100 Jahre Alfred Deller

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janw
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Do 31. Mai 2012, 21:58 - Beitrag #1

100 Jahre Alfred Deller

dlf hat mich heute darauf aufmerksam gemacht, daß vor 100 Jahren Alfred Deller geboren wurde, ein Countertenor, der diese zu seiner Zeit unübliche Stimmlage wieder ins Bewusstsein gebracht und damit viel zur Wiederbelebung der Alten Musik beigetragen hat.
"O solitude" von Thomas Morley:
http://www.youtube.com/watch?v=-W9BMgup7-A&feature=related

Ipsissimus
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Fr 1. Jun 2012, 10:27 - Beitrag #2

er ist mir im Studium mal begegnet, also via Schallplatte natürlich nur^^ mit Dowland-Liedern. Ich war damals nicht so begeistert, die Stimmlage hatte mich doch eher an "falsch gesungenen" Hochalt denn an eine Kastratenstimme erinnert. Mittlerweile habe ich mich an Countertenor gewöhnt, aber seit damals nichts mehr von Deller gehört^^

janw
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Fr 1. Jun 2012, 11:59 - Beitrag #3

Haben Kastraten zu Dowlands Zeiten eigentlich schon die Rolle gespielt wie später zu Zeiten Mozarts und anderer, oder wie konnten diese Lieder sonst gesungen werden, ist das eine besondere Technik, mit der die Natur umgangen wird?

Ipsissimus
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Fr 1. Jun 2012, 14:24 - Beitrag #4

als Blütezeit der Kastratensänger gilt das 17. und 18. Jahrhundert, im 19. Jahrhundert fehlen sie fast völlig und 1922 starb der letzte päpstliche Kastrat. Im Rahmen der historischen Aufführungspraxis sind weder Soprane noch Countertenöre adäquater Ersatz für eine Kastratenstimme, nur die Stimmen vorpubertärer Jungen entsprechen dem ursprünglichen Klang-Ideal (die Tonhöhe ist nicht problematisch). Dass dieses Ideal ursprünglich aus dem Raum kirchlicher Musik stammt (und dort auf eine wesentlich längere zurückreichende Blütezeit als im Bereich weltlicher Musik zurückschaut), macht die Sache nicht appetitlicher; im Grunde handelt es sich genauso um Kindesmisshandlung wie bei sexuell motivierten Akten auch.

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Fr 1. Jun 2012, 14:44 - Beitrag #5

Ja, hatten sie, allerdings nicht in England, wo erst in der Händelzeit die Kastraten gehäuft auftreten. In England gibt es eine weitgehend ungebrochene Countertenortradition, die in anderen Ländern fehlt. Die Contratenöre der Renaissance wurden mit dem Aufstieg der Oper in Italien im 17. Jh. auch in den Kirchen durch Kastraten ersetzt, während in der anglikanischen Kirche weiterhin Knaben und Countertenöre eingesetzt wurden (allerdings außerhalb der Kirche im 19. Jh. kaum noch). Deller entstammt dieser Tradition, die King's Singers in gewisser Weise auch.

janw
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Fr 1. Jun 2012, 21:39 - Beitrag #6

Das heißt, die Renaissancemusik in England folgte einem anderen Gesangsideal als die auf dem Kontinent?
Hat die Idealisierung der Knabenstimmen einen tieferen Grund - Verbindung mit einem sexuellen Reinheitsideal?

Ipsissimus
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Sa 2. Jun 2012, 23:27 - Beitrag #7

man darf wohl eine Form von Pädophilie dahinter vermuten

Lykurg
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Mo 4. Jun 2012, 16:41 - Beitrag #8

Pädophilie ist das meines Erachtens nicht unbedingt. Kastraten waren eher androgyne Gestalten, die Folgen der hormonellen Andersentwicklung für den gesamten Körperbau waren schwerwiegend (so neigten viele Kastraten zu massivem Übergewicht, hatten teilweise auch disproportionierte Gesichtszüge).

Die Kastration wurde fast ausschließlich in den Konservatorien Italiens, vor allem in Neapel, durchgeführt. Daß das Auftreten von Kastraten in Nordeuropa entsprechend seltener war, liegt auf der Hand. Das mag auc konfessionelle Gründe haben, die katholische Kirche war in der Hinsicht wohl interessierter als die Protestanten. Der letzte 'Rückzugsort' der Kastraten bis 1903 (!) war schließlich die päpstliche Kapelle.

Etwa an der Hamburger Oper traten in Rollen, die für Kastraten komponiert worden waren, bereits in der Barockzeit Knaben oder Falsettisten auf - oder (der Regelfall:) die Partien wurden einfach in Tenorlage transponiert. Mit Pädophilie hat das allerdings weniger zu tun.

Ipsissimus
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Di 5. Jun 2012, 11:08 - Beitrag #9

es ist klar, dass die Gesamtentwicklung von Kastraten in der Musik mit dem Schlagwort "Pädophilie" nicht erschöpfend dargestellt werden kann; speziell im Kontext kirchlicher Chöre dürfte sie trotzdem eine erhebliche Rolle gespielt haben. Wir kennen ja mittlerweile ein paar offizielle Zahlen aus unserer Gegenwart sowie die gemutmaßte Dunkelziffer und können das in Bezug setzen zu der wenig vorhandenen Zimperlichkeit und dem komplett fehlenden Verständnis von Kindheit als eigener Phase früherer Zeiten. Gerade solche Assoziationen wie hohe, "reine" Knabenstimmen mit moralischer Reinheit im Kontext knabenhafter Körper dürften für Priester schon immer eine schwer zu widerstehende Versuchung gewesen sein.


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