Zitat von Ipsissimus:nicht mehr allzuoft^^ ich bin einfach kein Fan von Studioaufnahmen^^
Ich bevorzuge zwar (unter bestimmten Umständen) Live-Auftritte gegenüber Studioaufnahmen, aber jene wiederum gegenüber Aufnahmen von Live-Auftritten. Lieber ein perfekt auf Heimwiedergabe ausgerichtetes Produkt als eine suboptimale Wiedergabe einer eigentlich ganz anders gedachten Darbietung. Sicher ist der Abstand mit modernen Live-Aufnahmemethoden kleiner geworden, aber die Studioversionen bleiben für mich doch stets die "wahren".
Zitat von Ipsissimus:aber interessant, wie du die Atmosphäre des Albums einschätzt^^ ich empfinde es deutlich düsterer, als du es beschreibst^^ Treaty scheint mir dafür archetypisch^^
Ich versuche mich einfach mal an einer partiellen Analyse der ersten beiden Lieder. Vorangestellt sei aber, dass bei diesem Album ein ganz großer Teil meiner Deutung vom Klang beeinflusst wird - Cohen klingt für mich in vielen Passagen einfach zu warm, zu gütig, um eine rein dunkle Interpretation in Erwägung zu ziehen, die man rein von den Texten her vermutlich auch sehr gut belegen könnte. Leider fehlt mir völlig das musikanalytische Rüstzeug, um damit solide zu argumentieren, sodass ich nur an ein paar Stellen, wo die Klangfarbe besonders deutlich auf meinen Eindruck durchschlägt, umgangssprachlich darauf eingehe, ansonsten aber einfach pseudofaktische Behauptungen über die Textbedeutung aufstelle, die man bitte stets als vom Klang geleitet auffassen sollte. Ich spare mir auch Versuche von indirekter Rede und doppeltem Konjunktiv - alle Aussagen sind stets als "so verstehe ich, dass er das so meint" aufzufassen, weder als dass ich mir damit sicher wäre, noch als dass ich ihm unbedingt zustimme. Interpretation halt.
Als Hauptthema sehe ich dabei, dass die lebenslange Sinnsuche, der lebenslange Dialog mit dem fernen, unverstandenen Gott, in Enttäuschung endet; dass diese Enttäuschung zwar nichts daran ändert, dass er weiterhin mit tiefstem Herzen eine direktere, liebende, tröstende, erlösende Gottesbindung wünscht; aber dass er eben auch anerkannt und verarbeitet hat, dass es bei dieser Enttäuschung bleiben müsste, selbst wenn er noch hundert Jahre zu leben und zu suchen hätte. Und sich in dieser Enttäuschung eingerichtet hat, mit Schmerzen zwar, aber irgendwie hat er es. Die Welt mag dunkel sein, Gott macht sie nicht heller - oder will sie gar noch dunkler haben - aber der Mensch muss daran nicht zugrunde gehen, er kann mit Enttäuschung und Schmerzen leben (oder abtreten).
Und als interessantes Nebenthema, das mir jetzt erst gerade aufgefallen ist: eine spezifischere Enttäuschung über die Versprechungen des Christentums, über den existentiellen Gottespakt des Judentums hinausgehenden Trost durch Liebe zu liefern. Das fiel mir jetzt vermutlich durch den Ansatz zu dieser Frage im
Abschieds-Thread auf. Hatte er nicht auch mal eine katholische Phase, vor Zen...?
Texte zitiert nach den
Leonard Cohen Files.
1. You Want It DarkerIf you are the dealer
I am out of the game
If you are the healer
I'm broken and lame
If thine is the glory
Then mine must be the shame
"You" ist hier ausnahmsweise mal natürlich wirklich ganz eindeutig Gott und nur Gott. Läge die Betonung in den "If"-Sätzen stärker auf dem "you", wäre es eine eher modale Satzstruktur und daraus folgend eine sehr direkte Anklage - mit einem anderen, besseren Gott wäre Cohen noch im Spiel, nicht gebrochen und nicht beschämt - aber mit der relativ flachen Betonung klingt die Dreifachkonstruktion eher nach Anerkennung von Fakten. "If"="da", nicht ="falls". Gott ist, wie er ist, und daraus folgt nunmal, dass der sinnsuchende Mensch am Ende seines Lebens enttäuscht und gebrochen dastehen muss. Und da Gott Gott und damit glorreich ist - wiederum das "if" als "da" interpretierend, im jüdischen Sinne keine Zweifel an dieser Grundsetzung lassend - ist es zwar Gott, der diese Zustände bewirkt, aber der Mensch, auf den die Schande zurückfällt.
