Normalisierung klassischer Musik

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Traitor
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Di 14. Dez 2010, 15:00 - Beitrag #1

Abgetrennt aus "CD Brennen" mit folgenden Vorgängerbeiträgen:

Zitat von e-noon:Und, aus aktuellem Anlass, sollte ich "Lautstärke anpassen" auswählen, oder wird das dann unschöner Einheitsbrei?


Zitat von Lykurg:Bei nichtklassischen CDs dürfte trackweise normalisierte Lautstärke üblich sein (das bedeutet nur, daß jeweils überprüft wird, wo das Lautstärkemaximum des Tracks liegt, und dann ggf. der ganze Track soweit rauf- oder runtergepegelt wird, daß ein bestimmter Wert nicht überschritten wird). Bei klassischen Aufnahmen zyklischer Werke macht der Tonmeister das für die gesamte CD, aber nicht für den Einzeltrack, denn da wäre es blöd, wenn etwa eine zart besetzte Arie genauso laut wird wie das Orchestertutti im Satz danach...


@Lykurg: Ein gewisses Maß an Normalisierung innerhalb eines Tracks fände ich gerade bei Klassik aber oft hilfreich, da man sonst bei vielen Aufnahmen nur mit andauerndem Nachregeln zurechtkommt - bei häuslichem Abspielen gehen die leisen Partien viel mehr unter als bei Konzerten. Ich vermute, das dürfte an einer Mischung aus mangelnder Dynamik der Wiedergabeanlagen und Nichtnachbildung der Raumakustik des Aufnahmeraums liegen. Ist aber auf jeden Fall ein Punkt, in dem der Hörkomfort andere Anforderungen stellt als die Originaltreue.

Lykurg
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Di 14. Dez 2010, 18:01 - Beitrag #2

Traitor, das liegt an unterschiedlichen Klangvorstellungen und Hörererwartungen. Wer Klassikhören ernstmeint, sucht dafür einen geeigneten stillen Raum mit einer wirklich guten Anlage aus (oder gute abschirmende Kopfhörer). Dynamik ist ein zu zentraler Bestandteil klassischer Musik, um weggeregelt zu werden (auch wenn das für Aufnahmen bereits im großen Stil gemacht wird; auch deshalb die unersetzliche Konzerterfahrung, die ja auch eben einen sehr ruhiges Auditorium voraussetzt).
Moderne U-Musik ist dagegen dynamisch weitgehend konstant (Hüllenkurvenvergleiche sind da schon witzig...), sie eignet sich deswegen sehr viel besser als Hintergrundbeschallung auch lauter Gespräche und in lauten Arbeitsumgebungen.

Mit herkömmlicher Software meint Normalisieren tatsächlich nur, wie von mir beschrieben, Suche des größten Amplitudenmaximums und entsprechende Verstärkung/Schwächung des Gesamtsignals (damit keine Übersteuerung auftritt und man die Aufnahme nicht zu sehr verstärken muß). Das, was du meinst, wird bei Aufnahmen, je poppiger der Anwendungsbereich ist, desto stärker angewandt; auch Radiosender entfernen bei/vor der Sendung einen großen Teil des dynamischen Spektrums, damit man weichgespülte Klassik auch beim Autofahren hören kann. Für Puristen ist das allerdings ein rotes Tuch.

janw
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Di 14. Dez 2010, 18:20 - Beitrag #3

Lykurg, sollte man da nicht zwischen Klassik und echter ernster Musik unterscheiden?^^im Barock saß doch niemand im Konzertsaal!

Lykurg
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Di 14. Dez 2010, 18:44 - Beitrag #4

Ortsbedingt, genre- und anlaßspezifisch ausdifferenziert; etwa bei musikalischem Mitwirken der Herrscher selbst ist von konzentrierterem Zuhören auszugehen. Auf die Oper bezogen gilt unsere Konzerterwartung als monodirektionale, permanente Kommunikation bis ins 19. Jh. größtenteils noch nicht (wobei ich im vorigen Beitrag mit dem Begriff Klassik nur den Bereich, nicht die musikalische Epoche meinte); auch höfische Instrumentalmusik der Zeit ist großenteils als Hintergrundbeschallung verwendet worden, das ändert sich dann mit dem Aufkommen der Solokonzerte, die sich ja auch eine enorme Ausweitung der Dynamik zunutze machen.

