Kernfrage des Ganzen war: Ist simpel gestrickte, eingängige Kommerz-Popmusik wirklich weniger wert als anspruchsvolle Werke, die aufwändig komponiert und produziert sind?
Meine Meinung dazu: Grundsätzlich nein – wenn seichter Kommerzpop gewisse Kriterien erfüllt, hat er für mich einen mindestens genauso hohen Stellenwert wie die Musik, die angebliche Musikkenner oft als das Maß aller Dinge deklarieren.
Und das Zauberwort hierbei lautet ganz simpel: Melodie!
Die Melodie eines Songs ist für mich nach wie vor das Wichtigste überhaupt – wenn sich Musik nicht sofort harmonisch in meine Gehörgänge schleicht, hat sie es bei mir schon mal sehr schwer. Glücklicherweise bekommt man als jemand, der viel Musik hört, irgendwann ein Gespür dafür, in welchen Fällen sich ausgiebigeres und wiederholtes Hören lohnt, damit man auch nicht sofort eingängige Produktionen irgendwann zu schätzen weiß.
Doch dies hat natürlich auch irgendwo seine Grenzen, und diese werden eben durch den persönlichen Geschmack gesetzt.
Wie kontrovers dieses Thema diskutiert werden kann, macht z. B. die Musik von Modern Talking deutlich. Für viele gelten die Produktionen von Dieter Bohlen ja geradezu als Teufelswerk, das man nach deren Ansicht gesellschaftlich ächten sollte.
Bekanntlich stoßen sich die Kritiker ja dabei meist vor allem an der ewig gleichen Machart, die den Modern Talking-Titeln zugrunde liegt ("Medley auf Raten", wie das mal jemand genannt hat). Auch das Image von Bohlen und Anders selber gab und gibt denjenigen, die sie nicht leiden können, immer wieder wunderbare Munition in die Hände.
Allerdings fällt mir im Gegensatz dazu ein Satz ein, den Thomas Gottschalk vor einiger Zeit in einem Interview mal aussprach: "Man kann an der Modern Talking-Mukke so viel herumkritteln, wie man will – aber wenn mehrere Millionen Menschen über etliche Jahre hinweg deren Platten kaufen und dafür sorgen, dass sie mittlerweile zu den weltweit erfolgreichsten Pop-Acts gehören, muss da doch irgendwas dran sein..."
Was da "dran" ist, liegt eigentlich auf der Hand: Die erfolgreichen Modern Talking-Stücke haben allesamt einen immens hohen Ohrwurm-Faktor. Und da greift auch der Vorwurf nicht, dass das ja alles gleich klänge: Natürlich sind Beat, Sound und Vocals jedes Mal quasi identisch – aber das Entscheidende an einem Pop-Song, nämlich die Melodie, ist es eben nicht!
Und deshalb gilt für mich: Jemand, der es schafft, Melodien zu kreieren, die sich sofort in den Köpfen von Millionen Menschen festsetzen und dort quasi unauslöschlichen Bestand haben, verdient mindestens genauso viel Respekt wie jemand, der sich den "anspruchsvollen" Klängen widmet, sozialkritische Texte zusammenreimt und fünf Instrumente beherrscht.
Voraussetzung für meine Wertschätzung seichter Pop-Lala ist allerdings, dass sie eben sofort ins Ohr geht und vor allem selbst geschaffen wurde und nicht geklaut ist.
Genau hier liegen im Übrigen die Unterschiede zwischen z. B. Modern Talking und der furchtbaren Sülze, die seit einigen Jahren die Charts durchsetzt: Während einem die Melodien der Bohlen-Tracks zumeist sofort im Ohr kleben bleiben, muss man einem die Mukke von heute ersma dutzendfach per VIVA, MTV oder Supermarktbeschallung in die Gehörgänge prügeln, bis sie halbwegs bleibenden Eindruck hinterlässt.
