Melancholia

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Lykurg
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Do 5. Jan 2012, 13:38 - Beitrag #21

Zitat von Traitor:Mit ganzen vier Leuten im Saal.
Immerhin tröstlich, daß keine halben Personen dabei waren - aber verantwortetest du die Hälfte der Anwesenden, oder nur ein Viertel?

Mit der qualitativen Einordnung von "Melancholia" bin ich mir noch nicht ganz sicher. Zuerst das große Bild: Optisch, inszenatorisch und von der Gesamtkonstruktion her ist der Film einerseits genial, andererseits auch kitischig und selbstverliebt. [...] von Trier ("erst" 55) wirkt eher wie ein Altmeister, der sich sicher ist, allen als Genie zu gelten, und dabei etwas Gefahr läuft, aus großen Gesten leere Rituale zu machen.
Stimmt, wobei das gestisch-ritualhafte Element in meinen Augen auch durch ritualhafte Handlungen im Film (Eheschließung, Liebschaft, Selbsttötung, nachher die diversen 'magischen' Elemente) aufgegriffen wurde - sicher sehr pathetisch, aber nicht leer, sondern durch den Betrachter zu füllen. Ein Film bestehend aus lastendem Schweigen, was auch seinem Thema entspricht.
Justines Wandlung am Ende erschien mir nicht ganz schlüssig, sowohl das Ausfallendwerden gegenüber Claire als auch die Stabilisierung und Lykurgs "magische Wende", aber vielleicht klärt sich das bei einer Zweitsichtung, wenn ich auf frühere Signale einer nicht rein passiv-degenerativen Störung achte...?
Damit hatte ich auch ein Problem, wobei ihre wohl stark schubweise auftretenden Depressionen eine Erklärung dafür liefern könnten - nach dem Verklingen ihrer wohl bis dahin heftigsten depressiven Phase wäre sie dann entspannt-gelassen in einer Situation, die für alle anderen die existenzielle Krise schlechthin darstellt.