You want it darker
We kill the flame
Wie gesagt, Gott
will es dunkel - oder dunkler. Nicht ganz klar ist mir, worauf sich der Komparativ bezieht - extemporal betrachtet insgesamt dunkler als eine ideale Welt, die sich der Mensch wünscht, oder auf die Zukunft gerichtet noch dunkler als die dunkle Welt, in der wir bereits leben? In jedem Fall aber: "If It Be Your Will", wenn Gott das so möchte, erfüllen es ihm die Menschen, so sehr sie auch daran leiden mögen.
Magnified and sanctified
Be Thy Holy Name
Vilified and crucified
In the human frame
A million candles burning
For the help that never came
You want it darker
We kill the flame
Die Verehrung des Namens: jüdisch. Die Kreuzigung: christlich. Soweit offensichtlich. Hier noch in klarem Parralelismus, der Kern der Religionen ist derselbe. Und in beiden beten die Menschen seit Ewigkeiten um Hilfe und stellen ihre nutzlosen Kerzen auf, da beider Gott eben nicht gütig-liebend ist, sondern es dunkler will.
Hineni Hineni
I'm ready, my Lord
Trotzdem ist Cohen Gott ergeben - aber nicht nur ergeben, sondern "bereit" - hat sich mit der Dunkelheit und dem erfolglosen Ende seiner Suche abgefunden. Für die tiefere theologische Interpretation von "Hineni" bin ich zwar nicht qualifiziert, mit der
orthodoxen Organisation wird Cohen aber zumindest wenig am Hut haben, das Wort dürfte Allgemeingut sein.
(Interessant: Googlet man "Hineni", zeigt die Infobox am Seitenanfang einen allgemeinen Wikipedia-Ausschnitt zum Wort, daneben aber ein Bild von Cohen, das nichtmal aus dem Artikel stammt. Google scheint einen guten Musikgeschmack zu haben!)
There's a lover in the story
But the story is still the same
Das interpretiere ich jetzt als die spezifische Spitze gegen das Christentum: Der "Lover" ist Jesus, der im Neuen Testament mehr Liebe und mehr Güte versprach als der alte Vater-und-Richter-Gott. Aber das ändert nichts daran, dass die Grundlagen der abrahamitischen Religionen bleiben, wie sie sind, und auch dieser geschickte neumodische Marketinganstrich Gott und seine tatsächliche Beziehung zum Menschen nicht im Wesentlichen geändert hat.
There's a lullaby for suffering
And a paradox to blame
Das "Wiegenlied für Leid" könnte die katholische Obsession mit Leid und Strafe und gleichzeitige Verkitschung und Trivialisierung alles Göttlichen im Christentum gegenüber dem urmythologischen Judentum meinen.
Das Paradox allerdings ist mir immer noch völlig unklar. 1-2-3-Naturen-Problematik der christlichen Theologie...? Oder sind wir schon wieder weg vom Christentum im speziellen und das Paradoxon ist das allgemeine vom suchenden Menschen in der dunklen Welt?
But it's written in the scriptures
And it's not some idle claim
You want it darker
We kill the flame
Egal was im Neuen Testament dann letztlich drinsteht, und was die Menschen und Religionen daraus machen, es bleibt beim ursprünglichen Fakt des dunklen Gottes.
They're lining up the prisoners
The guards are taking aim
I struggled with some demons
They were middle-class and tame
Didn't know I had permission
To murder and to maim
You want it darker
We kill the flame
Reprise
"Almost Like The Blues" von Popular Problems: "There's torture and there's killing, and there's all my bad reviews!" Das eigene Mittelklasse-Leid (selbst wenn es so fundamental ist wie chronische Depressionen, die er iirc an anderer Stelle mal explizit "my daemons" nannte) erscheint trivial im Vergleich zum Gräuel der Konzentrationslager, und wenn man als gebildeter ziviliserter Mensch nur gewusst hätte, dass Gott einem auch kein bisschen offener und freundlicher gegenüber steht als einem mörderischen Monster, warum hat man sich dann eigentlich die Mühe gemacht, ein gutes Leben zu führen?
Hineni Hineni
I'm ready, my Lord
Magnified and sanctified
Be Thy Holy Name
Vilified and crucified
In the human frame
A million candles burning
For the love that never came
You want it darker
We kill the flame
Auftakt zum wiederholenden Ausklang, interessant aber: beim zweiten Mal brennen die Kerzen nun nicht für "Hilfe", sondern für "Liebe", die ebenfalls niemals kam! Nicht nur wurden die Juden nie vor ihren Tragödien gerettet, auch die Christen haben nie ihre versprochene Liebe erhalten.
