Bayreuther Eklat

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Ipsissimus
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Mo 23. Jul 2012, 10:09 - Beitrag #1

Bayreuther Eklat

http://www.sueddeutsche.de/bayern/eklat-um-nazi-tattoo-bei-wagner-festspielen-hautverdaechtig-1.1419235

... Am Freitagabend war in der ZDF-Kultursendung "Aspekte" ein Beitrag über den Bassbariton Evgeny Nikitin zu sehen, den ersten Russen, der eine Hauptrolle auf dem Hügel spielen sollte. Nikitin ist mit der Titelpartie des "Fliegenden Holländers" schon durch Japan getourt, seither buchen ihn die großen Häuser, am Mittwoch sollte er den Frontmann in Bayreuth geben. Der Fernsehbeitrag war in dem heiteren Ton gehalten, mit dem Nikitin zuletzt öfters porträtiert wurde.
Seine Geschichte wirkt ja auch apart: Da ist ein Mann aus Murmansk, der noch bis vor zwei Jahren für eine einigermaßen abgründige russische Black-Metal-Gruppe Schlagzeug spielte und dabei einen Sänger begleitete, der vom Weltende schrie. Nun soll eben dieser wütende Trommler den Holländer mimen, vor den versammelten Wagner-Verbänden der Welt.

In dem Beitrag war ein Video zu sehen, auf dem Nikitin mit nacktem Oberkörper am Schlagzeug sitzt, ein bebender Berserker. Auf den Bildern kann man unschwer erkennen, dass sich an dem Bariton kaum ein Quadratzentimeter Haut ohne Tattoos finden lässt. Die gestochenen Symbole bedeckten Brust und Arme, bis an den Handrücken und die Fingerkuppen ranken sie sich.

Ein Problem, hieß es am Hügel bislang, sei das alles nicht: In der Inszenierung von Jan Philipp Gloger würde Nikitin schließlich nicht nackt singen. Arme und Finger sollten überschminkt werden.

Es wurde dann aber doch ein Problem, ein gewaltiges sogar. Denn auf dem Video ist auch zu erkennen, dass auf der Brust des damaligen Schlagzeugers namens Nikitin ein Symbol eingebrannt war, das einem Hakenkreuz zumindest sehr ähnlich ist ...


Was nach hektischer Krisensitzung, nächtlichen Gesprächen und ein paar Albernheiten in der kurzfristigen, angeblich einvernehmlichen Absage Nikitins zwei Tage vor der Uraufführung resultierte.

Seine Erklärung, dass er sich das Hakenkreuz als junger Mensch habe stechen lassen und dass er damit keine politischen sondern spirituelle Aspekte darstellen wollte, wurde als unzureichend empfunden. Die Frage, ob man einen Russen dazu verpflichten kann, die deutsche Sicht auf die NS-Symbolik zu teilen, wurde erst gar nicht gestellt.

Wie seht ihr das? Ich bin ein bisschen unschlüssig.

Anaeyon
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Mo 23. Jul 2012, 11:37 - Beitrag #2

Nicht leicht zu beantworten.

Es gibt im Black-Metal bereich leider sehr viele Bands, die offen oder verdeckt rechts bis nationalsozialistisch eingestellt sind. Ich halte es auch für kaum möglich, dass ein Mensch, der sich in dieser Musikszene bewegt nicht weis, für welche Aussage dieses Symbol in Europa primär genutzt wird.

Andererseits benutzen Nazis die Heiden- und die Metalszene um ihre Botschaften "entschärft" ins Volk zu bringen. Viele benutzen zum Beispiel das Symbol der Schwarzen Sonne (hier auf den roten Bannern zu sehen) ohne zu wissen, wo das herstammt und für welches Symbol dies der legale Ersatz ist. Ich bin selbst mal mit einem T-Shirt unterwegs gewesen, auf dem es drauf war, weil ich zuerst davon ausging, dass es sich um eine rein heidnishe Darstellung der Sonne handelt. Bei der Gruppe im Video ist der Bezug zu rechter Politik zwar recht eindeutig wenn man dem Link in der Beschreibung folgt ("Zehn Fragen an Jürgen Rieger" usw.), aber es gibt defintiv viele Heiden, die diese oft weniger deutlich erkennbaren Anzeichen für Nazi-Ideologie nicht erkennen und tatsächlich glauben, es drehe sich rein um Spiritualität/Religion.

