Einige Ansatzpunkte zum Thema dürfte der alte
Panzerkreuzer-Thread liefern.
Für mich ist es in erster Linie einmal ein "Warum nicht?". So fundamental ist der Unterschied zwischen Stumm- und Tonfilmen nicht, dass man bei allgemein hohem Filminteresse und bereits eingetretener Gewöhnung an prä-60er-Klassiker die richtig alten Frühwerke ignorieren könnte. Eigentlich würde ich die größten Übergänge sogar nicht 1928, beim Beginn der Stummfilmära, sehen, sondern einen etwas früher, Mitte der 20er, beim endgültigen Durchsetzen flüssiger Filmdramaturgien gegenüber theaterartigeren Strukturen, und einen irgendwann in den Dreißigern mit dem allmählichen Aussterben des Overactings. Späte Stumm- und frühe Tonfilme ähneln sich stilistisch noch sehr, manche, wie The Jazz Singer oder Beggars of Life, existierten wohl auch sowohl in Stumm- als auch Ton-Fassungen.
Dann ist da der von Noriko erwähnte Aspekt der "verlorenen Kunst", verbunden mit dem erhebenden Wissen, (bis auf wenige Ausnahmen) Filme zu sehen, die heute nur wenige andere Menschen kennen. Eine Aufführung in Prachtsaal oder Arkadenhof mit Live-Musik dazu ist auch nochmals viel atmosphärischer als ein modernes Kino.
Inhaltlich und qualitativ dagegen habe ich nach wie vor keinen Stummfilm gefunden, den ich als genauso gut oder gar besser als modernere Meisterwerke ansehe. Viele haben großartige Ideen, sind technisch erstaunlich gut, zeigen starke Regie- und Kameraeinfälle. Aber letztlich scheint mir all das nach wie vor eine Experimentierphase gewesen zu sein, in der sich das echte Meisterkönnen noch nicht ganz herausgebildet hatte. Oder, besser ausgedrückt, im Kopf der zweifelsohne späteren Kollegen mindestens ebenbürtigen Meister wie Lang, Eisenstein, Murnau oder Lubitsch schon voll ausgeprägt war, aber durch die Beschränkungen der Technik und die Konventionen von Handlungs- und Schauspielerwartungen noch an der vollen Entfaltung gehindert wurde.
Als die größten kollektiven Schwächen dieser Filmära erscheinen mir also die Handlungen und die Schauspieler.
Erstere sind oft noch sehr grob, platt und klischeehaft. Letzteres kann man in vielen Fällen gut dadurch rechtfertigen, dass mancher dieser Klassiker das Klischee, das man in ihm sieht, eben erst begründet hat, selbst also noch frisch und neu war. Die mangelnde Komplexität eines "Metropolis" oder "Potemkin" gegenüber einem "Es war einmal in Amerika" oder "1984" ist aber einfach nicht wegzudiskutieren, hier hat sich die Filmbranche einfach erst spät daran gewöhnt, auf das Niveau von Literatur vordringen zu können. Und vieles wäre eben mit reinen Zwischentiteln nur sehr schwer umzusetzen gewesen.
Den Schauspielern nehme ich ihr Overacting tatsächlich übel, auch wenn es damals theater-bedingt halt Mode war. Denn es gab eben auch Beispiele, dass es auch schon damals einen anderen, realistischeren Stil gab, und trifft man auf diesen, wirkt er sofort weitaus besser. Beispiele wären der von Noriko genannte Naruse, Beggars of Life, oder sehr oft die Nebencharaktere im Gegensatz zu den übertreibenden Hauptdarstellern.
(Ausnahmen sind natürlich der Slapstick, zu dem Overacting aus Prinzip dazu gehört, und manch so richtig expressionistisches Werk, in dem es schon Overoveracting und damit tatsächlich künstlerisch beeindruckend sein kann.)
Um wieder zu den Faszinationen zu kommen, ist es, wie Ipsi sagt: historisch wie kunstanalytisch ist es faszinierend, Regisseuren, Kameraleuten und Beleuchtern zuzusehen, wie sie aus beschränktem Material grandiose Szenen herausholen konnten.
Nur unterscheide ich mich im Urteil von ihm, mir können diese Finessen die mangelnden Inhalte nicht ganz ausgleichen. Letztlich ist der Stummfilm für mich eine historische Skurrilität, die auch manchen zu Unrecht vergessenen Schatz birgt, der mit Sicherheit weit über heutigem Mittelmaß rangiert; die wirklichen Meisterwerke der Filmkunst konnten jedoch erst mit späteren Mitteln, erweitertem Erfahrungsschatz der Macher und erhöhtem Anspruch der Kunstform an sich erreicht werden.