Traitor
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Di 14. Dez 2010, 20:42 - Beitrag #5

Daraus habe ich erstmal einen eigenen Thread gemacht. Genaugenommen wäre es sogar zwei wert, diesen eher technischen und einen allgemeinen "Überheblichkeit der Anhänger klassischer Musik"... ;)

Der stille Raum als Grundanforderung ernsthaften Musikhörens ist klar, wir wollen weder über Mp3-Player in der U-Bahn noch über Party-Hintergrundmusik reden. Die "wirklich gute Anlage" dagegen ist schonmal ein großer Streitpunkt - eine ordentliche kann man verlangen, eine abartige für tausende Euro nicht. Im mittelguten Bereich muss es möglich sein, Klassik in ordentlicher Form zu hören - und da ist jetzt eben die Frage, was ist besser, etwas reduzierte Dynamik oder massiv reduzierter Hörgenuss durch Entgehen der leisen Stellen oder Schmerzen bei den lauten? Oder anders gefragt, wenn man letzteres wie ich für inakzeptabel hält, was ist besser, gezielt nachgeregelte Dynamik oder erratisches Knöpfchendrehen, das zu völlig verhunzter Dynamik und dazu noch starker Abgelenktheit führt?

Von "Wegregeln" der Dynamik zu reden, ist auch eine Überspitzung, analog zu der, zu behaupten, jede Kontraständerung eines Photos würde dies sofort in Schwarz-Weiß konvertieren. Was spricht so massiv dagegen, die leisesten Stellen etwas anzuheben, die lautesten etwas abzusenken, und alles dazwischen treu (also vermutlich komplizierter als linear)?

Konstantes soll dabei auf keinen Fall herauskommen, und vermutlich ist es nicht mit einem simplen Klick in einem simplen Programm getan. Professionell vom Produzenten gemacht, wie du es anscheinend auch verteufelst, bin ich aber der Ansicht, dass dies das Hörerlebnis der Mehrheit der Hörer deutlich verbessern kann. Und sollte der Anspruch der Klassik-"Verteidiger" wirklich sein, ein perfektes Klangerlebnis für wenige und gar keines oder nur ein deutlich beschränktes für die meisten, auch die ehrlich interessierten, zu erringen? Wer sich die Zigtausender-Anlage, die alles perfekt wiedergibt, leisten kann, kann sich auch spezielle Hochqualitäts-Aufnahmen leisten, die dann auf ihn zugeschnitten sind. (Allerdings glaube ich nicht, dass dies tatsächlich eine reine Anlagenfrage ist, denn die Raumakustik kann auch die beste Anlage nicht ändern.) Aber für die Mehrheit sollte sich ein besserer Kompromiss zwischen dem zu ungeregelten Standard und völliger Radio-Gleichmacherei finden lassen.

janw
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Di 14. Dez 2010, 21:05 - Beitrag #6

Lykurg, das heißt, je dynamisch differenzierter, umso aufgeführter, bzw. umgekehrt?

Traitor, ich gebe Lykurg darin Recht, daß ich beim Kauf einer CD Werktreue verlange, bzw. jene solche, die der Interpret in seiner Umsetzung vermittelt.
Pianissimo muss leisestens sein, und Cage's "4''33" schweigsam.
Ich könnte mir als Lösung des Problems vorstellen, daß in die Aufnahmen eine Codierung eingebracht wird, die mit dann zu entwickelnden Geräten eine Funktionswahl nach "werktreuer" bzw. "dynamisch angepasster" Wiedergabe ermöglicht.

