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You want it darker

BeitragVerfasst: Di 29. Nov 2016, 19:01
von Ipsissimus
Bin jetzt durch mit der CD, Cohens 14. und letztes Album, veröffentlicht kurz vor seinem Tod.

Das Album ist vollgestopft mit religiösen Anspielungen, es spielt mit religiösen Referenzen, aber letztlich wird klar, dass Cohen keine Stellung bezieht, nicht zur Gretchen-Frage. Er lässt es offen: "When I turned my back on the devil turned my back on the angel, too." (On the level)

Die Texte sind ... düster, viel düster als in früheren Songs. Und in Ambiguität getaucht. Kein versöhnliches Ausklingen, eher der Abschied eines Ungewissen.

"I wish there was a treaty we could sign
It's over now, the water and the wine
We were broken then but now we're borderline
And I wish there was a treaty, I wish there was a treaty between your love and mine"

Die Musik ist Cohen, wie man ihn in den letzten Jahren kennt, leider alles Studioaufnahmen, aber zwei Perlen ("You want it darker" und "It seemed the better way") sind doch noch dabei. Auch "Steer your way" hat mich überzeugt.

BeitragVerfasst: Fr 4. Aug 2017, 21:56
von Traitor
Und, hast du mitgezählt, wieviele weitere Male du sie seit letztem November noch durchgehört hast...? ;)

"Steer Your Way" ist wohl mein Lieblingsstück von diesem Album, das in seinen weltlich-prophetischen Anklängen an "The Future" erinnert, aber paradoxerweise gleichzeitig mit mehr Altersweisheit statt dem damaligen enttäuschten Zynismus sowie mit mehr endgültiger Resignation statt damaliger wiederaufkeimender Hoffnung...

Ansonsten ja, es ist dunkel, die Aura des glückselig erleuchteten Alten von "Old Ideas" ist verflogen. Aber es ist nicht depressiv, nicht traurig, nicht verzweifelt. Eher ein Abfinden damit, dass die Welt nunmal dunkel sei, und man sich damit arrangieren muss - aber auch eine Bestätigung, dass man das kann, und darüber vielleicht kein Glück findet, aber doch einen höheren Erkenntnisstand.

Es gibt da auch ein Zitat von ihm zum Älterwerden, aufs Äußere bezogen:
You start off irresistible. And then you become resistible. Then you become transparent. Not exactly invisible, but as if you’re seen through old plastic. And then you do actually become invisible. And then— and this is the most amazing transformation— you become repulsive. But that’s not the end of the story. After repulsive, you become cute. And that’s where I am.

Eine ähnliche Stufenentwicklung, wenn auch vielleicht stärker oszillierend, scheint auch seine (nach außen dargestellte) innere Einstellung genommen zu haben. Auch die letzten Interviews wechselten ja zwischen "nur noch Schmerz" und "alles wunderbar" hin und her. Letztlich starb er als das Rätsel, das er immer schon war - wieviel von den hellen und wieviel von den dunklen Seiten war echt, wieviel Darstellung, nach außen und wohl auch nach innen?

Und andererseits ist da "If I Didn't Have Your Love", so schön hell und freundlich, vielleicht das positivste Liebeslied seines ganzen Kanons? Wenn mir da nicht, auch im x-ten Hören, nicht doch ein doppelter Boden entgangen sein sollte....

Zitat von Ipsissimus:leider alles Studioaufnahmen
Live-Alben gab es doch in den letzten Jahren noch eine ganze Menge.

BeitragVerfasst: Fr 4. Aug 2017, 23:07
von Ipsissimus
nicht mehr allzuoft^^ ich bin einfach kein Fan von Studioaufnahmen^^

aber interessant, wie du die Atmosphäre des Albums einschätzt^^ ich empfinde es deutlich düsterer, als du es beschreibst^^ Treaty scheint mir dafür archetypisch^^

BeitragVerfasst: Sa 5. Aug 2017, 22:28
von Traitor
Zitat von Ipsissimus:nicht mehr allzuoft^^ ich bin einfach kein Fan von Studioaufnahmen^^
Ich bevorzuge zwar (unter bestimmten Umständen) Live-Auftritte gegenüber Studioaufnahmen, aber jene wiederum gegenüber Aufnahmen von Live-Auftritten. Lieber ein perfekt auf Heimwiedergabe ausgerichtetes Produkt als eine suboptimale Wiedergabe einer eigentlich ganz anders gedachten Darbietung. Sicher ist der Abstand mit modernen Live-Aufnahmemethoden kleiner geworden, aber die Studioversionen bleiben für mich doch stets die "wahren".