Und da die heutigen Melodien eben kaum noch jemanden hinterm Ofen hervorlocken, setzen die ganzen Marketingstrategen gerade bei Kommerz-Pop fast ausschließlich auf die visuelle Präsentation, was dann auch die Schwemme dieser ganzen gelackten Boy- und Girlgroups erklärt – und deren Musik klingt dann wirklich ständig gleich, weil einem jeder Titel zum einen Ohr rein- und zum andern wieder rausgeht!
Nun gibt es ja Zeitgenossen, die bei Kritik an aktueller Charts-Mukke stets darauf verweisen, dass es ja nun weiß Gott auch noch Musik abseits der Hitparaden gibt. Damit haben sie Recht – und doch wieder nicht: Der Zustand der Popwelt und der Gesellschaft lässt sich trotz einiger Widrigkeiten und Manipulationen rund um die Charts dennoch genau von diesen ablesen.
Und so ist es nur logisch, dass in einer Welt, in der nur noch der schnelle Erfolg zählt und nichts von dauerhaftem Bestand ist, auch in den Musik-Charts zum größten Teil Wegwerfprodukte zu finden sind, nach denen schon nach kurzer Zeit kein Hahn mehr kräht. Beweisen kann ich's nicht, aber nach meinem Gefühl hat's noch vor 15 Jahren längst nicht so viele One-Hit-Wonder gegeben wie heutzutage.
Dazu kommt, dass mittlerweile ein derart immens hoher Anteil der kommerziell erfolgreichen Titel auf altem Material basiert, dass man sich mittlerweile vorkommt, als wäre man in einer Zeitschleife gefangen...
Aber zurück zum Thema Ohrwürmer: Besonders witzig finde ich es, wenn Leute, die bestimmte Interpreten angeblich auf den Tod nicht leiden können, auf einmal ganz unbewusst deren Melodien vor sich her pfeifen. Vor längerer Zeit beispielsweise passiert bei einem Kumpel, der hauptsächlich House-Musik hört und "diese ganze Charts-Scheiße" eigentlich hasst wie die Pest – aber das "Win The Race" von Modern Talking nicht aus seinem Kopp bekam...

Als ich daraufhin fragte, ob ihm dieser Titel im Unterbewusstsein nicht vielleicht doch irgendwie gefalle, meinte er nach einigem argumentativen Hin und Her: "Wahrscheinlich ja, aber mich ekelt der Gedanke an, dass das Teil von diesen beiden Schwachmaten stammt!"
Mit anderen Worten: Wäre diese Melodie von einem in seinen Augen hochwertigeren Künstler geschaffen worden, würde sein Urteil mit Sicherheit anders ausfallen. Aber da ja nicht sein kann, was nicht sein darf, wird mit Pawlowschem Reflex zunächst abfällig kommentiert - ohne zu bemerken, dass man dem Charme dieses Ohrwurms in gewisser Hinsicht selbst schon verfallen ist…

Tja, und beim Thema "Ohrwürmer" landet man dann irgendwann zwingend auch bei den unerreichten Weltmeistern dieser Disziplin: ABBA. Für mich sind die vier Schweden schlicht und ergreifend die beste Pop-Band aller Zeiten; rein objektiv betrachtet, gebührt dieser Titel aufgrund der Verkaufszahlen und der innovativen Kraft ihrer damaligen Produktionen zwar wohl den Beatles, aber die Melodien und Harmonien der ABBA-Songs sind für mein Empfinden auch von den vier Pilzköpfen nicht erreicht worden.
Ein englischer Musik-Jounalist hat die Bedeutung ABBAs für die Popwelt mal ganz treffend beschrieben: "Wenn ein Alien auf der Erde landen und fragen würde: 'Was ist Popmusik'?, würde ich ihm einfach ABBA-Platten in die Hand drücken – und sonst nichts. ABBA sind das nicht weiter teilbare Atom, der Kern dessen, was man unter Pop-Musik versteht."