Als großes Manko erscheint mir aber die familiäre Konstruktion. Der Weltuntergangsaspekt ist davon weitgehend unbelastet, aber meines Erachtens wäre "Melancholia" als Film über Depressionen deutlich stärker, hätte er Justine nicht eine so üble Familie angedichtet.
Ja. Offenbar wollte von Trier hier eben nicht nur eine Geschichte erzählen, sondern mindestens die drei schon angesprochenen, und das stört sich ein Stück weit. blobbfishs Hinweis auf die Zusammenführung der drei Teile im Untergang hilft dabei weiter, anscheinend ging es von Trier demzufolge doch weniger um Melancholie an sich als um Sozialkritik mit anderen Mitteln (da alle drei Teile parallel in der Untergangsherbeiführung münden); aber in dieser Sichtweise erschöpften sich eben diese Mittel im bombastischen Kitsch - nicht gut für den Film.
Und noch ein Kritikpunkt: so stark die Optik, so schwach die Musik. Viel zu aufdringlich, bombastisch und kitschig. Ich plante schon, mich über Pseudo-Wagner aufzuregen, bevor ich im Abspann sah, dass es echter war. Bild
Tja, die Musik ist für sich genommen nicht schlecht (hat ja in der Oper auch einen deutlich anderen Inhalt, wie angesprochen), wird nur allzu plakativ eingesetzt, vor allem zu oft und reduziert auf dieses eine Geschehen, was ihr nicht guttut. Ich denke, daß es reichlich schwer gewesen wäre, zu dieser Bildsprache adäquate Filmmusik zu komponieren, die nicht klar dagegen abfällt. Und da hat sich von Trier halt in der Plattenkiste umgeguckt; wohl nicht lange genug.
Physik [...] manches inkonsequent durchdacht (selbige Wetteranomalien, zu früh und unmotiviert Stromausfall und Luftdruckabfall) oder ganz übersehen (Gezeitenkräfte und eine halbwegs glaubwürdige Steigerung aller Effekte vor dem finalen Zusammenprall). Aber das hier nur als technische Anmerkung, für die Wertung oder Interpretation des Filmes ist das völlig irrelevant.
Ja, letzteres fehlte mir auch, besonders die Gezeiten. Stromausfall könnte durch Effekte einer Massenpanik 'draußen' ausgelöst sein, ist halt die Frage, ob in Erwartung des sicheren Weltendes in wenigen Stunden die Kraftwerksingenieure wirklich noch zur Arbeit gehen wollen, und wieviele Systeme bei Nichtbeaufsichtigung sich dann selbsttätig runterfahren.
(Außer für die Leute, die physikalische Mängel als Beweis für Imaginiertheit der ganzen Untergeherei durch die Charaktere interpretieren, sowas findet man im Internet selbstverständlich auch...)
Das an physikalischen Mängeln aufzuhängen, finde ich schwach, wie viele andere Filme könnten dann ebenfalls als Imagination der Protagonisten gewertet werden... Ansonsten ist das eine starke Theorie, die gerade die magische Wende und das Wiedererstarken Justines erklären könnte, das eben möglicherweise nur ein erträumtes wäre. Aber das bleibt Spekulation.
Warum auch in einer europäischen Produktion die Welt in Amerika untergehen muss, sei dahingestellt...
Überaus skurril, ja. Die Autoszene wirkt aber auch sonst sehr amerikanisch, und auch bezogen auf das Verhalten von Justines Chef bin ich mir nicht recht sicher, ob derartiges in Schweden so möglich wäre, oder eben doch der gesamte Film amerikanische Verhältnisse meint. Das würde allerdings seine Aussage weiter schwächen.
Definitiv betrügt sie ihn zuerst, danach verlässt er sie. Und spekulativ würde ich sogar sagen, dass angedeutet wird, dass er sie dabei beobachtet hat - er steht auf dem Balkon, und die Ausleuchtung war gut genug. Dann könnte man ihm, allen vorhergehenden Schwächen zum Trotz, die Abreise nun wirklich nicht übel nehmen.
Ja, das hatte ich falschrum genannt, und mit dem Detail der Beobachtung (jetzt erinnere ich mich auch an die Szene) ist das Verlassen tatsächlich weniger 'schuldhaft' konnotiert, da gebe ich dir Recht. :D
Um Magie als Wirkprinzip in den Film hineinzuinterpretieren, fehlen mir die Anhaltspunkte. Die von dir genannten optischen Effekte sehe ich rein als solche, der eher an Gemälde- als an Filmästhetik angelehnte Vorspann sorgt für eine gewisse Distanzierung der (auch später) gezeigten Bilder und der erzählten Realität. Nicht alles, was der Zuschauer sieht, würde ein unbeteiligter Beobachter in der Filmwelt (z.B. ein Hausbediensteter) auch so sehen, manches symbolisiert nur Inneres der Hauptfiguren.