Insofern ist es durchaus auch möglich, dass es sich für einen Russen, der nicht so sehr auf das Erkennen von Nazi-Ideologie geschult ist wie ein halbwegs gebildeter Deutscher das Gerede von "Blut und Boden" bei einigen pseudo-heidnischen Vereinen für harmlose patriotische Wikingerromantik hält.

Im Gemeinschaftskunde-Unterricht bei uns in der Klasse gibts auch so ein wunderbares Beispiel für diese blinde Naivität. Bezeichnet sich als überzeugten Demokraten und findet Menschenrechte und Toleranz gut, glaubt aber z.B. dennoch, dass es gut für die Wirtschaft wäre, wenn nur deutsche Jobs bekommen würden. Es gibt so viele Leute in jedem Land, die sich der Konsequenzen ihrer Überzeugungen nicht bewusst sind. Halten sich für Demokraten und würden ohne es zu beabsichtigen über Nacht eine nationalsozialistische Diktatur herbeiführen, hätten sie uneingeschränkte Handlungsfreiheit, weil sie die Symptome einer solchen im einzelnen nicht erkennen. Bild

Ich finde es ansich falsch, das Hakenkreuz-Symbol lediglich als Nazi-Symbol zu betrachten. Mir ist nur leider bisher kein "Ich beziehe mich auf Buddhismus/whatever"-Mensch untergekommen, der sich nach einer erhitzten Diskussion nicht doch als Wolf im Schafspelz entlarvt hat. Insofern halte ich zumindest die Entscheidung, die hier getroffen wurde, für absolut richtig, auch wenn ich mich hüten würde, dem Herrn Nikitin eine nationalsozialisitsche Einstellung oder Vergangenheit zu unterstellen, ohne ihn persönlich kennengelernt zu haben.

janw
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Mo 23. Jul 2012, 11:43 - Beitrag #3

Aus den Aussagen des Sprechers klang durch, daß man versucht habe, Nikitin die Problematik der Sache zu vermitteln und nach einer Lösung zu suchen, Nikitin sei aber in der Sache von anfang an nicht offen gewesen, wodurch das Vertrauen beschädigt worden sei.
Letztlich habe Nikitin spontan den Kontakt abgebrochen und sei abgereist.

Ich vermute mal, daß es letztlich um eine kulturelle Differenz hinsichtlich der Wertung dessen geht, was als NS-Gedankengut zu gelten habe - Elemente eines hierzulande so zu verstehenden Gedfankenguts sind in Russland weit verbreitet, als Konglomerat aus traditionellem Antisemitismus, traditionellem Nationalismus und dem Faktum der Widerstandsideologie gegen die Staatsideologie der Sowjetzeit.

Ipsissimus
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Mo 23. Jul 2012, 12:22 - Beitrag #4

die Swastika-Problematik ist aber auch vermaledeit. Ein jahrtausendelang als Sonnensymbol benutztes Zeichen unterliegt 20 Jahren des Missbrauchs. Aber vermutlich lässt sich daran nicht viel ändern, die ursprüngliche Bedeutung ist einfach von der "aktuellen" Thematik zu sehr überlagert - obwohl einige Neo-Pagans und Wiccas das deutlich anders sehen, ohne dass ich da in jedem Einzelfall Nazi-Gesinnung unterstellen wollte.

Ja, ohne deutlich erweiterte Kenntnis von Nikitins ideologischen Rahmenparametern lässt sich das kaum entscheiden. Vielleicht ist seine Abreise auch nur der Genervtheit über aus seiner Sicht hysterische Reaktionen geschuldet. Ich denke, seine Karriere in Deutschland kann er damit vergessen; aber Deutschland ist natürlich nicht die Welt, selbst wenn manche Deutsche das gar nicht gern hören^^

Allerdings frage ich mich durchaus, warum dann in Deutschland noch Wagner aufgeführt wird. Und auch die Bayreuther Wagnerspiele sind ideologisch von den Nazis besetzt.

Anaeyon
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Mo 23. Jul 2012, 12:47 - Beitrag #5

Würden wir nicht auch Kunst in die Schublade "entartet" stecken, wenn wir sie verbieten oder ignorieren, nur weil der Künstler kein Demokrat war? Schade, dass wir uns bei der Aufarbeitung der Geschichte so oft ähnlichen Mechanismen bedienen, wie die Nazis selbst. Verschweigen, vergessen, tabuisieren, anstatt das Gegenteil.