If you are the dealer
I'm out of the game
If you are the healer
I'm broken and lame
If thine is the glory
Then mine must be the shame
You want it darker
We kill the flame
Hineni Hineni
I'm ready, my Lord
Hymnischer Ausklang. Und trotz Dunkelheit, trotz Gebrochenheit, trotz alledem und alledem: Gott ist "sein Herr", und der Mensch Cohen ist "bereit". So ist die Welt nunmal.
2. TreatyI seen you change the water into wine
I seen you change it back to water too
I sit at your table every night
I try but I just don't get high with you
Mit dem Wasser und Wein wieder stark christliche Themen. Oder gibt es da auch noch ein alttestamentarisches Vorbild, das mir Banause entfallen ist...? Egal, aus dem Versprechen der Verbesserung durch Verwandlung ist letztlich nichts geworden, am Ende wurde aus dem versprochenen Wein doch wieder nur Wasser. Cohen versucht es, wirklich, immer wieder, aber die Versprechungen geben ihm nichts, er wird nicht "high" mit dem angeblich liebenden Gott.
Bemerkenswert finde ich aber die unglaubliche Wärme, mit der er diese Zeilen singt, und das akzeptierende Schulterzucken, das ich bei seiner Aussprache der vierten Zeile so richtig bildlich vor Augen habe. Das ewige Versuchen, die ewige Enttäuschung, das ist tragisch, fundamental tragisch, aber es ist dennoch irgendwie hinnehmbar. Man richtet sich damit ein, lebt damit und davon und darin.
I wish there was a treaty we could sign
I do not care who takes this bloody hill
I'm angry and I'm tired all the time
I wish there was a treaty
I wish there was a treaty
Between your love and mine
Wie gesagt, er wünscht es sich, von tiefstem Herzen, immer wieder.
Der theologische Kern dürfte hier die Verbindung des jüdischen "treaty" mit der christlichen "love" sein. Der jüdische Pakt mit Gott ist existentiell, unaufkündbar, Grundvoraussetzung des Seins und Denkens. Aber er enthält keine Liebe. Die Liebe des christlichen Gottes dagegen ist nur ein Versprechen, es gibt keinen Vertrag, der sie wirklich garantiert. Und Cohen persönlich erfährt sie nicht, da er es nicht schafft, einen solchen Vertrag auf Einzelkundenbasis zu unterschreiben.
Der menschliche Aspekt ist die Wut und Müdigkeit im Alltag - "müde" hat für einen alten Mann natürlich nochmals eine tiefere Bedeutung, aber das Grundgefühl ist für jeden Menschen gleich. Ob der "bloody hill" jetzt eine Kriegs- oder Kreuzigungsanspielung ist, bin ich mir nicht sicher, aber erstere fände ich in diesem Zusammenhang einfacher - weltliche Ereignisse sind egal, sie ändern nichts an Wut und Müdigkeit ob der tieferen Sinnkrise.
They're dancing in the street - it's Jubilee
We sold ourselves for love but now we're free
I'm so sorry for the ghost I made you be
Only one of us was real - and that was me.
Andere Menschen mögen dennoch über triviale Ereignisse jubeln. Nicht jeder "erkrankt" an der existentiellen Sinnkrise. (Siehe
"The Darkness" von "Old Ideas"!) Die "sold"-Zeile ist mir eher unklar, eine Möglichkeit wäre "wir haben uns der christlichen Ideologie des liebenden Gottes hingegeben, nach der Erkenntnis von deren Scheitern sind wir aber frei, die Welt als das zu erkennen, was sie ist"; eine andere "wir haben uns selbst für die partnerschaftliche Liebe aufgeopfert, und erst nach deren Scheitern sind wir als Individuen frei". Beides, oder auch die Kombination, starke Aussagen, aber im Kontext mich bisher nicht ganz zufriedenstellend.
Der "Geist"-Satz und die folgenden Zeilen zeigen dann auch wieder ganz klar Cohens klassische Ambiguität, ob er noch mit Gott redet oder nicht doch eher mit einer (ehemaligen) menschlichen Liebhaberin, oder mit beiden - im Zweifel mal wieder mit beiden. Gegenüber einer Frau: letztlich hat er sich nie so voll auf sie eingelassen, dass sie (für die Belange seines existentiellen Suchens) wirklich real (geblieben/geworden) wäre, blieb auf sich gestellt. Gegenüber Gott: so fundamental er auch ist, so ist er letztlich doch keine reale Präsenz im Leben des Suchenden, und man bleibt stets auf sich selbst zurückgeworfen. Man kann sich vielleicht am Ende "bereit" für ihn fühlen, aber das kann nur aus einem selbst heraus kommen. Er fordert nur, hilft nicht.