Wir haben stark surreale Bilder; was sie herbeiführt, ist unklar, die Theorie, daß Justine sich all dies (inklusive des Planeten) imaginiert, läßt sich innerhalb des Films schlecht ausschließen, wenn man eine hinreichend veränderte Wahrnehmung ihrerseits annimmt. Handelt es sich aber um 'realistische' Bilder, sind das Schutzzelt, das sie am Ende errichtet ebenso wie die Bohnenszene und vielleicht sogar ihr Anfall mit nachfolgendem Wiedererstarken (Wie lange braucht sie? Sind es zufällig drei Tage? Gefühlt wohl doch weniger...) und das Wissen um die Bohnen/die kosmische Aussage Teile eines Andersweltlichen, unabhängig davon, ob es real oder nur in ihrer Imagination funktioniert. Sie ist eine Seherin, ob sie gegen das Schicksal eingreifen kann, ist erst einmal unerheblich. - Die tatsächlich gezeigte Auslöschung wäre dabei übrigens ein Argument gegen die Annahme einer Wahnvorstellung ihrerseits; vielleicht mußte sie deshalb gezeigt werden.
Was war der tiefere Sinn von "Tante Stahlbrecher"? Ein Übersetzungsfehler, eine Märchenanspielung, die ich nicht verstehe, oder einfach ein Fall von "dem Zuschauer nicht jeden Charakterhintergrund erklären wollen"?
Möglicherweise ein skandinavisches Märchen, dachte ich mir (kein Übersetzungsfehler, im Original 'Auntie Steelbreaker') - googelte, und stieß u.a. auf dieses großartige Essay von Christina Striewki, das auch den von Traitor schon gezogenen Vergleich zu "Tree of Life" durchexerziert - sie leitet den Namen von Figuren aus "World of Warcraft" her, zu dem sie auch weitere Parallelen erkennt. - Auch sonst sehr lesenswert!
Irgendwann recht früh verspricht Justine Claire, Michael "nichts davon zu sagen". Das klang für mich nicht nur auf den aktuellen Schub bezogen, sondern auf ihre generelle Erkrankung. Dazu passt auch, dass er selbst später nur davon redet, dass sie unter seinen tollen Apfelbäumen sitzen könne, "wenn du wieder traurig bist". Er dürfte also gar nicht wissen, dass sie medizinisch depressiv ist, sondern sie nur als etwas übersensibel einschätzen. Ob sich das mit gezielter Geheimhaltung und großer Naivität seinerseits glaubwürdig erklären lässt? Naja. Aber wir wissen ja eh nichts über ihre Vorgeschichte, vielleicht lebten sie nichtmal zusammen. Dann vielleicht ja.
Möglicherweise ja. Ich könnte mir auch ihren Spitznamen und ihren beruflichen Erfolg damit und als Zeichen dafür erklären, daß sie bislang sehr geschickt darin war, ihre Depressionen völlig zu verbergen und sich ganz im Gegenteil als unverletzlich darzustellen.
Zitat von blobbfish:Lykurg, ich finde es recht normal, dass man sich auch den Abspann anschaut, gerade bei Programmkinofilmen ist das auch üblich.
Ja, aber von den Biertrinkern hatte ich das nicht gedacht, und auch nicht, daß wirklich fast alle Besucher es tun würden, siehe auch Traitors Einwand.
Hier wird meiner Meinung aber schon der Gatte von Justine sehr klar gezeichnet. Er ist erfolgsverwöhnt und kritisiert auch gerne, ohne viel beizusteuern. Auf der anderen Seite versucht er aber gegenüber Justine nett zu wirken - er zeigt Verständnis, ist aber zugleich verständnislos.
Da gebe ich dir zwar recht, darüber hinaus hat er aber auch weitere erkennbare Schwächen, u.a. seine von mir schon angesprochene Unbegabung zur öffentlichen Rede. Auch den Erfolgsmenschen kann ich in ihm weniger erkennen als in seiner Frau, was allerdings dem von dir genannten "ohne viel beizusteuern" zusätzliches Gewicht gibt. Warum meinst du, daß er sie nicht verläßt? Zumindest wird kein Versuch einer Kontaktaufnahme gezeigt, er verschwindet aus der Handlung, und der Weltuntergang nimmt ihm jedenfalls die Gelegenheit dazu.
Was ich aber gerne thematisieren möchte ist folgendes: Der Vorspann, die totalste Vernichtung, Teil I, Justine wirft in ihrer Depression gewissermaßen alles weg, was sie hat, sie isoliert sich. In Teil II nimmt sie, meine ich, klar nihilistische Züge an, sie behauptet, das Leben auf der Erde sei das einzige im Universum, untermauert ihre These mit der richtigen Anzahl Linsen im Glas. Ich fühle mich hier an Nietzsches "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" erinnert.
Der Nihilismus des Films wird auch im verlinkten Essay angesprochen. Aber ja, ich denke auch, daß die Bohnenanzahl nicht mit Insiderwissen zu erklären ist (was die Untermauerung wirklich zu einem billigen Trick machen würde), sondern hier ihr seherisches Wissen hineinspielt - wie sie ja auch keinen Zweifel an der Rückkehr des Planeten hat.