Zitat von Ipsissimus:aber interessant, wie du die Atmosphäre des Albums einschätzt^^ ich empfinde es deutlich düsterer, als du es beschreibst^^ Treaty scheint mir dafür archetypisch^^


Ich versuche mich einfach mal an einer partiellen Analyse der ersten beiden Lieder. Vorangestellt sei aber, dass bei diesem Album ein ganz großer Teil meiner Deutung vom Klang beeinflusst wird - Cohen klingt für mich in vielen Passagen einfach zu warm, zu gütig, um eine rein dunkle Interpretation in Erwägung zu ziehen, die man rein von den Texten her vermutlich auch sehr gut belegen könnte. Leider fehlt mir völlig das musikanalytische Rüstzeug, um damit solide zu argumentieren, sodass ich nur an ein paar Stellen, wo die Klangfarbe besonders deutlich auf meinen Eindruck durchschlägt, umgangssprachlich darauf eingehe, ansonsten aber einfach pseudofaktische Behauptungen über die Textbedeutung aufstelle, die man bitte stets als vom Klang geleitet auffassen sollte. Ich spare mir auch Versuche von indirekter Rede und doppeltem Konjunktiv - alle Aussagen sind stets als "so verstehe ich, dass er das so meint" aufzufassen, weder als dass ich mir damit sicher wäre, noch als dass ich ihm unbedingt zustimme. Interpretation halt.

Als Hauptthema sehe ich dabei, dass die lebenslange Sinnsuche, der lebenslange Dialog mit dem fernen, unverstandenen Gott, in Enttäuschung endet; dass diese Enttäuschung zwar nichts daran ändert, dass er weiterhin mit tiefstem Herzen eine direktere, liebende, tröstende, erlösende Gottesbindung wünscht; aber dass er eben auch anerkannt und verarbeitet hat, dass es bei dieser Enttäuschung bleiben müsste, selbst wenn er noch hundert Jahre zu leben und zu suchen hätte. Und sich in dieser Enttäuschung eingerichtet hat, mit Schmerzen zwar, aber irgendwie hat er es. Die Welt mag dunkel sein, Gott macht sie nicht heller - oder will sie gar noch dunkler haben - aber der Mensch muss daran nicht zugrunde gehen, er kann mit Enttäuschung und Schmerzen leben (oder abtreten).
Und als interessantes Nebenthema, das mir jetzt erst gerade aufgefallen ist: eine spezifischere Enttäuschung über die Versprechungen des Christentums, über den existentiellen Gottespakt des Judentums hinausgehenden Trost durch Liebe zu liefern. Das fiel mir jetzt vermutlich durch den Ansatz zu dieser Frage im Abschieds-Thread auf. Hatte er nicht auch mal eine katholische Phase, vor Zen...?

Texte zitiert nach den Leonard Cohen Files.

1. You Want It Darker

If you are the dealer
I am out of the game
If you are the healer
I'm broken and lame
If thine is the glory
Then mine must be the shame

"You" ist hier ausnahmsweise mal natürlich wirklich ganz eindeutig Gott und nur Gott. Läge die Betonung in den "If"-Sätzen stärker auf dem "you", wäre es eine eher modale Satzstruktur und daraus folgend eine sehr direkte Anklage - mit einem anderen, besseren Gott wäre Cohen noch im Spiel, nicht gebrochen und nicht beschämt - aber mit der relativ flachen Betonung klingt die Dreifachkonstruktion eher nach Anerkennung von Fakten. "If"="da", nicht ="falls". Gott ist, wie er ist, und daraus folgt nunmal, dass der sinnsuchende Mensch am Ende seines Lebens enttäuscht und gebrochen dastehen muss. Und da Gott Gott und damit glorreich ist - wiederum das "if" als "da" interpretierend, im jüdischen Sinne keine Zweifel an dieser Grundsetzung lassend - ist es zwar Gott, der diese Zustände bewirkt, aber der Mensch, auf den die Schande zurückfällt.
You want it darker
We kill the flame