Im übrigen befürchte ich bei Ohrstöpseln, daß diese durch die direkte Klangeinspeisung in den Gehörgang zu einer Schädigung des Hörvermögens führen.

Traitor
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Di 14. Dez 2010, 21:19 - Beitrag #7

Auch du umgehst die Frage, was denn nun die bestmögliche Werktreue unter realistischen Hörbeindungen ist. Ist es suboptimaler Genuss optimaler Klangdaten, oder optimaler Genuss suboptimaler Klangdaten? Anscheinend für euch beide ersterer, aber warum, und was ist das Kriterium, mit dem verglichen werden kann?

Kodierung wäre dann möglich, wenn die Transformation analog zu Mp3gain einfach genug wäre, um ohne extra mitgespeicherte Daten vom Abspielgerät laufend erzeugt zu werden. Müssten aber zwei Varianten auf den Datenträger, so würde das im Normalbereich nicht auf eine CD passen, und im Profibereich würden die Leute dafür lieber die eine "echte" Version mit mehr unhörbaren Zusatzfrequenzen wollen.

janw
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Di 14. Dez 2010, 22:06 - Beitrag #8

Ich neige zu ersterem, wobei ich dann eben die nötige Ruhe selbst bereiten müsste.

Traitor
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Di 14. Dez 2010, 22:46 - Beitrag #9

Zitat von Traitor:aber warum, und was ist das Kriterium, mit dem verglichen werden kann?
Und Ruhe ist eben nur notwendiges, nicht hinreichendes Kriterium, perfekte Anlage und dem Aufnahmeraum entsprechende Innenarchitektur braucht es auch.

Ach ja, die im Betreff und ersten Antwortbeitrag gezogene Kampflinie pro / contra Klassik kann ich, bevor Lykurg überhaupt an ihr ankommt, sehr effektiv wieder einreißen, indem ich anmerke, dass es genau das gleiche Problem auch im Progressive Rock gibt, Beispiele: "Tarkus" von Emerson, Lake & Palmer oder "Close to the Edge" von Yes. Auch die haben bei langer Laufzeit verschiedene Substücke ("Sätze"), einen hohen Dynamikumfang und Probleme, die leisen herüberzubringen, wenn man nicht aktiv nachregelt. Ähnlich könnte es vielleicht auch noch bei Metal sein, mit dem Unterschied, dass es da statt um leise und laut eher um sehr laut und noch viel lauter geht. ;) Somit ist das Problem genreüberschreitend eines solcher Musikwerke, die in einem Stück viel Abwechslung bieten.

janw
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Mi 15. Dez 2010, 01:47 - Beitrag #10

Selbiges gibt es im Jazz, bei Tull z.B. in "A Passion Play".

Ich denke, es ist eine Eigenschaft von Musik, die es ernst meint mit dem Ausdrücken von Gefühlen, vielleicht von Musik um der Musik willen?^^

Lykurg
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Mi 15. Dez 2010, 03:06 - Beitrag #11

Zitat von Traitor:Daraus habe ich erstmal einen eigenen Thread gemacht. Genaugenommen wäre es sogar zwei wert, diesen eher technischen und einen allgemeinen "Überheblichkeit der Anhänger klassischer Musik"... ] Kampflinie pro / contra Klassik
Mir ist vollkommen klar, daß es das in Randbereichen der U-Musik wie etwa ELP mit ihren starken E-Anleihen auch gibt (ebenso natürlich die Equipment-Fetischisten); und ohnehin, daß die Unterteilung E/U genauso unscharf ist wie die meisten anderen, die man hier anzulegen versuchen kann. Hätte ich die Threaderöffnung antizipiert, hätte ich mich um einen standesgemäßeren Disclaimer bemüht. Bild