Achja, und noch eine Frage v.a. an den Astrophysiker: Wie 'realistisch' ist eine solche Planetenbahn, das so extrem knappe Verfehlen (also: zu geringe Anziehung) und dann die Rückkehr auf einer so engen Schleife?^^

Padreic
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Do 5. Jan 2012, 14:37 - Beitrag #22

Ich will kurz anmerken, dass sich manche Unklarheiten bzgl. Melancholia wohl zumindest ein wenig lichten, wenn man sie im Bewusstsein des restlichen Ouvres von von Triers betrachtet (von dem ich tatsächlich nur zwei Filme gesehen habe).
In Breaking the Waves gibt es auch klar etwas, was man als magische Züge betrachten kann. Eine Frau heilt ihren schwer verletzten Mann, indem sie Sex mit anderen Männern hat....nachdem sie dabei zu Tode kommt, erscheinen Glocken am Himmel.
Auch Dogville spielt (als Teil einer Trilogie) in Amerika. Die Auseinandersetzung ist, wie nicht anders zu erwarten, recht kritisch. Es ist jedoch nicht klar, dass es sich nicht bloß um ein symbolisches Amerika handelt; so weit ich mich erinnere, habe ich einmal gelesen, dass von Trier nie in den USA war.

Ipsissimus
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Do 5. Jan 2012, 14:44 - Beitrag #23

Wie 'realistisch' ist eine solche Planetenbahn, das so extrem knappe Verfehlen (also: zu geringe Anziehung) und dann die Rückkehr auf einer so engen Schleife?^^
recht unwahrscheinlich, aber wohl doch möglich im Sinne eines "negativen Swing by", bei dem das angezogene Objekt also nicht beschleunigt sondern flugbahnbedingt abgebremst wird

Traitor
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Do 5. Jan 2012, 19:08 - Beitrag #24

Zitat von Ipsissimus:mutmaßlich die Banalität des Todes^^
Dass selbst der Tod einer ganzen Welt letztlich nur banal ist, wäre auch eine sehr starke Aussage, aber keine, die der Film machen möchte, denke ich. Höchstens, dass er banal für jemanden wie Justine ist, für die die Welt eh "nur schlecht" ist. Aber nicht für die anderen Figuren und allem Anschein nach auch nicht für den Regisseur.
Zitat von Lykurg:aber verantwortetest du die Hälfte der Anwesenden, oder nur ein Viertel?
Ein Viertel.
Zitat von Lykurg:Stimmt, wobei das gestisch-ritualhafte Element in meinen Augen auch durch ritualhafte Handlungen im Film (Eheschließung, Liebschaft, Selbsttötung, nachher die diversen 'magischen' Elemente) aufgegriffen wurde - sicher sehr pathetisch, aber nicht leer, sondern durch den Betrachter zu füllen. Ein Film bestehend aus lastendem Schweigen, was auch seinem Thema entspricht.
Daher auch nur "Gefahr läuft", die Gesten sind gerade noch stark und passend genug, um nicht in Leere zu versinken.
Zitat von Lykurg:Stromausfall könnte durch Effekte einer Massenpanik 'draußen' ausgelöst sein, ist halt die Frage, ob in Erwartung des sicheren Weltendes in wenigen Stunden die Kraftwerksingenieure wirklich noch zur Arbeit gehen wollen, und wieviele Systeme bei Nichtbeaufsichtigung sich dann selbsttätig runterfahren.
Erst 24h her, und schon erinnere ich mich nicht mehr genügend an die Details. Aber ich glaube, der Stromausfall kam schon sehr früh, mindestens am Vortag des Vorbeiflugs. Und Kraftwerksingenieure dürften tendentiell der wissenschaftlichen Lehrmeinung folgen.
Zitat von Lykurg:Das an physikalischen Mängeln aufzuhängen, finde ich schwach, wie viele andere Filme könnten dann ebenfalls als Imagination der Protagonisten gewertet werden... Ansonsten ist das eine starke Theorie, die gerade die magische Wende und das Wiedererstarken Justines erklären könnte, das eben möglicherweise nur ein erträumtes wäre. Aber das bleibt Spekulation.
Zu fast allen großen Filmen gibt es Imaginationstheorien, die aber für mich Aussagen und Inhalte entwerten und somit ohne wirklich starke Argumente nicht allzu relevant sind.
Und wenn, dann wäre es wohl eine Einbildung nicht nur Justines, sondern auch Claires, sozusagen eine Ansteckung, ein Übergreifen der Krankheit, evtl. durch stresshafte Überlastung bei der Hochzeit. Mit meinen Anmerkungen zum Kamera-Realitäts-Bezug wollte ich aber gar nicht die Einbildungsthese stützen, also die Inhalte der Bilder in Frage stellen, sondern nur ihre optische Ausgestaltung.