Wie gesagt, Gott will es dunkel - oder dunkler. Nicht ganz klar ist mir, worauf sich der Komparativ bezieht - extemporal betrachtet insgesamt dunkler als eine ideale Welt, die sich der Mensch wünscht, oder auf die Zukunft gerichtet noch dunkler als die dunkle Welt, in der wir bereits leben? In jedem Fall aber: "If It Be Your Will", wenn Gott das so möchte, erfüllen es ihm die Menschen, so sehr sie auch daran leiden mögen.
Magnified and sanctified
Be Thy Holy Name
Vilified and crucified
In the human frame
A million candles burning
For the help that never came
You want it darker
We kill the flame

Die Verehrung des Namens: jüdisch. Die Kreuzigung: christlich. Soweit offensichtlich. Hier noch in klarem Parralelismus, der Kern der Religionen ist derselbe. Und in beiden beten die Menschen seit Ewigkeiten um Hilfe und stellen ihre nutzlosen Kerzen auf, da beider Gott eben nicht gütig-liebend ist, sondern es dunkler will.
Hineni Hineni
I'm ready, my Lord

Trotzdem ist Cohen Gott ergeben - aber nicht nur ergeben, sondern "bereit" - hat sich mit der Dunkelheit und dem erfolglosen Ende seiner Suche abgefunden. Für die tiefere theologische Interpretation von "Hineni" bin ich zwar nicht qualifiziert, mit der orthodoxen Organisation wird Cohen aber zumindest wenig am Hut haben, das Wort dürfte Allgemeingut sein.
(Interessant: Googlet man "Hineni", zeigt die Infobox am Seitenanfang einen allgemeinen Wikipedia-Ausschnitt zum Wort, daneben aber ein Bild von Cohen, das nichtmal aus dem Artikel stammt. Google scheint einen guten Musikgeschmack zu haben!)
There's a lover in the story
But the story is still the same

Das interpretiere ich jetzt als die spezifische Spitze gegen das Christentum: Der "Lover" ist Jesus, der im Neuen Testament mehr Liebe und mehr Güte versprach als der alte Vater-und-Richter-Gott. Aber das ändert nichts daran, dass die Grundlagen der abrahamitischen Religionen bleiben, wie sie sind, und auch dieser geschickte neumodische Marketinganstrich Gott und seine tatsächliche Beziehung zum Menschen nicht im Wesentlichen geändert hat.
There's a lullaby for suffering
And a paradox to blame

Das "Wiegenlied für Leid" könnte die katholische Obsession mit Leid und Strafe und gleichzeitige Verkitschung und Trivialisierung alles Göttlichen im Christentum gegenüber dem urmythologischen Judentum meinen.
Das Paradox allerdings ist mir immer noch völlig unklar. 1-2-3-Naturen-Problematik der christlichen Theologie...? Oder sind wir schon wieder weg vom Christentum im speziellen und das Paradoxon ist das allgemeine vom suchenden Menschen in der dunklen Welt?
But it's written in the scriptures
And it's not some idle claim
You want it darker
We kill the flame

Egal was im Neuen Testament dann letztlich drinsteht, und was die Menschen und Religionen daraus machen, es bleibt beim ursprünglichen Fakt des dunklen Gottes.
They're lining up the prisoners
The guards are taking aim
I struggled with some demons
They were middle-class and tame
Didn't know I had permission
To murder and to maim
You want it darker
We kill the flame

Reprise "Almost Like The Blues" von Popular Problems: "There's torture and there's killing, and there's all my bad reviews!" Das eigene Mittelklasse-Leid (selbst wenn es so fundamental ist wie chronische Depressionen, die er iirc an anderer Stelle mal explizit "my daemons" nannte) erscheint trivial im Vergleich zum Gräuel der Konzentrationslager, und wenn man als gebildeter ziviliserter Mensch nur gewusst hätte, dass Gott einem auch kein bisschen offener und freundlicher gegenüber steht als einem mörderischen Monster, warum hat man sich dann eigentlich die Mühe gemacht, ein gutes Leben zu führen?
Hineni Hineni
I'm ready, my Lord