Der stille Raum als Grundanforderung ernsthaften Musikhörens ist klar, wir wollen weder über Mp3-Player in der U-Bahn noch über Party-Hintergrundmusik reden. Die "wirklich gute Anlage" dagegen ist schonmal ein großer Streitpunkt - eine ordentliche kann man verlangen, eine abartige für tausende Euro nicht. Im mittelguten Bereich muss es möglich sein, Klassik in ordentlicher Form zu hören - und da ist jetzt eben die Frage, was ist besser, etwas reduzierte Dynamik oder massiv reduzierter Hörgenuss durch Entgehen der leisen Stellen oder Schmerzen bei den lauten? Oder anders gefragt, wenn man letzteres wie ich für inakzeptabel hält, was ist besser, gezielt nachgeregelte Dynamik oder erratisches Knöpfchendrehen, das zu völlig verhunzter Dynamik und dazu noch starker Abgelenktheit führt?
Sehe ich genauso, bin ja auch noch weit von der Abspielmöglichkeit meiner Träume entfernt. Aber ich sehe das Problem nicht in diesem Maße; ich regle eher nach, weil ich andere nicht stören will, als weil es mir unangenehm laut würde. Ein Fortissimo kann gelegentlich auch physisch empfunden werden. Mit Kopfhörern bin ich da allerdings sehr vorsichtig, weil das schwerer einzuschätzen ist (da teile ich begründetermaßen janws Besorgnis).
Von "Wegregeln" der Dynamik zu reden, ist auch eine Überspitzung, analog zu der, zu behaupten, jede Kontraständerung eines Photos würde dies sofort in Schwarz-Weiß konvertieren. Was spricht so massiv dagegen, die leisesten Stellen etwas anzuheben, die lautesten etwas abzusenken, und alles dazwischen treu (also vermutlich komplizierter als linear)?
Natürlich ist das überspitzt, aber in die Richtung geht es schon. Das übliche Programm bei "Klassik Radio" hat in diesem Sinne etwa den Kontrastumfang einer Bleistiftabpausung. ;)

Konstantes soll dabei auf keinen Fall herauskommen, und vermutlich ist es nicht mit einem simplen Klick in einem simplen Programm getan. Professionell vom Produzenten gemacht, wie du es anscheinend auch verteufelst, bin ich aber der Ansicht, dass dies das Hörerlebnis der Mehrheit der Hörer deutlich verbessern kann.
Nein, so weit gehe ich nicht; das gehört klar zum Handwerkszeug des Tonmeisters, zu bestimmen, wie weit die dynamische Bandbreite für einen 'realistischen' Eindruck gehen soll. Er muß die Rolle übernehmen, die im Konzert die Interpreten selbst haben, nämlich beurteilen, wie stark die Klänge erzeugt werden müssen, um das Publikum ideal zu erreichen.
Und sollte der Anspruch der Klassik-"Verteidiger" wirklich sein, ein perfektes Klangerlebnis für wenige und gar keines oder nur ein deutlich beschränktes für die meisten, auch die ehrlich interessierten, zu erringen? Wer sich die Zigtausender-Anlage, die alles perfekt wiedergibt, leisten kann, kann sich auch spezielle Hochqualitäts-Aufnahmen leisten, die dann auf ihn zugeschnitten sind. (Allerdings glaube ich nicht, dass dies tatsächlich eine reine Anlagenfrage ist, denn die Raumakustik kann auch die beste Anlage nicht ändern.) Aber für die Mehrheit sollte sich ein besserer Kompromiss zwischen dem zu ungeregelten Standard und völliger Radio-Gleichmacherei finden lassen.
Ja, und genau das ist ja auch der Fall. Je breiter das angestrebte Publikum, desto schmaler der dynamische Umfang. Ich versuche nur sicherzustellen, daß die Aufnahmen, die mich interessieren, spannend und erschwinglich bleiben. Lieber regle ich gelegentlich nach, als Originaldaten mit weit weniger Bandbreite zu haben. Raumgröße, -akustik und Anlage sind in gewissem Maße und hoffentlich eine Frage der Zeit; einmal verdorbene Aufnahmen nicht.
Zitat von janw:Lykurg, das heißt, je dynamisch differenzierter, umso aufgeführter, bzw. umgekehrt?
Für mich ist das tatsächlich eine Frage der Authentizität; natürlich nicht der einzige Faktor, aber eben doch ein deutlicher Unterschied zwischen Konzerterlebnis und Konservengefühl.

