Zur Bedeutung von Komponisten

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Ipsissimus
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Mo 29. Jun 2009, 21:46 - Beitrag #1

Abgetrennt aus dem thread "Englische Kultur oder Unkultur?"


Zitat von Lykurg:Aus irgendwelchen mir unbekannten Gründen haben sie es zwischen Purcell und Elgar 200 Jahre lang nicht geschafft, einen einzigen bedeutenden Komponisten hervorzubringen (also weder im Spätbarock, noch in Klassik und Frühromantik, alles nur Importware)... Merkwürdiges Land.

- in Modifizierung von Lykurg: sie haben imo nach Purcell überhaupt keinen Komponisten von Rang mehr hervorgebracht

janw
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Mo 29. Jun 2009, 23:44 - Beitrag #2

Zitat von Lykurg:Aus irgendwelchen mir unbekannten Gründen haben sie es zwischen Purcell und Elgar 200 Jahre lang nicht geschafft, einen einzigen bedeutenden Komponisten hervorzubringen (also weder im Spätbarock, noch in Klassik und Frühromantik, alles nur Importware)... Merkwürdiges Land.

Was ist mit Dunstable, "etwas" vor Purcell, was ist mit Dowland? Kann man Händel einfach abtun, weil er nach England eingewandert ist - auch wenn er dort mindestens die Hälfte seines Schaffens produziert hat?

Lykurg
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Di 30. Jun 2009, 01:16 - Beitrag #3

Wie gesagt waren beide (deutlich) vor Purcell; in der Lücke (zwischen Purcells Tod 1695 und Elgars Geburt 1857) kam aber nur mittelmäßiges, im späteren 19. und frühen 20. Jh. mehrere, über die man sicherlich streiten kann (Vaughan-Williams, Holst, Stanford u.a.), dann aber auch ein unzweifelhafter Meister (Ipsissimus, vielleicht sollten wir analog hierzu einen Britten-Thread aufmachen?^^) und ein paar spannende Neutöner.

Händel und Haydn waren trotz längerer Aufenthalte (und in Händels Fall zugegebenermaßen auch angenommener Staatsbürgerschaft) keine Briten im eigentlichen Sinne, ebensowenig wie Froberger, Mendelssohn und die vielen anderen Kontinentaleuropäer, die halfen, dem englischen Hof und der anglikanischen Kirche das nötige Maß an musikalischer Unterhaltung und Repräsentation zu verschaffen. Hör dir z.B. im "Messias" die Vertonung von "As we like sheep" an - er hat anscheinend auch nach 30 Jahren in England nicht bemerkt, daß es leicht mißverständlich sein kann, wenn man vor der Fortsetzung "...have gone astray" eine so lange Pause macht wie ich gerade - und es prompt so komponiert.^^ - Natürlich hat Händel sich in England anders entwickelt als er es anderswo getan hätte, hat für lokale Anlässe komponiert, gelegentlich auch britische Formen und Melodien verarbeitet. Das ändert aber nichts an seiner Herkunft, musikalisch geprägt haben ihn Halle, Hamburg und Italien.

Ipsissimus
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Di 30. Jun 2009, 11:45 - Beitrag #4

nee, nee, nee^^ Elgar war kein Großer^^ dann eher noch Benjamin Britten, etwas später^^ Lykurg, das können wir gerne disputieren^^

Traitor
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Di 30. Jun 2009, 23:13 - Beitrag #5

Ipsissimus, Elgar erscheint mir zumindest als handwerklich sehr gut. Wenn ich als Banause ihm jetzt auch fast ausversehen "Rule, Britannia" zu Unrecht gutgeschrieben hätte, zumindest die Pomp & Circumstance Marches sind sicher nicht zu selbigem ein Klassiker. Ob er einflussreich war, kann ich nicht beurteilen; Mangel daran würde ich vielleicht als Ausschlusskriterium für "Größe" gelten lassen.

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Mi 1. Jul 2009, 10:21 - Beitrag #6

Ipsissimus, Elgar erscheint mir zumindest als handwerklich sehr gut. Wenn ich als Banause ihm jetzt auch fast ausversehen "Rule, Britannia" zu Unrecht gutgeschrieben hätte, zumindest die Pomp & Circumstance Marches sind sicher nicht zu selbigem ein Klassiker. Ob er einflussreich war, kann ich nicht beurteilen; Mangel daran würde ich vielleicht als Ausschlusskriterium für "Größe" gelten lassen.


dass er handwerklich gut war, bezweifele ich überhaupt nicht. Nur, handwerklich gute, selbst meisterliche Komponisten, finden sich entlang der gesamten Musikgeschichte zigtausende. Wenngleich "Größe" eine suspekte Kategorie der musikalischen Wertzuschreibung darstellt, kann man doch feststellen, dass als "groß" angepriesene Komponisten normalerweise entweder die musikalische Sprache einen bedeutenden Schritt weiterentwickelt haben (z.B. der "gebrochene" Satz der Klassiker) oder aber einen absoluten Schlusspunkt hinter eine ganze Epoche gesetzt haben (nach Bach war es unmöglich, noch in der barocken Sprache zu schreiben und dabei so zu tun, als käme da noch was Neues). In dem Sinne war Elgar vielleicht ein meisterlicher Handwerker, aber sicher kein "großer" Komponist; er hat weder etwas zum Abschluss gebracht, noch über sich hinaus gewiesen.

