Jethro Tull

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Traitor
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Mi 17. Nov 2010, 11:37 - Beitrag #1

Jethro Tull

Jetzt, wo der bekennende Fan Jan wieder da ist, lohnt sich ja der Thread endlich mal so richtig.

Jethro Tull, Urgestein der britischen Rockmusik-Szene. Wobei Rock sie sehr ungenau beschreibt, genauer irgendetwas zwischen Folk und Progressive, mit Einschlägen von Hard und Blues und was weiß ich. Beste Kurzbeschreibung: "Die mit der Flöte." :D

Ich muss zugeben, dass Tull für mich ein "acquired taste" war. Die ersten paar Reinhören haben mir wenig gegeben, ich musste schon mehrfach die Alben durchhören, bis ich den richtigen Zugang fand.

Prog ist zwar seit Jahren mein Lieblingsgenre, aber mit Genesis, Yes und co. neige ich eher zur "helleren" Seite, während die "dunklere" (King Crimson, ELP, teils eben auch Tull) mir meist spontan nicht zusagt, sondern einige Einarbeitung voraussetzt.

Was genau meine ich mit "hell" und "dunkel"? Leicht, fröhlich, schnell vs. schwer, düster trifft es eigentlich gar nicht so richtig, dafür haben die Werke aller genannten Bands viel zu große Bandbreiten, und Tull ist oft sehr viel ironischer als die salbungsvollen Yes und damit ja eigentlich wieder eher "hell" in gewissem Sinne... Vielleicht trifft es "dicht" statt "dunkel" besser? Vielleicht ist es ein musiktheoretischer Unterschied, sicher nichts so generalisierendes wie Tonarten, aber irgendwo erkenne ich da eine stilistische Trennlinie, die ich nicht genau ausmachen kann.

Aber Subgenreaufsplittung soll ja nicht Thema des Threads sein, sondern Tull selbst. Die musikalische Virtuosität mit unkonventioneller Instrumentierung ist wirklich grandios, auch wenn ich die an sich tollen Flötensoli manchmal etwas übertrieben finde (auf "Beggar's Farm" wirkt sie z.B. gen Ende recht atemlos). Dazu Texte, die schön lyrisch sind, dabei weniger chaotisch als bei vielen anderen Prog-Bands.

Neben den bekanntesten Stücken wie "Aqualung", "Too Old to Rock'n'Roll" oder "Thick as a Brick" (Single-Version) sind meine besonderen Favoriten derzeit etwa "Black Sunday", "Inside", "Moths" oder "Orion".

Eben nante ich von "Thick as a Brick" nur die Single-Version, da die ganzes-Album-Version natürlich eine eigene Erwähnung verdient, zusammen mit dem äquivalenten "A Passion Play", das mich bisher aber weniger begeistern konnte. Besonders schön finde ich ja die Motivation hinterm Brick:
"If the critics want a concept album we'll give the mother of all concept albums and we'll make it so bombastic and so over the top."

Padreic
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Mi 17. Nov 2010, 11:59 - Beitrag #2

Vom Aqualung-Album ist mir 'Mother Goose' mindestens ebenso lieb wie 'Aqualung' selbst. Vom 'Stand up'-Album finde ich auf fast alles wirklich gut - textlich finde ich besonders 'Look into the sun' bemerkenswert.

Meinem Empfinden nach haben Jethro Tull was unglaublich sprödes an sich - kaum ein Song wirkt wirklich natürlich. Das liegt wohl unter anderem an dem Gesangsstil Ian Andersons, aber auch an der ganzen Rhythmik und Phrasierung. Gerade dies zwingt aber gerade den Hörer zu einer ungewöhnlichen Aufmerksamkeit. Gehört auf jeden Fall zu meinen erweiterten Lieblingen, die Band.

Bemerkenswert ist ja auch, dass sie sich nach einem Begründer der Agrarwissenschaften benannt haben...

janw
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Mi 17. Nov 2010, 22:35 - Beitrag #3

Ja, zu der Gruppe gäbe es viel zu sagen...ich fang mal mit etwas Allgemeinem an.
Ich habe die Gruppe kennen gelernt, als ich etwa 15 war, durch eine sehr vernudelte Kassettenaufnahme von "Thick as a Brick" und "Bursting Out", die mir ein paar ältere Freunde geliehen hatten.
(Mir fiel dann irgendwann auf, daß ersteres mir schon mal in einem Jugendbuch in einem Nebensatz untergekommen war, also schon ein Fall von kultureller Vermemung)
Ein paar Jahre später begann ich dann, die Platten zu sammeln. Bis auf "This Was", "Warchild" und "Stormwatch" habe ich sie bis 1980 komplett, danach habe ich die eine oder andere und die 20th Anniversary-Sammlung, aber insgesamt wurden sie mir zu modernistisch.