Ipsissimus
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Mi 15. Dez 2010, 11:19 - Beitrag #12

meines Erachtens ist alte Musik zunächst einmal nie für die Konserve gedacht gewesen, einfach weil es vor der Erfindung des Grammophons keine Konserven gab. Diese Musik musste also nie Kompromisse machen und erschließt sich, umgekehrt, daher auch nur in ihrer ganzen Fülle, wenn sie kompromisslos wiedergegeben wird, also im Konzert. Ich empfehle hierzu, sich den ersten Satz des Verdi-Requiems in der Muti-Einspielung mit dem Orchester der Mailänder Scala einmal mit einer 5000 Euro-Anlage, einmal mit einer 50000 Euro-Anlage und einmal live in der Mailänder Scala anzuhören. Es tun sich Abgründe auf. Allein die Vorstellung der Angleichung der dynamischen Level verursacht schon Übelkeit; und die 5000-Euro-Anlage ist bestenfalls ein schlechter Kompromiss zwischen Geldbeutel und Verzweiflung^^

natürlich ist das ein Extrembeispiel; ganz allgemein lässt sich, wie Lykurg schon ausführte, ganz klar sagen, dass die dynamische Struktur eine wesentliche Konstituente der Werktreue ist - sie wurde ja auch vom Komponisten mitkomponiert. Moderne Aufnahme- und Wiedergabe-Restriktionen sind daher nichts anderes als Vergewaltigung, genau so, wie die Zerstörung architektonischer Zusammenhänge durch das Weglassen von Wiederholungen (sei es, weil das Stück anders nicht auf die CD passt, sei es, weil man den Standardhörer, dem es gar nicht um die Musik geht sondern um die von der Musik erzeugten Gefühle, nicht langweilen will).

Für Musik ab der Zeit des Grammophons verschiebt sich das Bild zunehmend; viele Werke waren nach wie vor ausschließlich für die konzertante Aufführung gedacht, aber es gab langsam zunehmend auch solche, bei denen schon bei der Komposition die Konserve mitbedacht wurde, was man der dynamischen Struktur in der Partitur auch ansieht. Dynamische Exzesse wie im Verdi-Requiem sind selten geworden^^

Traitor
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So 19. Dez 2010, 16:22 - Beitrag #13

Zitat von janw: Ich denke, es ist eine Eigenschaft von Musik, die es ernst meint mit dem Ausdrücken von Gefühlen, vielleicht von Musik um der Musik willen?^^
Bei den Gefühlen sehe ich keinen Kausalzusammenhang, allerhöchstens eine Korrelation, aber auch die nur schwach. Ich kenne viele dreiminütige Popsongs, die es ernster meinen mit dem Ausdrücken von Gefühlen (und dies auch schaffen) als so einige zwanzigminütige Prog-Epen oder ganz- oder mehrstündige klassische Konzerte oder Opern. Musik um der Musik willen, schon viel eher, da besteht eine starke Korrelation, da Dynamik natürlich eines der Stilmittel ist, die sich hier sehr vielfäkltig einsetzen lassen.