Magnified and sanctified
Be Thy Holy Name
Vilified and crucified
In the human frame
A million candles burning
For the love that never came
You want it darker
We kill the flame

Auftakt zum wiederholenden Ausklang, interessant aber: beim zweiten Mal brennen die Kerzen nun nicht für "Hilfe", sondern für "Liebe", die ebenfalls niemals kam! Nicht nur wurden die Juden nie vor ihren Tragödien gerettet, auch die Christen haben nie ihre versprochene Liebe erhalten.
If you are the dealer
I'm out of the game
If you are the healer
I'm broken and lame
If thine is the glory
Then mine must be the shame
You want it darker
We kill the flame

Hineni Hineni
I'm ready, my Lord

Hymnischer Ausklang. Und trotz Dunkelheit, trotz Gebrochenheit, trotz alledem und alledem: Gott ist "sein Herr", und der Mensch Cohen ist "bereit". So ist die Welt nunmal.


2. Treaty

I seen you change the water into wine
I seen you change it back to water too
I sit at your table every night
I try but I just don't get high with you

Mit dem Wasser und Wein wieder stark christliche Themen. Oder gibt es da auch noch ein alttestamentarisches Vorbild, das mir Banause entfallen ist...? Egal, aus dem Versprechen der Verbesserung durch Verwandlung ist letztlich nichts geworden, am Ende wurde aus dem versprochenen Wein doch wieder nur Wasser. Cohen versucht es, wirklich, immer wieder, aber die Versprechungen geben ihm nichts, er wird nicht "high" mit dem angeblich liebenden Gott.
Bemerkenswert finde ich aber die unglaubliche Wärme, mit der er diese Zeilen singt, und das akzeptierende Schulterzucken, das ich bei seiner Aussprache der vierten Zeile so richtig bildlich vor Augen habe. Das ewige Versuchen, die ewige Enttäuschung, das ist tragisch, fundamental tragisch, aber es ist dennoch irgendwie hinnehmbar. Man richtet sich damit ein, lebt damit und davon und darin.
I wish there was a treaty we could sign
I do not care who takes this bloody hill
I'm angry and I'm tired all the time
I wish there was a treaty
I wish there was a treaty
Between your love and mine

Wie gesagt, er wünscht es sich, von tiefstem Herzen, immer wieder.
Der theologische Kern dürfte hier die Verbindung des jüdischen "treaty" mit der christlichen "love" sein. Der jüdische Pakt mit Gott ist existentiell, unaufkündbar, Grundvoraussetzung des Seins und Denkens. Aber er enthält keine Liebe. Die Liebe des christlichen Gottes dagegen ist nur ein Versprechen, es gibt keinen Vertrag, der sie wirklich garantiert. Und Cohen persönlich erfährt sie nicht, da er es nicht schafft, einen solchen Vertrag auf Einzelkundenbasis zu unterschreiben.
Der menschliche Aspekt ist die Wut und Müdigkeit im Alltag - "müde" hat für einen alten Mann natürlich nochmals eine tiefere Bedeutung, aber das Grundgefühl ist für jeden Menschen gleich. Ob der "bloody hill" jetzt eine Kriegs- oder Kreuzigungsanspielung ist, bin ich mir nicht sicher, aber erstere fände ich in diesem Zusammenhang einfacher - weltliche Ereignisse sind egal, sie ändern nichts an Wut und Müdigkeit ob der tieferen Sinnkrise.
They're dancing in the street - it's Jubilee
We sold ourselves for love but now we're free
I'm so sorry for the ghost I made you be
Only one of us was real - and that was me.

