir anitzo offenbar worden ist, das Wort "rückläufig" war aber damals noch nicht in diesem Sinne in Gebrauch (belegt bei Copernicus für Planeten). Leider wohl wenig hilfreich, obwohl auch invers, wäre hier das

Häufigkeitswörterbuch gesprochener Sprache : gesondert nach Wortarten, alphabetisch, rückläufig-alphabetisch und nach Häufigkeit geordnet / Arno Ruoff. Unter Mitarbeit von Harald Fuchs; Bernhard Gersbach; Rainer Graf und Simone Thiers, Tübingen: Niemeyer 1990.

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
Mo 7. Jul 2014, 17:18 - Beitrag #2

Rückläufigkeit in Wörterbüchern, Astronomie und Geschichte

"rückläufig" [...] belegt bei Copernicus für Planeten
Lustig, ich kannte dafür bis eben nur "retrograd"; eingedeutscht hätte ich es eher mit "gegenläufig". Zusammen mit dem laut deWP auch etablierten "rechtläufig" (statt "prograd") erscheint mir jenes Paar sehr altertümelnd, wenn auch vermutlich einer der vielen Fälle von Verdrängung durch englischen Einfluss. Bezieht sich dein Beleg auf eine Kopernikus-Übersetzung, oder auf deutsche Texte von ihm selbst, z.B. Briefe?

Multisortierte Wörterbücher sind dank EDV-Anlagen immerhin keine solchen Platzfresser mehr, wie sie es 1990 vermutlich noch waren.

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Mo 7. Jul 2014, 17:34 - Beitrag #3

Oh, danke, Traitor, das war ein dicker Denkfehler von mir, Wörterbuchbenutzung will auch gelernt sein. In Koppernigks "De Revolutionibus orbium coelestium" kommt das Wort natürlich nicht vor, und Briefe kenne ich nicht - in Grimms Deutschem Wörterbuch, das ich heranzog, ist nur ein indirektes Kopernikus-Zitat angegeben, zitiert aus Schlossers Weltgeschichte für das deutsche Volk, also ca. aus den 1850ern. Der Klammersatz gehört also einfach nur gestrichen, war auch nur ein späterer Zusatz, zusammen mit dem "in diesem Sinne".

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
Mo 7. Jul 2014, 17:52 - Beitrag #4

Kannst du mir dafür das kovergrimmte Dämmer-Zitat mit den rückläufigen griechischen Stadtstaaten erhellen, klingt ganz nach deinem Fachgebiet?
Und ist auch der Zeilenumbruch streichenswürdig, oder hat der tiefere künstlerische Bedeutung? ;)

Zitat von J. u. W. Grimm zu Trier:bildlich: wenn ein volk gegen alle bewegung-gesetze jahrtausende in demselben stande gegen die sonne einwurzelt, wie Sina — wenn andere schnellläufig, dann rückläufig wie griechische staaten ... J. Paul dämmer. 8.

Edit: Oh, gar keine Stadt- im Originalzitat, die habe ich wohl autohinzugedichtet.

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Mo 7. Jul 2014, 18:36 - Beitrag #5

Trier steht mit in der Adresse der Seite, weil die Uni Trier den Grimm digitalisiert hat* und die Onlineausgabe betreut.
*Übrigens mit einem witzigen bruteforce-Ansatz, um OCR-Fehler, aber auch die mentale Autokorrektur von Deutschsprechenden zu vermeiden: Sie haben angeblich drei chinesische Teams damit beauftragt, alles abzutippen, anschließend einen elektronischen Vergleich durchgeführt, und bei allen Abweichungen nochmal draufgeguckt.

Das Zitat stammt aus Jean Paul: Dämmerungen für Deutschland (1809), hier im 13. Absatz:
Zitat von Jean Paul:Indes ist dem physischen Lebenslauf der Völker noch eine Freiheit eingemischt, welche dem der Tiere abgeht, so wie dem freien Machtschwung von Sturm-Menschen noch ein Festes vorgeordnet, welches die Unterlage seiner steigenden Hebel ausmacht. – Wenn ein Volk gegen alle Bewegungs-Gesetze Jahrtausende in demselben Stande gegen die Sonne einwurzelt, wie Sina – wenn andere schnelläufig, dann rückläufig sind, wie griechische Staaten – wenn ein Volk, an ein größeres wie ein Mond an die Erde geknüpft, sich damit um die Sonne bewegt, wie Juden mit Christen – wenn ein anderes kometenartig nach der Sonnenferne in die Sonnennähe kommt, wie die Franzosen und Deutsche, und dann in jene und diese wiederkehrt – wenn ein anderes, wie andere Kometen, niemals umkehrt, wie Ägypter: so spricht schon die lahme unzulängliche Allegorie durch ihr eignes Unvermögen, die Völkerbahnen zu beschreiben, die Verschiedenheit zwischen Weltkörpern und Geister-Körperschaften unwillkürlich aus. Denn eben kein Körper-Bild kann – in seine immer umlaufenden Wendezirkel gebannt – den gerade und zackig gehenden Völkergeist vorbilden. So ist das Bild von Aufblühen und Abwelken der Völker kein volles; denn jedes Volk hängt heute zu gleicher Zeit bedeckt voll Blüten, Früchte, Knospen und Welk-Laub, und morgen wieder voll, nur von andern aber.