@Lykurg: Auch dein Kurzdisclaimer scheint mir noch eine nicht zu haltende Vermengung von "E" mit "Klassik" und "U" mit "Rock/Pop" zu enthalten, aber das wäre jetzt OT. ]natürlich ist das ein Extrembeispiel; ganz allgemein lässt sich, wie Lykurg schon ausführte, ganz klar sagen, dass die dynamische Struktur eine wesentliche Konstituente der Werktreue ist - sie wurde ja auch vom Komponisten mitkomponiert. Moderne Aufnahme- und Wiedergabe-Restriktionen sind daher nichts anderes als Vergewaltigung, genau so,[/QUOTE] Dem ersten Teil kann ich zustimmen, dem zweiten nicht. Ja, es ist ein wesentlicher Teil der Komposition. Aber das Ziel der Wiedergabe muss sein, dem Gesamterlebnis der Originalaufführung möglichst nahe zu kommen, nicht, seine technischen Einzelheiten möglichst genau zu reproduzieren. Und wenn eine Umdynamisierung ein Hörerlebnis näher am Original erlaubt, dann ist sie der 1:1-Dynamikübernahme vorzuziehen, die zwar auf dem Papier originalgetreuer wirkt, aber faktisch dem Hörenden mehr Entfremdung aufzwingt.

Lykurg
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Mo 20. Dez 2010, 11:32 - Beitrag #14

@OT: Stimmt, Traitor, ich neige sträflicherweise dazu, diese Begrifflichkeiten nicht allzu scharf zu trennen, was an persönlicher Repertoirekenntnis bzw. Interesse liegt. U-Klassik kenne ich natürlich auch, E-Pop/Rock kaum, da fehlt mir aber auch die Entscheidungsgrundlage; bei "[url=showthread.php?t=19918]Proll oder Kunst?[/url]" bin ich ratlos. ;)
Anscheinend sind wir uns doch einig, dass der Idealzustand ein Kompromiss sein muss, nur bei dir näher am Original, bei mir näher am Hörkomfort. Klassikradio ist es für mich aber zumindest auch auf gar keinen Fall. Aber "physisch empfinden" möchte ich Musik nicht unbedingt, das verleidet mir sowohl Rockkonzerte als auch Opern. Das könnte einer der entscheidenden Unterschiede sein.
Das Lautstärkepotential eines spätromantischen Orchesters im Konzertsaal wird in den meisten Opernhäusern dank Orchestergraben und Raumgröße noch nicht einmal erreicht. Aber klar, Rockkonzerte wären mir viel zu laut, schon um die entsprechenden Bühnen bei Kieler Woche u.ä. mache ich einen weiten Bogen. Aber bombastische Bläserschichtungen etwa bei Bruckner wirken mehr direkt auf den Körper als auf den Geist (was wohl dazu beiträgt, daß seine Musik viel Spaltpotential auch unter Liebhabern bietet). Bild
Die Rolle des Raumes scheinst du mir gegenüber der Aufnahme und Musikanlage zu unterschätzen. (Oder ich überschätze sie aus theoretischen Überlegungen ohne genug eigene Detailerfahrung.) Am Mikrophon der Aufnahme kommen doch unzählige Reflektionen aus allen Ecken des Aufnahmeraumes an. Wie soll da ein Stereolautsprecher das Wellenbild halbwegs vollständig wiedergeben können, selbst wenn der Wiedergaberaum einigermaßen dem Aufnahmeraum entspricht? (5.1 graduell, aber nicht prinzipiell besser.)
Bei Studioaufnahmen mit direkter Einzelabnahme wird je nach verwendeten Mikrophonen der Raumklang weitestgehend oder völlig eliminiert. Ein angemessener Nachhall kann dann künstlich hinzugefügt werden. Für Konzertaufnahmen und Massenaufnahmen mit wenigen Mikrophonen ist das meist anders; dann wird dieser Widerspruch meist akzeptiert. Aufwendig sind z.B. auch Aufnahmen von Orgelmusik (steigerbar: Orgel und Orchester), da hier der Raumklang bereits für den Instrumentenbauer wesentliche Entscheidungsgrundlage war und bei der Aufnahme entsprechend berücksichtigt werden muß.
Das macht meiner Abschätzung nach den (technischen) Hauptunterschied zwischen Livekonzert und Konservenmusik aus. Und dynamisch abwechslungsreiche Passagen müssten davon besonders stark betroffen sein, weil man aus den leisen Teilen die räumliche Trennung der Instrumente und andere Feinheiten viel schlechter heraushören kann.
Die Möglichkeit, die Akteure zu sehen und ihnen Klänge direkt zuzuordnen, ist für den Höreindruck mindestens so wichtig. Oft sind leise Passagen aber klarer trennbar als laute; Abwechslung entsteht darin gerade durch das Hinzutreten oder Wegfallen klar differenzierbarer Instrumente.