Andere Menschen mögen dennoch über triviale Ereignisse jubeln. Nicht jeder "erkrankt" an der existentiellen Sinnkrise. (Siehe "The Darkness" von "Old Ideas"!) Die "sold"-Zeile ist mir eher unklar, eine Möglichkeit wäre "wir haben uns der christlichen Ideologie des liebenden Gottes hingegeben, nach der Erkenntnis von deren Scheitern sind wir aber frei, die Welt als das zu erkennen, was sie ist"; eine andere "wir haben uns selbst für die partnerschaftliche Liebe aufgeopfert, und erst nach deren Scheitern sind wir als Individuen frei". Beides, oder auch die Kombination, starke Aussagen, aber im Kontext mich bisher nicht ganz zufriedenstellend.
Der "Geist"-Satz und die folgenden Zeilen zeigen dann auch wieder ganz klar Cohens klassische Ambiguität, ob er noch mit Gott redet oder nicht doch eher mit einer (ehemaligen) menschlichen Liebhaberin, oder mit beiden - im Zweifel mal wieder mit beiden. Gegenüber einer Frau: letztlich hat er sich nie so voll auf sie eingelassen, dass sie (für die Belange seines existentiellen Suchens) wirklich real (geblieben/geworden) wäre, blieb auf sich gestellt. Gegenüber Gott: so fundamental er auch ist, so ist er letztlich doch keine reale Präsenz im Leben des Suchenden, und man bleibt stets auf sich selbst zurückgeworfen. Man kann sich vielleicht am Ende "bereit" für ihn fühlen, aber das kann nur aus einem selbst heraus kommen. Er fordert nur, hilft nicht.
I haven't said a word since you've been gone
That any liar couldn't say as well
I just can't believe the static coming on
You were my ground - my safe and sound
You were my aerial

Einfacher und wörtlicher zu interpretieren, wenn man "you" als Liebhaberin interpretiert, aber auch mit Gott ergibt es weiterhin Sinn - er hat sich einst voll auf sie/ihn verlassen und konzentriert, seit dem Scheitern der Beziehung (in beiden Sinnen) ist da die allseits bekannte Leere, das Gefühl, nur eine Lüge zu leben. "Only one of us was real - and that was me." könnte dabei dann durchaus auch eines der Worte, die ein Lügner genauso sagen könnte, darstellen - so erscheint es einem selbst in der grenzenlosen Enttäuschung, aber ob man damit dann nicht doch nur die größere Wirklichkeit verleugnet...?
The fields are crying out - it's Jubilee
We sold ourselves for love but now we're free
I'm so sorry for the ghost I made you be
Only one of us was real - and that was me.

Hmm, tieferer Sinn der "fields" entgeht mir, irgendeine Bibel- oder poetische Anspielung...?
I heard the snake was baffled by his sin
He shed his scales to find the snake within
But born again is born without a skin
The poison enters into everything

Ich denke, mit diesem Eden-Bezug kommt man nicht weit, wenn man die Schlange als externen Antagonisten auffasst, sondern muss vom Menschen als selbstverschuldeten Sünder ausgehen. Ihn verblüffte sein eigenes Vermögen zur Sünde, oder dass Gott ihm ein Konzept von Sünde aufzwang, oder vermutlich beides. Die Sünde ist auch keine Äußerlichkeit, die man loswerden könnte, wenn man versucht, sein Inneres Selbst zu finden, sondern inhärent. Und auch die (christlich konnotierte) Wiedergeburt erlöst nicht von Sünden, und wer sich auf solche Selbst-, Sinn- und Gottsuche oder gar religiöse Wiedergeburt einlässt, verliert sogar nur seine Schutzhülle gegen das Böse der Welt. Das erklärt dann wohl auch, warum andere, einfachere Menschen singen und tanzen, während der Intellektuelle Suchende sich "die Dunkelheit einfängt" und traurig und verzweifelt den Zustand der Welt bedauert.
Interessant auch der Rückbezug vom "Gift, dass in alles eindringt" auf die ungleich optimistischeren, aber bemerkenswert parallelen Zeilen aus "Anthem" von "The Future": "There is a crack in everything, that's how the light gets in." Das könnte man als komplettes Ablösen der Hoffnung auf langfristige Erlösung durch resignierte Anerkennung des Bösen, Dunklen in allem seit Anbeginn der Zeiten interpretieren; aufgrund der Spuren von Optimismus, die ich in Klang und Texten ansonsten immer noch finde, sehe ich es aber eher als Ergänzung, Anerkennung der konkurrierenden dualistischen Kräfte, nicht als Widerruf.
I wish there was a treaty we could sign
I do not care who takes the bloody hill
I'm angry and I'm tired all the time
I wish there was a treaty
I wish there was a treaty
Between your love and mine
I wish there was a treaty we could sign
It's over now, the water and the wine
We were broken then, but now we're borderline
I wish there was a treaty
I wish there was a treaty
Between your love and mine