Die Bedeutung der Swastika ist hier für die nächsten Jahrhunderte wohl relativ festgenagelt und ich würde es auch für eine äußerst schlechte Idee halten, daran etwas zu ändern.
Ich würde aber z.b. gerne Runen tragen, ob als Schmuck oder auf Kleidung, ohne mir Sorgen darüber machen zu müssen, ob die Algiz- (Lebensborn, Sanitäter, Frauenschaft), Othala- (Blut und Boden) und Sowilo (SS)-Runen falsch verstanden werden. Ich mache mir manchmal schon Gedanken, ob nicht der "88.18"-Teil der IP-Adresse von Wikileaks auf einem meiner Shirts misinterpretiert wird Bild

Aber das ist Off-Topic..

Lykurg
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Mo 23. Jul 2012, 13:02 - Beitrag #6

Da er noch kurz vor seinem Rückzug sagte, ohne in Bayreuth aufgetreten zu sein, sei man eigentlich kein Wagner-Sänger, ist es bedauerlich für ihn - aber ich teile Anaeyons Position. Er hätte sich der Problematik immer schon bewußt sein können, und daß er jetzt beleidigt abreist, statt im Interview zu erklären, was Sache ist, disqualifiziert ihn leider. Gerade Bayreuth muß aufgrund seiner Geschichte darauf achten, auf die Welt nicht noch brauner zu wirken als ohnehin schon. Und wenn man deshalb einmal auf einen werdenden Star verzichten muß, ist das eben so.

Natürlich ist die Verwendung und Vorbelastung von Symbolen aller Art eine Frage des Kontexts. In anderen Ländern geht man sicherlich lockerer mit dem Hakenkreuz um, insbesondere, wenn es Teil der eigenen Landeskultur ist, etwa als buddhistisches Zeichen. In Bayreuth aber sind Hakenkreuze eindeutig festgelegt als NS-Symbol - und das wird sich da auch sicherlich nicht ändern, dafür hat die Sippe Wagner viel zu viel Dreck am Stecken.

Und trotzdem - es gibt vieles, was man in Bayreuth ändern könnte, aber ob man Wagneraufführungen besuchen möchte, muß jeder für sich entscheiden können. Das Verführungspotential seiner Libretti jedenfalls schätze ich als überaus gering ein. Und seine Musik ist grundsätzlich erst einmal unpolitisch - bis zum Nachweis des Gegenteils. Auch hier sehe ich es ähnlich wie Anaeyon, schon weil es äußerst kompliziert werden dürfte, herauszubekommen, was Perotin über den Investiturstreit dachte, geschweige denn die Haltung Myrons zur Sklaverei, und welche parteipolitische Position dem heute entspräche... ;-)

Ipsissimus
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Mo 23. Jul 2012, 13:44 - Beitrag #7

na ja, er hat im Interview erklärt, was Sache ist, aber ohne Entäußerung der eigenen Lebensdeutung und deren Unterwerfung unter eine Fremddeutung gibt es in Deutschland wohl keine Vergebung. Was angesichts der Familie Wagner als Retter der demokratischen Geflogenheiten eigentlich nur noch als Groteske gedeutet werden kann.

Ob er sich der Problematik schon immer hätte bewusst sein können, gar müssen? Vielleicht ist Deutschland mit seinen komischen Problemen für einen Murmansker Rocker genau so weit entfernt wie für unsereins die lokalpolitischen Probleme Lapplands? Aber da ich ihn nicht kenne, kann ich ihn natürlich auch nicht zu sehr verteidigen.

Nur ist mir ziemlich klar, dass da mit zweierlei Maß gemessen wird. Die Wagners gehören längst entmachtet. Bei denen steckt nämlich System hinter ihrem braunen Ausfluss, keine juvenile Verwirrung. Aber bei reichen Familien hat Deutschland noch immer gerne Ausnahmen gemacht. Und Bayreuth würde auch ohne die Wagners funktionieren.


Nun, bei Wagner gibt es Tagebücher, die einiges über seine Gesinnung verraten. Seine Aktionen gegen Meyerbeer zeugen nicht wirklich von humanistischer Gesinnung gegen Juden. In der Gesamtausgabe sind auch Zeitungsartikel von ihm enthalten, die die Haare zu Berge stehen lassen.