I haven't said a word since you've been gone
That any liar couldn't say as well
I just can't believe the static coming on
You were my ground - my safe and sound
You were my aerial
Einfacher und wörtlicher zu interpretieren, wenn man "you" als Liebhaberin interpretiert, aber auch mit Gott ergibt es weiterhin Sinn - er hat sich einst voll auf sie/ihn verlassen und konzentriert, seit dem Scheitern der Beziehung (in beiden Sinnen) ist da die allseits bekannte Leere, das Gefühl, nur eine Lüge zu leben. "Only one of us was real - and that was me." könnte dabei dann durchaus auch eines der Worte, die ein Lügner genauso sagen könnte, darstellen - so erscheint es einem selbst in der grenzenlosen Enttäuschung, aber ob man damit dann nicht doch nur die größere Wirklichkeit verleugnet...?
The fields are crying out - it's Jubilee
We sold ourselves for love but now we're free
I'm so sorry for the ghost I made you be
Only one of us was real - and that was me.
Hmm, tieferer Sinn der "fields" entgeht mir, irgendeine Bibel- oder poetische Anspielung...?
I heard the snake was baffled by his sin
He shed his scales to find the snake within
But born again is born without a skin
The poison enters into everything
Ich denke, mit diesem Eden-Bezug kommt man nicht weit, wenn man die Schlange als externen Antagonisten auffasst, sondern muss vom Menschen als selbstverschuldeten Sünder ausgehen. Ihn verblüffte sein eigenes Vermögen zur Sünde, oder dass Gott ihm ein Konzept von Sünde aufzwang, oder vermutlich beides. Die Sünde ist auch keine Äußerlichkeit, die man loswerden könnte, wenn man versucht, sein Inneres Selbst zu finden, sondern inhärent. Und auch die (christlich konnotierte) Wiedergeburt erlöst nicht von Sünden, und wer sich auf solche Selbst-, Sinn- und Gottsuche oder gar religiöse Wiedergeburt einlässt, verliert sogar nur seine Schutzhülle gegen das Böse der Welt. Das erklärt dann wohl auch, warum andere, einfachere Menschen singen und tanzen, während der Intellektuelle Suchende sich "die Dunkelheit einfängt" und traurig und verzweifelt den Zustand der Welt bedauert.
Interessant auch der Rückbezug vom "Gift, dass in alles eindringt" auf die ungleich optimistischeren, aber bemerkenswert parallelen Zeilen aus
"Anthem" von "The Future": "There is a crack in everything, that's how the light gets in." Das könnte man als komplettes Ablösen der Hoffnung auf langfristige Erlösung durch resignierte Anerkennung des Bösen, Dunklen in allem seit Anbeginn der Zeiten interpretieren; aufgrund der Spuren von Optimismus, die ich in Klang und Texten ansonsten immer noch finde, sehe ich es aber eher als Ergänzung, Anerkennung der konkurrierenden dualistischen Kräfte, nicht als Widerruf.
I wish there was a treaty we could sign
I do not care who takes the bloody hill
I'm angry and I'm tired all the time
I wish there was a treaty
I wish there was a treaty
Between your love and mine
I wish there was a treaty we could sign
It's over now, the water and the wine
We were broken then, but now we're borderline
I wish there was a treaty
I wish there was a treaty
Between your love and mine
Der Grundzustand wird durch mehrfache Wiederholung betont - wütend und müde, noch immer mit dem unerfüllten Wunsch des Liebesvertrags. Nicht noch einmal wiederholt wird aber der Verlust (die Geist-Zeilen), und aus dem "es ist vorbei" folgt keine weitere Enttäuschung, sondern im Gegenteil sogar eine leichte Verbesserung: von "broken" zwar nicht zu "healed", aber immerhin zu "borderline". Ich denke, dieses Lied verarbeitet einen
vergangenen Moment der großen Enttäuschung, von dem zwar ein tiefsitzendes, schmerzhaft unerfülltes Verlangen geblieben ist, aus der Erkenntnis der ewigen Unerfüllbarkeit aber eine gewisse Ruhe gewonnen wurde. Paradoxe Erfülltheit in der Unerfülltheit.