Der Grundzustand wird durch mehrfache Wiederholung betont - wütend und müde, noch immer mit dem unerfüllten Wunsch des Liebesvertrags. Nicht noch einmal wiederholt wird aber der Verlust (die Geist-Zeilen), und aus dem "es ist vorbei" folgt keine weitere Enttäuschung, sondern im Gegenteil sogar eine leichte Verbesserung: von "broken" zwar nicht zu "healed", aber immerhin zu "borderline". Ich denke, dieses Lied verarbeitet einen vergangenen Moment der großen Enttäuschung, von dem zwar ein tiefsitzendes, schmerzhaft unerfülltes Verlangen geblieben ist, aus der Erkenntnis der ewigen Unerfüllbarkeit aber eine gewisse Ruhe gewonnen wurde. Paradoxe Erfülltheit in der Unerfülltheit.

BeitragVerfasst: Di 8. Aug 2017, 16:18
von Ipsissimus
Bei Studioaufnahmen habe ich fast immer das Gefühl, die Künstler sind wie gefesselt, während sie bei Liveaufnahmen eher wie entfesselt wirken^^

Hinsichtlich Cohen muss ich zugeben, dass ich seine Art von Religiosität nicht wirklich nachvollziehen kann. Letztlich bin ich von meinem damaligen Meditationslehrer weg, weil ich dessen Versuch, christliches und buddhistisches Gedankengut in Harmonie zu bringen, nicht mehr mit tragen konnte; genauso wenig verstehe ich, was ein jüdischer Buddhismus sein will oder kann. Insofern respektiere ich Cohens Form der Auseinandersetzung mit diesen Themen zwar als seinen spezifischen Weg, aber ich kann es nicht nachvollziehen. Ich könnte es nachvollziehen, wenn es Phasen wären und die Phasen beendet gewesen wären, nachdem sie vorüber waren. Waren sie aber nicht, sie durchmischen sich, er braucht im Grunde nur If ist be your will, das Hohelied der Selbstpreisgabe, und Susanne, das Hohelied der Selbstverwirklichung, gemeinsam in einem Konzert zu bringen - was er getan hat - und ich weiß nicht mehr, wer Leonard Cohen ist/war. Vielleicht ein Zerrissener. Andere Liederpaare funktionieren genausowenig.

Deswegen ist die Klangfarbe für mich kein Trost^^ zum einen ist er in den letzten 10 Jahren wenig originell gewesen, die Atmosphären der Stücke ähneln sich bis zur Ununterscheidbarkeit, und seine Stimme hat sich immer mehr verloren. Ich glaube also, dass der musikalische Part zumindest in den letzten 10 Jahren der am wenigsten wichtige Part seiner Lieder war und der textliche Part immer mehr Bedeutung erlangt hat, weit über die Bedeutung hinaus, die er bei Cohen, dem Musiker, der eigentlich ein Dichter ist, schon immer einnahm. Die Texte aber geben genau das Tohuwabohu von einander teilweise widersprechenden, teilweise einander stützenden religiösen Gefühlsfragmenten wieder, das ich erst in You want it darker überwunden sehe. Überwunden sehe in dem Sinne, dass er sich nicht nach Art von Hiob in die Übermacht Gottes einschickt, sondern indem er resigniert: If you are the dealer I'm out of the game. Was ich interpretiere als: Wenn du tatsächlich der Spielleiter sein solltest, spiele ich nicht mit.

Oder deutlicher noch: I wish there was a treaty between your love and mine. Er hat also verstanden, dass es diesen Vertrag nie gab und erwartet deswegen nichts mehr von Gott, auch hier ohne den Weg Hiobs zu gehen, sich Gott ob dessen Machtfülle zu fügen.