"Sina" meint im Zweifel China, das er also als kulturell statisch bezeichnet, gegenüber phasenweise vor- und zurückgehenden Entwicklungen in Griechenland. Ich bin mir unsicher, was er damit meint, auch weil ich zuwenig von ihm kenne, um seine Ästhetik zu verorten. Ich denke aber, er meint damit den Niedergang des klassischen Griechenlands infolge von Fremdherrschaften - Römer, Byzantiner und Osmanen - von einem Volk der Künstler und Philosophen (romantisch-idealisiert gesehen) zu dem geknechteten Bauern- und Hirtenvolk seiner Gegenwart - oder aber innergriechische Kontroversen, dann wüßte ich aber nicht, worauf konkret er sich damals bezog; vermutlich eher historische als (noch sehr unvollständig bekannte) archäologische Quellen, und das wäre mit viel Skepsis zu betrachten.

Der Zeilenumbruch diente der Hervorhebung des Buchtitels.

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
Di 8. Jul 2014, 09:46 - Beitrag #6

Trier hatte ich erwähnt, um darauf hinzuweisen, dass ich nur mit einer weiterverarbeiteten Ausgabe, von mir (dann wohl fälschlich) als OCR eingeschätzt, gearbeitet hatte, nicht mit einem Originalscan. Insbesondere hatte ich schon vermutet, dass bei "J. Paul dämmer" wohl das "dämmer" kein fälschlich kleingeschriebener Nachname sei, konnte ohne Kontext aber auch nicht mehr damit anfangen.

Sina ist eindeutig, denen Stagnation vorzuwerfen, ja auch etabliert.
Die konsequent durchgehaltene astronomische Metapher finde ich durchaus hübsch, obwohl er sie selbst lahm findet. Neben Recht- und Rück- haben wir dazu jetzt auch noch Schnelläufigkeit. Die Juden als Trabant der Christen sind eine etwas fragwürdige Einschätzung. Wiederkehr der Franzosen und Deutsche in die Sonnenferne = Revolutionen? Dass er den Ägyptern eine Parabelbahn vorausgesagt hatte, hätte man den Tahrir-Demonstranten stecken sollen, dann hätten die sich die ganze Mühe vielleicht gleich gespart.
Rückkehr der Griechen zu Bauern und Hirten wäre nach klassischer Ansicht doch ein Wiederaufstieg? ;) Der Plural der Staaten könnte ja auch Kolonien umfassen, oder die hellenistischen Reiche. Am meisten irritiert mich aber, dass die "schnelläufig, dann rückläufig" implizit eine Periodizität anklingen lässt, also auch mehrere Schnellaufphasen - Minoer schnell, Seevölker rück, Mykene schnell, dunkle Zeit rück, Klassik schnell, danach nur noch rück...? (Auch wenn die Entdeckung der Minoer und selbst der Begriff laut WP erst aus dem späten 19. Jahrhundert stammen, müssten sie doch auch vorher schon aus antiken Texten grob bekannt gewesen sein, Minotauros und so. Oder fehlte da komplett die zeitliche Verortung?)

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Di 8. Jul 2014, 11:33 - Beitrag #7

Geschichte verläuft zyklisch^^ Aufstieg und Fall von Reichen, immer die gleiche Hybris, immer die gleiche Stagnation. Militärgeschichte als Entwicklung, Pazifismus als Verfall?

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Di 8. Jul 2014, 12:52 - Beitrag #8

Heute ist ja der Begriff einer rückläufigen Entwicklung selbstverständlich, wäre die Frage, ob das zu Jean Pauls Zeiten noch nicht so war - er war jedenfalls ein wichtiger Sprachneuerer. Ich kann allerdings nicht einschätzen, ob er die von dir vorgeschlagenen Positionen geteilt hätte, Ipsissimus.

Aber nein, Traitor, die Metapher ist doch ganz offensichtlich auf der Höhe derzeitiger Theorienbildung: Durch Kollision des Judentums mit dem vorbeistreifenden römisch-griechischen Reich wurde ein Teil abgesprengt, konsolidierte sich und blieb weitgehend in seiner damaligen Form erhalten, kreist seitdem zusammen mit dem größeren Christentum (das deutlich mehr Umbildungen durch konfessionelle Plattentektonik erlebte) um das gemeinsame Zentralgestirn.
Sonnenferne und Sonnennähe würde ich analog dazu als Bezug auf vorchristliche und aufgeklärte Gesellschaften deuten, demgegenüber wäre die Umlaufbahn Italiens deutlich kreisförmiger.
"Griechische Staaten" dürfte schon ziemlich sicher im Wesentlichen die Stadtstaaten meinen. Insofern dann wohl auch eher die lokalen Kontroversen und Ungleichzeitigkeiten in der Antike als die von mir angedeutete langfristige Betrachtung. Ein Bezug auf die Minoer, deren Bedeutung bei den antiken Historikern möglicherweise sogar eher übertrieben wurde, wäre durchaus ebenfalls denkbar.