Und er ist historisch "etwas" näher dran als Perotin und Myron^^

Lykurg
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Mo 23. Jul 2012, 14:58 - Beitrag #8

Ja, "das Judentum in der Musik", ich weiß, außerdem Tagebuchaussagen - dazu aber noch viel massiver Cosimas Verquickung mit Houston Stewart Chamberlain, im Wagner-Clan ging das dann munter ins Braune weiter bis zu Hitlers großen Auftritten zu 'seinen' Festspielen - und natürlich deren bundesrepubliktypische Verdrängungsverarbeitung, auch wenn Wieland Wagner immerhin spannende neue Ansätze hatte. Aber ja, die Sippe wollte ich auch nicht in Schutz nehmen, ebensowenig wie Wagner als Person. Ich möchte allerdings die Musik davon getrennt sehen, wenn immer das möglich ist - deswegen mein Rekurs auf die etwas^^ entfernteren Beispiele (und durchaus im Wissen, daß ich dir damit eine Steilvorlage gab^^) - eine so abstrakte Sicht auf das Werk ohne Berücksichtigung des Künstlers wäre in diesem Fall meines Erachtens zu wünschen - natürlich immer dort, wo es wirklich relevant ist, im Wissen um die historischen Zusammenhänge, aber nicht Rezeption und Entstehung verwechseln. Soll doch der Schuld-Konnex in der Inszenierung der Opern seinen Niederschlag finden; wenn es nicht anders geht, werden die Regisseure es schon so machen. Ich möchte aber auch Les Préludes hören dürfen, ohne an den Wehrmachtsbericht erinnert zu werden, genauso wie das Kaiserquartett auch nichts dafür kann, wer es wann und wozu benutzt hat. Ja, wahrscheinlich hätte im Unterschied zu Haydn (andererseits: der war doch Monarchist?) und Liszt (was auch immer der in seinem Leben ernstgemeint haben mag, man findet doch immer auch das Gegenteil) Wagner auch nichts dagegen gehabt, aber das ist reine Spekulation.

Ipsissimus
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Mo 23. Jul 2012, 15:18 - Beitrag #9

Stellungnahme der Bayerischen Staatsoper^^

http://www.sueddeutsche.de/bayern/eklat-um-nazi-tattoo-in-bayreuth-bayerische-staatsoper-greift-wagner-familie-an-1.1419820

Schon bald allerdings wird Nikitin doch noch zu einem großen Auftritt in einer Wagner-Oper kommen: Am 11. November ist er in "Lohengrin" an der Bayerischen Staatsoper vorgesehen. Und in München sieht man nach dem Eklat keinen Grund, den Auftritt des umstrittenen Bassbaritons abzusagen. Im Gegenteil. Intendant Nikolaus Bachler erhebt nun schwere Vorwürfe gegen die Bayreuther Festspielleiterinnen Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier und die gesamte Familie. "Ich sehe in der Causa Nikitin zunächst mehr ein Problem Bayreuths und der Wagner-Familie als eines des Sängers", heißt es in einer Stellungnahme von Bachler. "Dass die Torheit eines 16-jährigen Rocksängers, der diese längst bereut und versucht hat, ungeschehen zu machen, ausgerechnet nun von der Wagner-Familie geahndet wird, finde ich verlogen." Und weiter: "Man zeigt offenbar mit dem Finger auf jemanden anderen, weil man mit der eigenen Geschichte ein Problem hat."

Nikitin habe den Vorfall nicht nur bedauert, sondern auch Reue gezeigt. Bachler sagt: "Eine Reue, die ich von der Familie Wagner in den letzten 50 Jahren nie vernommen habe."


das musste vielleicht mal so deutlich gesagt werden

janw
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Mo 23. Jul 2012, 15:39 - Beitrag #10

Die Wagners sehen sich eben als Zentrum des Bayreuther Universums...und kulturelle Differe/änz ist weniger Bestandteil konservativer Ideologien.
Die Empfindlichkeit könnte vielleicht noch durch die kürzlichen Probleme bei der Aufführung von Wagners Musik in Israel verstärkt sein, man will eben alles unterbinden, was irgendwie Zweifel an der proklamierten Distanz zur NS-Ideologie nähren könnte. Und wenn man Spatzen vertreiben muss...

Mal weiter gefragt, wie seht Ihr das, daß jemand meint, unbedingt mal Wagner gesungen haben zu müssen?