Den Essay muss ich noch lesen (Warcraft? :wzg:? Aber mal sehen.) - dann mehr zur Stahlbrecherin. Meine Konnotation ist aber auch, dass es ein Name für eine sehr starke Persönlichkeit sein müsste, und deine Verbindung mit dem Berufsleben klingt sehr schlüssig.

Zitat von Lykurg:Achja, und noch eine Frage v.a. an den Astrophysiker: Wie 'realistisch' ist eine solche Planetenbahn, das so extrem knappe Verfehlen (also: zu geringe Anziehung) und dann die Rückkehr auf einer so engen Schleife?^^
Schon realistisch, der erste Vorbeiflug führt zu einer Abbremsung, die stark genug ist, um aus einer ungebundenen Fluchtbahn eine gebundene Rücksturzbahn zu machen. Im Wesentliche, was mit Kometen passiert, wenn sie auf Sonne oder Jupiter stürzen. Der dicke Fehler von "Melancholia" ist nur, dass der Orbit der Erde selbst unverändert zu bleiben scheint, obwohl Melancholia ja viel größer (und damit vermutlich, wenn auch nicht notwendig, schwerer) ist. (Andererseits stammt das einzig gezeigte Orbit-Diagramm von einer Crackpot-Seite, die zwar mit der Kollision Recht behielt, sich aber im Zweifel nicht um solche "Details" kümmerte, und ob der Tagesverlauf gestört wird, kann man dank sprunghafter Erzählung und fehlender andauernder Uhreneinblendung natürlich kaum überprüfen.)
Du kannst ja auch mal versuchen, mit einem dieser Simulatoren (oder anderen) herumzuspielen. ;)

@Padreic: Ist dir irgendetwas mit Seherei bekannt?

Noch etwas: erkennt jemand einen tieferen Sinn in der Aussprache "Melancholía" statt "Melanchólia"?

Lykurg
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Do 5. Jan 2012, 19:36 - Beitrag #25

Danke, Padreic! Da ich bisher nichts anderes von ihm gesehen habe (abgesehen von der Anfangssequenz von "Antichrist"), beschränkte ich mich soweit auf Vermutungen, zu denen das aber paßt.

Ipsissimus' Anmerkung zur Banalität des Todes trifft wohl besonders auf den von John zu. Zugleich ein mögliches Beispiel für das Verzweifeln an der Falschmeldung.

Traitor, stimmt wohl, gerade diese Berufsgruppen dürften ein extremes Pflichtbewußtsein angesichts der Katastrophe haben (siehe auch Fukushima), in jedem Fall den Betrieb so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Im Ernstfall würde es ja auch bedeuten, so vielen Menschen wie möglich noch den Weg zu ihren Familien zu ermöglichen. Der Ausfall kam zwar sehr früh, aber ich dachte, sie holte sich die Informationen zur Rückkehr erst nach dem Vorbeiflug aus dem Netz?