Lykurg
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Mi 1. Jul 2009, 11:47 - Beitrag #7

Ipsissimus, wäre dann nicht dirzufolge ein großer Komponist bevorzugt an einer Epochengrenze zu erwarten? Das finde ich schwierig, schon wegen der eher zufälligen Etablierung des einen oder anderen Begriffs und deren gegenwärtiger Teilrevision (Übergangszeiten etc.). Sozialgeschichtlich ließen sich teilweise stilistische Veränderungen auch historisch begründen, damit wäre die Größe von Komponisten mehr das Produkt ihrer Zeit als ihres Könnens... Bild - Zur eher mittleren Größe Elgars stimme ich dir zu, er war aber um Klassen besser als das wenige, was mir aus dem 'Loch' dazwischen bekannt ist.

Ipsissimus
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Mi 1. Jul 2009, 12:22 - Beitrag #8

Lykurg, eine musikwissenschaftlich wirklich stichhaltige und belastbare Begründung für die Größe eines Komponisten dürfte so einfach gar nicht zu formulieren sein, jedenfalls nicht, wenn man Willkürlichkeiten und Zufälligkeiten der Rezeptionsgeschichte gänzlich vermeiden will.

Warum ist Sainte Colombe musikwissenschaftlich über 200 Jahre in der Bedeutungslosigkeit verschwunden, obwohl er kompositorisch wahrscheinlich der Einzige ist, der mit Johann Sebastian auf Augenhöhe angesiedelt ist? Warum werden Schein und Scheidt nicht in den Listen der "Großen" genannt? Warum nicht Marin Marais, warum nicht Boccerini, der tatsächliche Erfinder des Streichquartetts? Manchmal spielt sicher nationales Pathos eine Rolle, zumindest Letzterer wird in Deutschland außerhalb esoterischer Fachleutezirkel schlichtweg nicht zur Kenntnis genommen. Und die Ignoranz Sainte Colombe gegenüber ist einfach nur ein Skandal, oder sollte ich sagen ein blinder Fleck innerhalb der deutschen Musikwissenschaft.

Ich denke jedenfalls, dass diese ganze Wertungsgedöns einer energischen Revision bedarf, die frei von nationalem Pathos zu halten wäre. Kategorien wie Originalität, Komplexität, Wirkung u.dgl. müssten viel stärker berücksichtigt werden, und ganz am Ende kann dann meinetwegen kurz die Rezeptionsgeschichte erwähnt werden^^ derzeit verkauft sich die Legende vom Genie besser als tatsächliches Können^^

damit wäre die Größe von Komponisten mehr das Produkt ihrer Zeit als ihres Könnens...


ich bin mir dessen ziemlich sicher, dass kein einziger Komponist ohne Erklärung seiner Zeit angemessen erklärt werden kann. Woher haben sie denn ihr Können, wenn nicht von ihrer Zeit?

Lykurg
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Mi 1. Jul 2009, 12:53 - Beitrag #9

Schlichtweg ja^^
und natürlich kann man einen Komponisten nicht aus seiner Zeit herauslösen, das meine ich so auch nicht, nur, daß individuelle Züge meines Erachtens stärker wiegen sollten als die Ansiedlung innerhalb einer Epoche - aber ohnehin ist, wie du richtig anmeldest, die ganze "Größe" ein höchst fragiles Gebilde.^^

Sainte-Colombe war mir übrigens nicht bekannt, was einerseits zu deiner Darstellung paßt (ich hatte mal von dem Film gehört, der Name war mir aber entfallen). Andererseits gewinne ich anhand von NewGrove und MGG (auch bei aller Vorsicht gegenüber 'marginalisierenden' Tendenzen; den Unterschied zwischen den beiden Artikeln z.B. in der Bewertung des erhaltenen Werks habe ich sehr wohl bemerkt; für ein Quellenstudium fehlt mir die Zeit) den Eindruck, daß du ihn überschätzt. Er scheint mir eingeschränkt auf sein Instrument, für das er zweifellos bedeutende, unkonventionelle Musik geschaffen hat (und das er technisch verbesserte - mit entsprechender Konsequenz für andere Saiteninstrumente), obendrein als Virtuose und Lehrer zu berücksichtigen. Die allumfassende kompositorische Leistung eines Bach, den musikalischen Kosmos zu durchdringen und zu verändern, sehe ich dabei aber nicht.

Ipsissimus
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Mi 1. Jul 2009, 13:43 - Beitrag #10

nun gut^^ ich gebe zu, mein Faible für Jordi Savall verleitet mich manchmal ein bisschen, Sainte Colombes Bedeutung überzustrapazieren^^ zweifellos reicht er an Bach nicht heran, wenn man die Anzahl seiner Kompositionen und deren Streubreite betrachtet. Aber ein Chopin wird bei ähnlicher Einseitigkeit seiner Instrumentenauswahl durchaus zu den Großen gezählt^^

ich denke nicht, dass individuelle Züge prinzipiell stärker wiegen sollten, obwohl das im Einzelfall durchaus trotzdem der Fall sein kann. Was mir vorschwebt ist eher, das Verhältnis zwischen Zeitgeist und individuellen Eigenarten zu beleuchten. Der Zeitgeist gibt ja immer den Hintergrund ab, vor dem sich die Blüte erst in ganzer Schönheit entfalten - oder in den sie sich in Vollendung einfügen kann. Dieses Verhältnis gilt es meines Erachtens auszuloten, wenn man von kategorischen Wertzuweisungen weg will und die "Größe" eines Komponisten auch in ihrer Art erfassen möchte. Manche sind groß in der Art, wie sie sich einfügen, andere in der Art, wie sie sich absetzen.


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