Interessant an ABBA ist im Nachhinein vor allem der Wandel ihres Images. In den 70ern gab es – grob umrissen - häufig eine versnobte Trennung in der Musikwelt: Entweder man hörte Rock-Musik à la Queen oder Led Zeppelin – oder eben Pop wie ABBA. Bei Anhängern der härteren Gangart galt die Schweden-Truppe nicht selten als Feindbild Nummer Eins; dieser zuckersüße Sound hatte nichts Revolutionäres, nichts Rebellisches, nichts Verruchtes – sowas konnte, sowas durfte vielen damaligen Zeitgenossen einfach nicht gefallen...
Und heute? Mittlerweile ist die Zahl der Musiker, die ABBA damals am liebsten geschlachtet hätten und ihnen heutzutage tiefen Respekt zollen, schier endlos. Wenn ihnen ein Malcolm McLaren, der Macher der Sex Pistols, geradezu ehrfurchtsvolle Kommentare widmet, mutet das auf den ersten Blick vielleicht absurd an – zeigt aber, dass für echte Liebhaber der Musik auch harmonischer, eingängiger Alltags-Pop einen hohen Stellenwert haben kann.
Für mich sind versnobte Trennungen jeglicher Art in der Musik schon immer kein Thema gewesen. Das mag daran liegen, dass ich im Laufe meiner Kindheit und Jugend die unterschiedlichsten Stile und Genres mitbekommen und deren Highlights zu schätzen gelernt habe. Ich muss auch kein Anhänger gewisser Lebensphilosophien sein, um Gefallen an bestimmten Interpreten zu finden – entweder es macht beim Hören "klick" oder nicht. Viele angebliche Musik-Liebhaber sind mir in dieser Hinsicht viel zu verkopft.
Außerdem halte ich es für wichtig, bei der Beurteilung von Künstlern eine objektive und eine subjektive Betrachtung gelten zu lassen: Es gibt Interpreten, deren Werke mir zum größten Teil einfach nicht gefallen – aber von denen ich weiß und sage, dass es trotzdem erstklassige Musiker sind. Beispiele hierfür sind Prince, Oasis oder The Cure – alles Könner ihres Fachs, nur eben nicht mein Geschmack!
Und wenn man zu dieser differenzierten Beurteilung in der Lage ist, wird man auch ABBA den entsprechenden Respekt entgegenbringen können. Wenn mir jemand sagt, dass ihm diese Musik nicht gefällt, ist das völlig in Ordnung - wenn aber jemand meint, dass sei einfach nur "beschissene Musik", dann frage ich mich, welche Kriterien er zur Beurteilung von Musik heranzieht...
In diesem Zusammenhang übrigens nochmals eine kurze Bemerkung zu Dieter Bohlen: Ich habe absolutes Verständnis dafür, wenn manch einer 'nen Kotzreiz bei dessen Produktionen bekommt – dennoch sollte man zumindest seine Fähigkeit anerkennen, absolut eingängige Popmucke komponieren zu können. Und als Wegwerfprodukte kann man zumindest seine älteren Hits schon gar nicht bezeichnen: Da kann man seinen Allerwertesten drauf verwetten, dass die Melodien von "You're My Heart, You're My Soul" oder "Cheri Cheri Lady" noch viele Jahre überleben werden (soll jetzt keine Drohung sein

Irgendwo habe ich mal den Kommentar gelesen: "Sorry für Modern Talking – das haben wir wirklich nicht gewollt!". Tja, wenn "wir" das nicht gewollt haben – wer hat dann all die Platten gekauft? Ob die Bohlen-Hasser es nun wahrhaben wollen oder nicht: Modern Talking gehört zu den 80ern wie die Mafia zu Italien...