Lykurg
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Mo 23. Jul 2012, 17:24 - Beitrag #11

Ja, eine deutliche Aussage, Ipsissimus, und sicher zutreffend. Ähnlich übrigens die FAZ:
Versagt hat nicht der russische Sänger. Versagt haben, wieder einmal, die Festspiele. Auch noch 2012 ist der Mythos Bayreuth ein kranker Mythos, voller Flecken. Solange jedenfalls, wie noch Brekerbüsten im Park herumstehen, solange, wie die Familie der Wagners Briefe unter Verschluss hält und die Aufarbeitung ihrer braunen Vergangenheit extern an Wissenschaftler delegiert; solange, wie man verdruckst, verkorkst mit doppelter Zunge spricht und taktiert: Solange wird es in Bayreuth immer wieder hässlich stinken und krachen.
Ich habe den Fall nicht genügend verfolgt und kenne den Sänger nicht genau genug, um beurteilen zu können, ws da an Reue bzw. Einsicht seinerseits gezeigt wurde; die hier genannten Aussagen waren da schon deutlich. Hinsichtlich der Wagners war Bemänteln wohl wirklich meist das Mittel der Wahl, wobei das und zu geringer Differenzierungswille wenig mit Konservativsein zu tun hat. Der 20. Juli ist ja grad wieder drei Tage her.

janw, das Problem bzw. Tabuthema Wagner in Israel besteht im Übrigen seit vielen Jahren, vermutlich in etwa seit der Staatsgründung. Barenboims Versuche, daran etwas zu ändern, sind die eines Musikliebhabers, der sich nicht an derartige Regeln halten will, wenn sie seine künstlerische Freiheit einschränken - und zugleich eines Kenners der Gesetze medialer Aufmerksamkeit.
Mal weiter gefragt, wie seht Ihr das, daß jemand meint, unbedingt mal Wagner gesungen haben zu müssen?
Das hängt von der Stimme ab und von der historischen Spezialisierung des Sängers. Für eine leichte bis mittlere Stimme sind die meisten Wagnerpartien Quatsch, und für einen Barocksänger schon doppelt. Wer allerdings, wie Nikitin, über eine kräftige Stimme in romantischer Ausbildung verfügt, Wagner mag und bereits auf diversen großen internationalen Bühnen Wagnerpartien gesungen hat, dürfte eine Hauptrolle in Bayreuth als einen Höhepunkt seiner Karriere begreifen - und um so erstaunlicher ist das für jemanden mit seinem höchst unkonventionellen Werdegang. Sicher ist es kein Muß - aber eben schon etwas sehr Besonderes.

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Di 24. Jul 2012, 22:52 - Beitrag #12

In gewissen Störmungen des Heavy-Metal finden Hakenkreuze Verwendung.
Teilweise sind sie ähnlich wie früher Totenköpfe oder Petruskreuze Ausdruck der Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft oder reine Provokation, andere sehen darin esoterische Zeichen germanischer Naturmystik (was auch immer dies mit jener Form des Lärms zu tun hat), ein kleiner Teil der Szene identifiziert sich jedoch direkt mit dem National-Sozialismus als dem Ideal des Misanthrophie.
Wer jetzt wer ist, ist schwer zu erkennen. Mit Buddhismus hat es in der Regel rein gar nichts zu. Jeder Bewohner des westlichen Kulturkreises dürfte sich der Bedeutung des Hakenkreuzes als politisches Symbol bewusst sein, ein Irrtum ist daher ausgeschlossen.
Ein Verstoß gegen das § 86a StGB ist es alle mal.
Die Selbsteinschätzung des Sängers als jugendliche Idiotie, die längst übertätowiert wurde, klingt halbwegs überzeugend.

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Mi 25. Jul 2012, 12:29 - Beitrag #13

Ein Verstoß gegen das § 86a StGB ist es alle mal.


nur dass sich Nikitin nicht auf deutschem Boden befunden hat, als er seine Tätowierungen öffentlich zeigte, und selbst die Wagners zugegeben haben, dass er in Bayreuth nicht nackt auftreten würde.

janw
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So 29. Jul 2012, 15:30 - Beitrag #14