Insgesamt, das hast du richtig dargestellt, neige ich also ebenfalls zu Kompromissen im Sinne des technisch machbaren, auch wenn ich die Prioritäten zugunsten der Werktreue (Konzertklang) deutlich anders setze.

Ipsissimus
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Di 21. Dez 2010, 14:10 - Beitrag #15

wenn ich sie nicht intellektuell so langweilig fände
eine interessante Feststellung, Traitor^^ gilt dieses Verdikt nur für die konzertante Aufführung eines Werkes oder auch für seine Wiedergabe als Konservenmusik? Im ersten Falle wäre es vermutlich weniger das Werk, dem du mangelnde Intellektualität konstatierst sondern dem Ambiente und dem Gehabe der Musiker und Zuschauer. In letzterem Fall wäre es vermutlich ... Banausentum? ^^

Was aus meiner Sicht gegen jegliche Form digitaler Aufzeichnung und Wiedergabe alter Musik spricht ist die Beschneidung des Frequenzspektrums. Das mag für ein MP3-Player-Ohrbuchsen-geschultes Ohr überhaupt kein Kriterium sein, Leute mit gut geschultem Gehör, die tatsächlich hören, was sie hören, können daran verzweifeln. Und selbst für MP3-Hörer dürfte es überraschend sein, was aus einer Anlage für Töne herauskommen können, wenn sie einmal auf einer Analog-Anlage mit Röhrenverstärker, Röhren-Vorverstärker, adäquatem Analog-Plattenspieler und entsprechenden Analog-Boxen eine gut aufgenommenen Langspielplatte anhören

janw
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Di 21. Dez 2010, 20:31 - Beitrag #16

Ipsi, vielleicht ist das Problem mit den Konzerten ein Problem moderner Wahrnehmungsstrukturen - vielleicht ist ein auf Zeitdauer angelegtes und innerhalb dieser Zeitdauer strukturiertes Werk aus wiederum einzeln strukturierten Einzelteilen eine Herausforderung für einen auf schnelle Erlebnissequenzen geprägten Geist?

Mich würde wirklich mal ein Vergleich der Höreindrücke bei Alter Musik interessieren.

Traitor
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Di 21. Dez 2010, 21:58 - Beitrag #17

@Lykurg: Künstlicher Nachhall, ist das nicht auch eine Sünde? ;) Vermutlich ist es aber eine gute Lösung.
Dass man aus leisen Passagen besonders gut Details heraushören kann, gilt eben nur, wenn sie über der Differenzierungsschwelle (nicht nur der Hörschwelle) liegen, und das ist bei unnormalisierten Aufnahmen nicht trivial zu erreichen.

@Ipsi: Für Konserven gilt das eher noch mehr als für Konzerte. Ich kann musikalische Virtuosität zwar wertschätzen und auch sinnlich genießen. Aber mein Ton- und Rhythmusgefühl sind so schlecht ausgeprägt, dass jede Form der Analyse mir stets fremd blieb. Dadurch findet klassische Musik, und jedwede Instrumentalmusik, bei mir nur sehr schlecht den Weg zur intellektuellen Ebene, sodass sie mich nach Abklingen des sinnlichen Eindrucks eben zu langweilen beginnt. Erwähnte ich, dass der rein sinnliche Effekt von Musik und anderer Kunst bei mir meist nicht sehr tief und dauerhaft ist? ;)