Im Übrigen würde ich auch niemals in einer Welt leben wollen, in der es nur anspruchsvolle Musik gibt. Musik ist doch für die unterschiedlichsten Stimmungen gedacht – und wer fühlt sich schon immer gleich? Es gibt eben oft genug Momente, wo man einfach mal ohne großes Nachdenken ganz unbeschwert mitsingen und –pfeifen möchte – und dafür taugt seichte Pop-Lala nun mal am besten. Und wenn einem danach ist, kann man sich ja dann getrost wieder der anspruchsvolleren Variante widmen – ich frage mich, warum sich das für manch einen offensichtlich ausschließt...
Nochmals zurück zu ABBA: Als Björn Ulvaeus einst in der Talkshow von Beckmann zu Gast war, ist mir an einer Stelle des Gespräches förmlich die Kinnlade heruntergefallen. Dass ABBA im Laufe der letzten 15 Jahre gelegentlich millionenschwere Angebote für Revival-Auftritte bekommen haben, wusste ich – aber dass ihnen vor einigen Jahren für eine einjährige Comeback-Tournee mit ca. 100 Konzerten die Summe von einer Milliarde Dollar (in Zahlen: 1.000.000.000!) geboten wurde, war mir nicht bekannt. Eine Milliarde Dollar – wenn es noch eines weiteren Beweises bedurfte, welchen Stellenwert die Band für die Musikwelt hat, dürfte er spätestens hiermit erbracht worden sein...

Umso bewunderswerter, dass sie selbst dieses unvorstellbare, aber seriöse Angebot ausgeschlagen haben – das zeugt von wahrer Größe. Wenn man sich mal anschaut, wie viele Altstars schon vor etlichen Jahren besser aufgehört hätten – da ist eine solche Einstellung in der Branche eine wohltuende Ausnahme!
Als vor längerer Zeit im Zusammenhang mit dem in Deutschland gestarten Musical "Mamma Mia" einige ABBA-Specials im Fernsehen gezeigt wurden, kam in mir die große Wehmut auf – unweigerlich machte sich dieses "Früher war alles besser"-Gefühl breit. In diesem Kontext dürfte der Spruch aber wirklich stimmen: Für mich haben ABBA nach ihrem Ende 1982 ein Loch in der Popwelt hinterlassen, das bis heute nicht mal ansatzweise geschlossen wurde.
Ich höre mittlerweile Musik diverser Jahrzehnte und Stilarten – aber die langfristige Faszination der ABBA-Produktionen erreicht nach meinem Empfinden kein anderer Pop-Act. Das liegt vor allem daran, dass die Musik der vier Schweden zum größten Teil eine unbeschwert-fröhliche Ausstrahlung hat, wie man sie in der Pop-Welt seit Anfang der 80er nicht mehr findet; seit dieser Zeit muss alles irgendwie cool, revolutionär, trendy, hart, funky oder sonstwas sein. Diese eigentlich sehr affektierte Attitüde der Popmusik wird schon lange als "normal" empfunden; es gibt mittlerweile kaum noch jemanden, der von "schöner" Musik spricht – denn er würde in aller Regel sofort verlacht werden...
Bevor ich um eure Meinung bitte, zur Klarstellung noch eines: Ich bin kein Anhänger von Modern Talking, sondern kann mir lediglich um die zehn Titel von ihnen hin und wieder ganz gut anhören. Bezüglich ABBA bezeichne ich mich ausdrücklich als Sympathisant, da ich echtes Fantum zutiefst verabscheue und mit solchen Leuten wenig gemein habe.
Zudem sei darauf hingewiesen, dass ich Modern Talking nicht auf eine Stufe mit ABBA stelle, auch wenn sich mein Beitrag auf diese beiden Beispiele konzentriert. Hinsichtlich Vielfältigkeit, Ideenreichtum, Arrangement, Produktion und musikalischer Authenzität sind die Schwedem unserem "Diedää" ganze Pop-Galaxien voraus…
Wie ist eure Sicht der Dinge?