Cohen sagt soviel wie: Es ist mir scheißegal geworden, ob es dich gibt. Du hast dich nie gezeigt, wie kannst du erwarten, dass ich noch mit dir rechne?

Und in dieser Haltung ist er gestorben.

BeitragVerfasst: Di 15. Aug 2017, 21:56
von Traitor
Zitat von Ipsissimus:Bei Studioaufnahmen habe ich fast immer das Gefühl, die Künstler sind wie gefesselt, während sie bei Liveaufnahmen eher wie entfesselt wirken^^
In manchen Genres mag das tatsächlich sehr oft gelten. Vieles, was ich gerne höre, ist/war aber live einfach nicht vollständig umsetzbar. Und um das nicht zu einer Allgemeindiskussion zu machen, sondern cohenspezifisch: bei seinen älteren Liveaufnahmen habe ich im Gegenteil den Eindruck, dass er von der öffentlichen Drucksituation wie gefesselt war, und sich nur für die Studioaufnahmen voll auf die Darbietung der Lieder einlassen konnte. Viele seiner alten Live-Fassungen haben ein paar interessante Aspekte, sind aber zu holprig, um mit den Studiofassungen mithalten zu können. Im späten Leben hat er dann als Bühnenfigur noch deutlich dazugelernt und eigenständig magische Fassungen geschaffen, die ich als echtes Live durchaus auf einem Niveau mit den Alben fand, in Konserve aber wiederum nicht, da zu viel verlierend.

Zitat von Ipsissimus:Hinsichtlich Cohen muss ich zugeben, dass ich seine Art von Religiosität nicht wirklich nachvollziehen kann.
Klar, das kann ich auch nicht. Ich kann gar keine Religiösität nachvollziehen. Aber wie ich im Nachrufthread schrieb:
Zitat von Traitor:Und, oh ja, "If it be your will". Wenn mir irgendjemand die Faszination religiöser Gefühle auch nur ein kleinstes Bisschen verständlich machen konnte, dann war das Cohen.
Nicht den Inhalt der Gefühle. Aber ihre Faszination.

Zitat von Ipsissimus:und ich weiß nicht mehr, wer Leonard Cohen ist/war. Vielleicht ein Zerrissener.
Mit Sicherheit ein Zerrissener. Was ich "Suchenden" nannte. Aber auch: ein Sänger. Ein Entertainer. Ich neige selbst dazu, alles vom ihm überzuinterpretieren. Aber man darf auch nie vergessen, dass er in erster Linie Geld mit seinen Liedern verdienen musste. Gerade seinen größten Schlager Suzanne in späteren Konzerten zu bringen, würde ich nicht als tiefere inhaltliche Aussage interpretieren wollen, sondern in erster Linie als Crowdpleasing. Davon abgesehen, sehe ich als die Konstante und das verbindende Element dann aber eben immer schon die Suche und den Zweifel. Das ist, stärker als Klangfarbe oder Interpretationsdetails, der Hauptgrund, dass ich das letzte Album nicht als große Umkehr sehe.

Ich glaube also, dass der musikalische Part zumindest in den letzten 10 Jahren der am wenigsten wichtige Part seiner Lieder war und der textliche Part immer mehr Bedeutung erlangt hat, weit über die Bedeutung hinaus, die er bei Cohen, dem Musiker, der eigentlich ein Dichter ist, schon immer einnahm.
Keinerlei Widerspruch.

Die Texte aber geben genau das Tohuwabohu von einander teilweise widersprechenden, teilweise einander stützenden religiösen Gefühlsfragmenten wieder, das ich erst in You want it darker überwunden sehe. Überwunden sehe in dem Sinne, dass er sich nicht nach Art von Hiob in die Übermacht Gottes einschickt, sondern indem er resigniert: If you are the dealer I'm out of the game. Was ich interpretiere als: Wenn du tatsächlich der Spielleiter sein solltest, spiele ich nicht mit.
Oder deutlicher noch: I wish there was a treaty between your love and mine. Er hat also verstanden, dass es diesen Vertrag nie gab und erwartet deswegen nichts mehr von Gott, auch hier ohne den Weg Hiobs zu gehen, sich Gott ob dessen Machtfülle zu fügen.

Da sind wir uns dann doch eigentlich relativ einig.

