Ganz ehrlich gesagt werde auch ich den Eindruck nicht los, daß bei der Wertdiskussion "Manga + Anime" vs. "Weltliteratur a la Faust" Äpfel mit Birnen verglichen werden bzw, versucht wird, die Bananenmarktordnung auf Äpfel anzuwenden.
Die Darstellung von Inhalten durch textbegleitete Bilder ist IMHO nicht zu vergleichen mit der Inhaltsdarstellung auf der rein verbalen Ebene - weder von den Möglichkeiten noch von der Art der Rezeption her.
Das Ausmaß an Bilderzeugung im Kopf des Lesers, das für die Wortliteratur so ausschlaggebend ist, kann von einer bildbasierten Literatur so nicht erbracht werden, dafür gewinnt hier die technische Umsetzung in Form von Zeichenkunst an Gewicht.
Man kann also Manga mit Manga vergleichen und Manga mit anderen Formen der Comics - und wird dabei vielleicht im ostasiatischen Raum mit einer eigenständigen Comic-Tradition (eben in Form der Manga, Manhua, Manwa,...) auch historische Vergleiche und Werturteile gewinnen können. In Europa ist die Comictradition hingegen kürzer, was Vergleiche IMHO erschwert.
Eine historische Vergleichslinie könnte man - Konjunktiv!- vielleicht zur mittelalterlichen Fensterglaskunst ziehen. Diese entstand eben vor dem Hintergrund, einer nicht lesen könnenden Bevölkerung den Inhalt der Bibel näher zu bringen. Allerdings ist hier eben natürlicherweise der thematische Rahmen eng begrenzt, wogegen eine große thematische und intentionale Vielfalt der Manga steht, von bewußter Unterhaltung bis zu bewußter Qualität.
Und es steht damit intentional Aufklärungsmedium gegen Unterhaltungsmedium.
Allerdings stellt auch die Malerei eines Brueghel, Dürer, oder Turner ein Unterhaltungsmedium dar, sie bedient mit Ipsis Worten
nur das Gemüt, nicht den Intellekt
ohne daß dieser ihren Wert geringer schätzen würde, denke ich
Ich hege ferner eine gewisse Abneigung gegen Vergleiche a la "die Literatur des 20. JH / einer anderen engeren oder weiteren Zeiteinheit vs "die literarische Hochkultur" in Form im wesentlichen des 19. JH.
Aus folgenden Gründen:
Die Bedingungen des 19.JH waren einzigartig und deutlich anders als die heutigen - erstmals gab es eine breite Schicht der Bevölkerung, die als aufgeklärtes Bürgertum Zeit und Geld verfügbar hatte, um Literatur konsumieren zu können, und ohne Fernsehen, Radio u.ä. wenig andere Alternativen hatte, diese Freizeit zu füllen.
Und eine rapide um sich greifende Industrialisierung erzeugte nie gekannte soziale Umgestaltungen, Bevölkerungsumverteilungen, stellte jahrhundertelang stabile Verhältnisse in Frage und gab Raum für Utopien des Neuen.
Mithin gab es Stoff in nie dagewesener Fülle auf einem Feld, das auch schon politisch differenziert war, wobei die politische Komponente heute gegenüber der Literatur des 19. JH weniger bewertungsrelevant ist als gegenüber der Literatur des 20.JH (Mein Schulleiter kritisierte z.B. an Grass, daß dieser zu links sei - und damit sein Werk stark überschätzt.)
Die beiden Literaturen werden also gleichsam durch verschiedene Brillen betrachtet.
Der neue Markt hatte der allerdings auch schon mit wechselnden Angebotsqualitäten zu leben.
Wenn wir heute das 19.JH als die Zeit der großen Literatur ansehen, übersehen wir eben den Berg an geringer Qualität, der ebenso produziert wurde, uns jedoch nicht mehr erreichte.
Wenn Ipsi schreibt:
Im Vergleich zu früheren Klassikern haben Mangas und Hentai nur den Nachteil, daß sie in eine Zeit hinein produziert werden, in denen Idee, Gehalt und Stil eines Werkes völlig belanglos sind, solange es sich verkauft - und auch belanglos sind, wenn es sich nicht verkauft.Gutverkäuflicher Schwachsinn und schlechtverkäufliches Genie, sind sozusagen der Hintergrund, vor dem Mangas sich entfalten müssen.
vergleicht er eben den Gesamtkomplex "Manga" mit einer nur scheinobjektiv generierten Selektion aus dem Komplex "Literatur, vornehmlich des 19.JH".
Zu fragen ist auch, ob nicht auch bereits in der "guten alten Zeit" Idee, Gehalt und Stil belanglos waren, so lange sich das Werk verkaufte. Verlage sind Wirtschaftsunternehmen, damals wie heute, und literarische Kunst mußte sich schon früher unter den Bedingungen des Marktes behaupten.
Ipsis Differenzierung zwischen Manga und hentai erscheint mir nicht schlüssig. Dann müßten wir auch bei der Weltliteratur, mit der hier ja der Vergleich angestrebt wird, Werke mit sexuellem Anstrich vom Rest trennen, was aber neben sich dann ergebenden Fragen der Grenzziehung qualitativ in keiner Weise begründet ist.