Danke für die Ausführungen zur Planetenbahn (gerade auch zu der der Erde; stimmt natürlich, deren Auslenkung wäre mindestens genauso zu erwarten). Zu derartigen Simulatoren hatte ich gerade neulich über ein Spiel gelesen, bei dem Gravitationseffekte genutzt werden, um die Flugbahn von Projektilen zwischen Himmelskörpern abzuschätzen. Muß ich wohl nochmal gucken...

Melancholía ist die korrekte Betonung des griechischen Wortes, genauso übrigens auch im Spanischen.

e-noon
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Do 5. Jan 2012, 19:37 - Beitrag #26

Wieso sollte es denn 'Melanchólia' sein? 'Melancholía' ist altgriechisch richtig betont und entspricht doch auch dem deutschem 'Melancholíe'. Nur 'melanchólisch' hat eine Betonungsverschiebung, das haben aber viele Adjektive bzw. generell Derivate.

Der Name erinnert mich auch stark an 'Melencolia' von Albrecht Dürer, in dem ebenfalls ein Stern vom Himmel stürzt und die Person im Vordergrund eine melancholische Haltung darstellt.

Traitor
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Do 5. Jan 2012, 20:08 - Beitrag #27

Den Ausfallzeitpunkt müsste man dann nochmal recherchieren.

An Spanisch ließ mich Melancholía auch denken, für meine deutsche Ohren klingt es sehr exotisch, da bei Melancholíe die letzte Silbe ja nicht aktiv betont, sondern nur langgezogen ist, das -ía so aber kaum je vorkommt. Griechisch ist aber sicher die naheliegendere Herleitung als Himmelskörpername. Meine Interpretation wäre gewesen, dass mit der Aussprache betont werden soll, dass es ein Eigenname ist, passt also.

Apropos Dürer. Was war das für ein Bild mit Jägern im Vordergrund und einem verschneiten Dorf im Hintergrund? War sowohl im Vorspann als auch in der Bibliothek zu sehen. In letzterer irritierte es mich, da alle anderen von Justine in den Vordergrund geholten Bilder Tod zeigten, dieses aber durch die Schlittschuhfahrer im Hintergrund eigentlich idyllisch und fröhlich wirkt. Oder sind die Leute mit Hunden im Vordergrund nicht als heimkehrende Jäger, sondern als Todesboten zu verstehen?

Gravitationseffekte waren ja schon die Grundlage von "Space Wars", nach einer möglichen Interpretation das erste Computerspiel der Geschichte. ;)

Lykurg
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Do 5. Jan 2012, 20:25 - Beitrag #28

"Die Jäger im Schnee" (/"Heimkehr der Jäger") von Brueghel, du hast den Titel ja quasi schon erkannt. Bild Richtig fröhlich ist das Bild nicht, der Wiki-Artikel verweist auf das geringe Jagdglück, und im Film wurden ja vor allem die schwarzen Vögel im Bild gezeigt bzw. durch schwarze Fetzen/Ascheflocken/Insekten ergänzt und erweitert.

Überhaupt ist der Streifzug des Films durch die Kunstgeschichte bemerkenswert, die Szene, in der Justine in der Bibliothek die Abstrakten herunterfegt und durch ausgewählte Klassiker ersetzt, die (fast) alle in irgendeiner Weise Bildern des Films entsprechen, ist großartig. Der Essay verlinkte auf diese Übersicht.

Der Dürer wird im Film allerdings nicht gezeigt (ein sehr schöner und überaus rätselhafter Hinweis aber, e-noon!) - ich vermute, deswegen, weil er dem ganzen Film zugrundeliegt und nicht nur einzelnen Einstellungen.

Auf jeden Fall ist der griechische Terminus gemeint. Aber doch, die letzte Silbe von "Melancholie" ist deutlich betont, die erste hat eine Nebenbetonung.