Cohen sagt soviel wie: Es ist mir scheißegal geworden, ob es dich gibt. Du hast dich nie gezeigt, wie kannst du erwarten, dass ich noch mit dir rechne?

Ja, soweit ist das offenkundig. Aber da scheint noch etwas zu sein, das darüber hinausgeht. Wie erklärst du dir das Hineni? Das ist für mich dieses "ich bin enttäuscht, du bist mir egal, ABER!".

Und in dieser Haltung ist er gestorben.
Aber ist das nun ein Scheitern, oder eine Erkenntnis? Eine Erkenntnis des Scheiterns, die besser ist als ein fehlgeleiteter Glauben, nicht gescheitert zu sein?

BeitragVerfasst: Mi 16. Aug 2017, 16:27
von Ipsissimus
Zitat von Traitor:Aber da scheint noch etwas zu sein, das darüber hinausgeht. Wie erklärst du dir das Hineni? Das ist für mich dieses "ich bin enttäuscht, du bist mir egal, ABER!".


hineni - Hier bin ich - antwortete Abraham auf die Berufung durch Gott. Hineni ist Selbstpreisgabe an eine übermächtige Instanz ohne Möglichkeit der Kontrolle, was sie mit einem machen wird. Das erlaubt zwei grundlegende Interpretationen. Es kann sich um den Ausdruck eines abgrundtiefen, unhinterfragbaren Vertrauens handeln, oder aber um den Ausdruck eines resignierten Schulterzuckens, dass der überlegenen Macht zwar nicht automatisch überlegene Moral zubilligt, aber weiß, dass das ohnehin gleichgültig ist, weil eben nichts unternommen werden kann, was die Beschlüsse dieser Macht ändert. Wenn du mich fragst, welche Interpretation bei Cohen zutrifft, würde ich sagen: beide. Cohen, der Zerrissene, Cohen, der glauben möchte, aber nie eine Antwort erhalten hat.

Zitat von Traitor:Aber ist das nun ein Scheitern, oder eine Erkenntnis? Eine Erkenntnis des Scheiterns, die besser ist als ein fehlgeleiteter Glauben, nicht gescheitert zu sein?


Und sich diesen Umstand, niemals je eine Antwort erhalten zu haben, erst spät eingestehen konnte. Was bewirkt so ein Eingeständnis? Melancholie, Trauer, Zorn, Resignation ... vielleicht auch mit einer Trotzdem-Hoffnung unterfüttert ... alles das findet sich in seiner letzten CD.

Ich würde sagen, es ist eine Einsicht, die eigentlich schon ganz am Anfang formuliert wurde: Gott ist der/die/das ganz andere, von dem wir uns keine Vorstellungen machen sollen. Wie wir alle hat sich Cohen aber trotzdem Vorstellungen gemacht; erst ganz zum Schluss gesteht er sich ein, dass alle diese Vorstellungen Makulatur sind: Er weiß überhaupt gar nichts über Gott. Er weiß nur, dass alle seine Vorstellungen zu Gott menschliche Vorstellungen waren. Er erlebt also kurz vor seinem Tod den Wegfall aller Krücken und steht jetzt vor der ultimativen Wahrheit Gottes: Ich werde mich als der erweisen, als der ich mich erweisen werde. Mit allen tröstlichen und bedrohlichen Implikationen, die diese Art von Ungewissheit mit sich trägt. Wird er/sie es freundlich sein? Oder ist es ein Seelenfresser? Oder nur das große schwarze Nichts, das nicht mehr gefürchtet werden muss, weil auch das Mensch darin genichtet ist?

Auf jeden Fall aber enthält diese Einsicht die für einen Gläubigen größt mögliche existentialistische Kränkung: Es war schon immer unwichtig, was ich gedacht habe, was Gott sei. Es läuft mit oder ohne all diese Gedanken auf genau dasselbe hinaus.

BeitragVerfasst: Fr 22. Nov 2019, 10:36
von Ipsissimus
Es gibt eine neue - sprich: posthume - CD von Cohen: "Thanks for the dance", deren Titel teilweise von seinem Sohn Adam fertiggestellt wurden. Mal schauen^^