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Di 8. Jul 2014, 18:11 - Beitrag #9

Ist es ein typischer Zug der Geisteswissenschaften, vorrangig keine latinisierten Fachbegriffe zu entwickeln? "Rückläufigkeit" würde in Naturwissenschaften doch flugs in "invers" oder "revers" umbenannt...


Davon abgesehen scheint mir Jean Paul einen interessanten Einblick in Sichtweisen und Verständnis von geschichtlichen und sozialen Vorgängen und dem Wesen von sozialen Gruppen zu vermitteln, wie sie anfang des 19. JH gängig waren. Insofern vielleicht eine - verkannte? - Quelle zum Verständnis dessen, was später und im 20. JH geschah.

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
Di 8. Jul 2014, 21:59 - Beitrag #10

@Ipsissimus: "Militärgeschichte als Entwicklung, Pazifismus als Verfall" würde ich bei JP so nicht herauslesen. Details werden zwar nicht genannt, aber bei Griechen und Ägyptern ist doch kriegerischer Verfall naheliegend.

@Lykurg: Heutzutage ist das für mich vor allem eine stehende Medienfloskel für fallende Statistiken; qualitativ, also beispielsweise auf den Entwicklungsstand eines Volkes bezogen, erschiene es mir eher untypisch, "rückschrittlich" naheliegender.
Ich stelle gerade fest, dass ich sehr wenig von den klassisch-präachäologischen Chronologieannahmen zur griechischen Überlieferung weiß. Ist von dieser Liste etwas zu halten, die Minos, Herakles, Theseus und Troja innerhalb eines Jahrhunderts ansiedelt?

@Jan: In den Naturwissenschaften sehe ich das als eher moderne und vom Englischen, das generell mehr auf Latinismen steht, beeinflusste Tendenz, im 19. und bis ins mittlere 20. Jahrhundert findet man zumindest in der Physik noch viel mehr deutsche Bildungen. Ich benutze auch oft genug Anglo-Pseudolatinismen, bevor ich merke, dass es auch ein gutes deutsches Äquivalent, vielleicht gar eine Entsprechung, gibt. Schön ist die Geschichte von Feynman, der für sein gutes Brasilianisch gelobt wurde, er spräche so vornehm mit all diesen "big words"; aber entgegnete, die seien halt viel einfacher als umgangssprachliche Wörter, da weitgehend interlingual.
Dass JP die Unzureichendheit solcher verallgemeinernder Volksbeschreibungen feststellt, finde ich für seine Zeit schon beachtlich.

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Mi 9. Jul 2014, 00:21 - Beitrag #11

janw, das ist jeweils eine Frage der herrschenden Strömung innerhalb der jeweiligen Geisteswissenschaft. Manch eine Schule, gerade die an den romanischen oder englischen Literaturwissenschaften orientierten Strukturalisten, Narratologen etc. benutzen gern lateinischstämmige Fremdwörter, auch in der Sprachwissenschaft und den mit ihr enger verbundenen Richtungen sind sie meist vorherrschend, meine ich; andere haben teils auch aus ideologischen Gründen gerade darauf zu verzichten versucht. Mir fiel es in diesem Zusammenhang auch auf, als ich zunächt nach einem gängigen Frequenzwörterbuch suchte, unter dem Titel aber nur welche für andere Sprachen fand, weil die innerhalb der Germanistik durchweg als Häufigkeitswörterbuch betitelt werden.
Und ja, Jean Paul ist ein lohnender Autor, allerdings mit ziemlich verwirrenden Handlungen, gern auch sich auflösenden Texten.

Traitor, stimmt. Und ja, die Liste ist zumindest insofern zutreffend - habe allerdings nicht alles durchgesehen. Das liegt zeitlich alles äußerst dicht beisammen, fast innerhalb einer Generation: Herakles fängt Minos' Nebenbuhler, den Kretischen Stier, ein, dessen Sohn, der Minotauros, von Theseus getötet wird. Herakles' Jugendfreund Philoktet nimmt (nach manchen Quellen gemeinsam mit Theseus) am Argonautenzug teil und spielt später eine wesentliche Rolle im Trojanischen Krieg (er tötet am Ende Paris; seine Teilnahme ist eine göttliche Siegbedingung).


Zurück zu Fun

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 5 Gäste

cron