Tja, was sind sie für eine Gruppe, so eigentlich?
Rock trifft es sicher, Blues-Rock aber nur am Anfang und auch nicht wirklich gewollt, z.B. was die Instrumentierung betrifft.
Progressive Rock...mir scheint das bisweilen eine Sammelkiste für alles zu sein, was sonst nicht wirklich einzuordnen ist, wie wäre es mit Independent?^^
Ich würde sie als eine Gruppe beschreiben, die sich um derartige Zuschreibungen immer wenig geschert hat, aber doch die allgemeinen Stilwendungen mit verfolgt hat, teils mit der Folge einer Umstellung im Fan-Kreis. Thematisch kreisen sie eigentlich sehr um England, sehr viele der Texte nehmen englische Befindlichkeiten und Eigenheiten aufs Korn, teils auch auf weltpolitische Wendungen eingehend - iirc aber ohne den Anspruch, politisch zu sein.
Vielleicht Monty Python in Rock?^^
Einer der Unterschiede zu anderen Progressive-Gruppen - bzw. zu anderen Rockbands generell - ist wohl die Ablehnung von Drogen, in einem seiner Interviews hat Ian Anderson auch eine recht dezidierte Ablehnung von Religionen und ähnlich vereinnahmenden Weltanschauungen zum Ausdruck gebracht, z.B. in "Cross-eyed Mary" und anderen Titeln kommt eine deutliche Opposition zur Anglikanischen Kirche zum Ausdruck.
Insgesamt bilden die Platten in meinen Augen so etwas wie ein kleines Universum, eine Beschreibung ihrer Zeit aus sehr verschiedenen Blickwinkeln.

Traitor
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Do 18. Nov 2010, 00:28 - Beitrag #4

@Padreic: "Mother Goose" war mir bisher nicht aktiv in Erinnerung geblieben, vom fraglichen Album sind das eher noch "Cross-Eyed Mary", "Hymn 43" und "Locomotive Breath". Werde mir die Gans aber nochmal intensiver anhören.

Spröde, das Wort würde ich nicht benutzen, aber vielleicht geht es in die Richtung dessen, was ich zu formulieren versuchte. "Nicht wirklich natürlich" ist zumindest ein Teilaspekt davon. Und ja, das macht sie nicht nur etwas schwierig in der Annäherung, sondern auch doppelt faszinierend.

Die Agrar-Benennung war ein erstes Prog-Element, bevor sie Prog wurden, würde ich sagen. ;)

@Jan:
bis 1980 komplett, danach habe ich die eine oder andere und die 20th Anniversary-Sammlung, aber insgesamt wurden sie mir zu modernistisch.
Auch nach 1980 haben sie noch einiges produziert, was mir richtig gut gefällt, u.a. "Black Sunday", "And Further On", "Fallen On Hard Times" oder "Broadsword". Eine starke stilistische Änderung ist aber unverkennbar, weniger altmodische Instrumentierung und weniger proggige Spielereien.
Progressive Rock...mir scheint das bisweilen eine Sammelkiste für alles zu sein, was sonst nicht wirklich einzuordnen ist, wie wäre es mit Independent?^^
Independent schonmal nicht, die Bezeichnung reklamiert schon eine noch weit diffusere Stilrichtung der 90er und 2000er. ;) Prog ist meines Erachtens eine, zumindest im Vergleich zu vielen anderen Genre-Bezeichnungen, halbwegs gut eingrenzbare Bezeichnung. Als große Gemeinsamkeiten nennen würde ich die Intention, über Pop hinausgehende und mit Klassik konkurrierende Kunst auf Rock-Basis zu schaffen, beim gleichzeitigen Festhalten an eher ohrenfreundlicher Melodik; letzteres als Abgrenzung zu Metal und hard Hard Rock. Experimentierfreude in Form, Länge und Instrumentierung folgt da recht automatisch, und auch Tulls ironischer Ton und Englandbezug sind beispielsweise zu Genesis sehr ähnlich.
Und sogar die starke Stiländerung im Laufe der Jahre ist prog-typisch, oder besser gesagt, Prog-Band-typisch, denn Genesis oder Yes waren gegen Ende ihrer Stiltransformation dann irgendwann eben kein Prog mehr.
eine Beschreibung ihrer Zeit aus sehr verschiedenen Blickwinkeln.
Dafür, das Tull-Opus primär als entstehungszeitbezogen zu interpretieren, enthält es meines Erachtens deutlich zu viele Stücke mit historischem, Fantasy- oder abstraktem Bezug. Manche Stücke atmen aber natürlich sehr deutlich den Geist ihrer Zeit.

Ach ja, ein Aspekt, den ich im Eröffnungspost ansprechen wollte, aber vergaß: welche anderen Bands kommen Tull wohl am nächsten? Die Verbindung von Prog und englischem Folk finde ich bisher noch bei Gentle Giant (Einstiegstipps: "The Advent Of Panurge", "Raconteur Troubadour", "Take Me"), Gryphon ("The Unquiet Grave", "Spring Song") und Barclay James Harvest ("Galadriel", "Mocking Bird"). Die alle sind im eingangs angeschwafelten Sinne aber viel leichter-heller als Tull. Gerade diese auf den ersten Blick so widersprüchliche Verbindung aus Folk-Nähe und intensiver, rockiger "Dunkelheit" dürfte es vielleicht sein, die sie so einmalig macht.


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