Zitat von Lykurg:Ja, eine deutliche Aussage, Ipsissimus, und sicher zutreffend. Ähnlich übrigens die FAZ: Ich habe den Fall nicht genügend verfolgt und kenne den Sänger nicht genau genug, um beurteilen zu können, ws da an Reue bzw. Einsicht seinerseits gezeigt wurde]
Der Begriff der kulturellen Differe/änz entstammt eher weniger konservativen Denkströmungen, und er wäre hier recht hilfreich, da sich damit recht einfach begründen lässt, daß ein Hakenkreuz auf der Brust eines russischen Rockers nicht unbedingt dasselbe aussagen muss, wie auf der Brust eines westeuropäischen Rockers.
Aber die Wagners sind vielleicht einfach nur ehrpusselig, indem es ihren Bestrebungen zur Verbreitung des Wagnerschen Werkes dient, verantwortungslos.

janw, das Problem bzw. Tabuthema Wagner in Israel besteht im Übrigen seit vielen Jahren, vermutlich in etwa seit der Staatsgründung. Barenboims Versuche, daran etwas zu ändern, sind die eines Musikliebhabers, der sich nicht an derartige Regeln halten will, wenn sie seine künstlerische Freiheit einschränken - und zugleich eines Kenners der Gesetze medialer Aufmerksamkeit.

Klar, ein Vertreter der Freiheit der Kunst. :-)
Ich überlegte nur, ob die Probleme bei den Versuchen, die Musik auch in Israel zu etablieren, bei der Familie evtl zu einer erhöhten Empfindlichkeit geführt haben könnten.

Das hängt von der Stimme ab und von der historischen Spezialisierung des Sängers. Für eine leichte bis mittlere Stimme sind die meisten Wagnerpartien Quatsch, und für einen Barocksänger schon doppelt. Wer allerdings, wie Nikitin, über eine kräftige Stimme in romantischer Ausbildung verfügt, Wagner mag und bereits auf diversen großen internationalen Bühnen Wagnerpartien gesungen hat, dürfte eine Hauptrolle in Bayreuth als einen Höhepunkt seiner Karriere begreifen - und um so erstaunlicher ist das für jemanden mit seinem höchst unkonventionellen Werdegang. Sicher ist es kein Muß - aber eben schon etwas sehr Besonderes.

Ich frug so konkret, weil ich mir eines Urteils über Wagners Musik nicht sicher bin - ich empfinde sie als vergleichsweise bombastisch, was Zug der Entstehungszeit sein könnte, aber eben auch in gewisser Weise als programmatisch zu interpretieren. Totale Musik?

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Mi 8. Aug 2012, 19:47 - Beitrag #15

Nunja...

Jonathan Meese soll 2016 den Parsifal inszenieren. Ich denke, man kann sich auf einschlägige Bilder freuen.
Zitat von Welt:Mit dem Fall Nikitin hat das Ganze trotzdem einiges zu tun. Nämlich, dass Meese seinen Protest gegen die Wirklichkeit in Faschismus-, genauer: in Nazisymbolik kleidet. Statt dem Hakenkreuz, das in Deutschland bekanntlich verboten ist, strotzt Meeses Werk vor Eisernen Kreuzen, und wo er kann, zeigt er den Hitlergruß."Das ist gut für den Körper", erklärte er unlängst dem "Spiegel". Die rechte Hand stramm ausgestreckt, schreite er gern mal durch sein Atelier. "Das ist gut, das macht den Körper auf. Das ist nicht diese mickrige Bewegung nach innen. Oh, da finde ich mein Ich, meine Gefühle, meine Seele. Seele wiegt sieben Gramm, wird rausgefurzt."
Nikitin bekäme vielleicht doch noch einmal eine Chance, vorausgesetzt, er radikalisiert sich wieder.^^

Anaeyon
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Mi 8. Aug 2012, 19:59 - Beitrag #16

Vom Regen in die Traufe?

Was haben die davon? Es heißt zwar, auch schlechte Nachrichten seien gute PR, aber gilt das auch für das Thema Nationalsozialismus? Bei einem bildungsnahen Publikum?

Maglor
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Mi 8. Aug 2012, 21:43 - Beitrag #17

Bayreuth hatte dereinst den Schlingensief gezähmt - bedauerlich, dass nun auch Jonathan Meese dran glauben muss.
Ansonsten halte ich J. Meese für eines der besten Beispiele für Mimikri.

Ansonsten fand ich das Entfernen des russischen Sängers absolut unnötig. Ein übertätowiertes Hakenkreuz unter Hemd und Krawatte hätte nur all zu gut zum grünen Hügel gepasst. :rolleyes:

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Fr 10. Aug 2012, 13:11 - Beitrag #18

vielleicht war das das Problem, der zu offensichtliche Bezug, die Parallele


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