Auch Schallplatten sind ja nicht gerade ein perfektes Abbild der darauf konservierten Musik, meines Wissens sind es gerade die systemtypischen Fehler, die gewohnheitsmäßig als "warmer Klang" etc. wahrgenommen werden. (Gibt es da eigentlich Studien, die nicht nur blind sind, sondern auch mit Leuten, die weder an das eine noch das andere gewöhnt sind, z.B. aus technikfernen Kulturen?) Eine moderne, hochwertige Digitalaufnahme (also nicht CD oder niederbittige mp3) sollte deutlich näher ans Original herankommen als eine Analogplatte.
Unterschiede zwischen Niederbit-Mp3 und CD höre aber auch ich Banause auf einer ordentlichen Anlage bereits, zumindest für Klassik und anspruchsvolleren Rock. Beeindruckende LP-Erlebnisse hatte ich bisher nicht, da ich nur alte und vielgespielte, somit gegenüber CDs klar unterlegene LPs kenne.

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Mi 22. Dez 2010, 12:07 - Beitrag #18

Traitor, diesem Umstand mangelnden Ton- und Rhythmusgefühls könntest du z.B. durch das Erlernen des Spielens eines Musikinstruments Abhilfe schaffen. Danach stünde dir der Weg zur Analyse offen^^ Oder möchtest du gar nicht erst in Versuchung geraten?^^

Jan, ich kann mir gut vorstellen, dass das ein Teil der Problematik ist. Einer konzertanten Aufführung zu folgen hat etwas Kontemplatives, mensch ist im Prinzip für diese anderthalb Stunden völlig auf sich und die Musik zurückgeworfen, weder mit der Möglichkeit, seinen eigenen inneren Impulsen zu entkommen noch sie auszuleben (zumindest stehen dieser letzten Möglichkeit starke Konventionen und ein gerüttelt Maß Gruppenzwang entgegen, die erst mal überwunden werden wollen).

Traitor
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Do 23. Dez 2010, 14:13 - Beitrag #19

Traitor, diesem Umstand mangelnden Ton- und Rhythmusgefühls könntest du z.B. durch das Erlernen des Spielens eines Musikinstruments Abhilfe schaffen.
Wenn ich sage, dass ich wegen fehlender Beine nicht laufen kann, empfiehlst du mir dann auch, das mit einem Marathon zu heilen? ;)

Ein Konzert als Klausur, sozusagen? Die Betrachtungsweise hat etwas für sich. Schwierig daran ist nur, dass man eben "auf sich und die Musik" beschränkt ist, nicht nur "auf die Musik", und das "auf sich" leicht stärker wird als die Musik, wenn die Musik, wie das bei vieler Klassik der Fall ist, sich gut dazu eignet, zum Hintergrund zu werden. Es ist ja nicht so, dass ein aktiver Geist externer Alternativreize bedürfte, um sich abzulenken. Instrumentalmusikignoranz dürfte eng mit Meditationsignoranz korreliert sein. Dabei ist die Musik aber zumindest noch eine sehr schöne Beschäftigung, die nur irgendwann, oft zu früh, ihren Reiz verliert, während Meditation mich aktiv aggressiv macht. ;)

Ipsissimus
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Do 23. Dez 2010, 19:26 - Beitrag #20

fehlendes Ton- und Rhythmusgefühl ist aber kein anatomischer Mangel, Traitor, es ist eher vergleichbar mit Analphabetismus^^ wenn du nicht lesen lernst, bleibt lesen eine Geheimwissenschaft und Bücher sind Sammlungen verunstalteter weißer Blätter^^ davon abgesehen gibt es auch Rollstuhlfahrer, die sich an Marathons versuchen, erfolgreich, wie man hört^^

aber ich kann deine Haltung nachvollziehen. Mir hat man als Kind auch eingetrichtert, wie unmusikalisch ich sei. Es hat viel Zeit und Mühen bedurft, mich selbst vom Gegenteil zu überzeugen. Und das Erlernen eines Instruments ist beinahe die einfachste Weise, zu seiner eigenen Musikalität Zugang zu bekommen

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