Traitor
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Do 5. Jan 2012, 20:53 - Beitrag #29

Melancholie ist durchaus auf der letzten Silbe betont, aber automatisch durch deren Länge, nicht den üblichen Ausspracheregeln entgegen, quasi akzentbedürftig, wie Melancholia. Die Nebenbetonung von Melancholie hört man manchmal auch auf der zweiten Silbe, vielleicht regional bedingt. Und bei Melancholia schien sie im Film auch auf der zweiten zu liegen. Auch authentisch griechisch?

Zur Kunstgeschichte nach dem Essen und vielleicht dem Essay mehr.

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Do 5. Jan 2012, 22:54 - Beitrag #30

Richtig fröhlich ist das Bild nicht, der Wiki-Artikel verweist auf das geringe Jagdglück, und im Film wurden ja vor allem die schwarzen Vögel im Bild gezeigt bzw. durch schwarze Fetzen/Ascheflocken/Insekten ergänzt und erweitert.
Wie genau es im Vorspann gezeigt wurde, war mir vorhin entfallen. Stimmt, es wurde in schwarze Flecken aufgelöst. Dadurch dominierte dann zusammen mit den Jägern die Dunkelheit im Bild, und es wirkt negativ. Im unbefleckten Zustand, wie in der Bibliothek und außerhalb des Films zu sehen, dominiert für mich aber weiterhin die Dorfidylle. Vielleicht bin ich aber auch nur zu entrückt von der damaligen Lebenwirklichkeit, dass Winter in erster Linie Härte war.

Die verlinkte Übersicht ist aber nicht vollständig, oder? Ich meine mich an mindestens ein Bild mit einer eindeutigen Todesgestalt zu erinnern. Manche anderen habe ich wohl aufgrund der nur kurzen Sichtgelegenheit fälschlich als todesbezogen wahrgenommen, u.a. das Schlaraffenland (vom Essay korrekt mit dem Werbebild korreliert) als rumliegende Leichen statt Schlemmer und das Waldbild (im Film deutlich dunkler reproduziert?) auch als Leiche im Hintergrund habend, wo stattdessen ein lebendiger Mann sich nur bückt.
Dann fehlt mir allerdings das verbindende Element der Bilder - hat Justine einfach nur in einem Anfall irgendwelche Bilder aufgeblättert? Vermutlich nicht. Was ist der tiefere Sinn der Auswahl?

Zum Dürer: (bitte nach dem Bild weiterlesen ;))
Bild
Melencolia I
(Durero)
[Public domain], von Albrecht Dürer (1471–1528)

Der Bezug zum Gestirn im Hintergrund ist offensichtlich, wenn es auch bei Dürer eher verheißungsvoll daherkommt, das dürfte wohl die Inspiration für den Film oder zumindest für den Titel gewesen sein. Ein Stürzen sehe ich aber nicht, woran machst du das fest, e-noon? Auch die Sitzende erinnert stark an die Szenen mit erst nur Justine (oder erst nur Claire?) und später beiden zusammen in der Fensterecke. Die restliche Symbolik scheint sich nicht unbedingt direkt übertragen zu lassen, insbesondere scheint der Stich (laut Wikipedia) allgemein als deutlich wissenschaftsfreundlicher interpretiert zu werden als der Film.

Nun zum Essay: Striewski verrennt sich meines Erachtens mit der religiösen Interpretation. Das Auffällige an "Melancholia" ist doch gerade die Abwesenheit jeder Religion. Was läge näher, als im Angesicht des Weltuntergangs über Gott zu diskutieren, aber das macht im Film niemand. Selbst von der Hochzeit wird nur der weltliche Teil gezeigt. Höchstens via
Zitat von Christina Striewski:trübsinnige Gottesferne und göttliche Inspiration gehören in der komplexen Geschichte der Melancholie zusammen wie die zwei Seiten eines Blattes Papier
ließe sich diese Deutung aufbauen, aber eine Deutung aus Abwesenheit von Anzeichen ist immer sehr, sehr gewagt. Für mich scheint von Trier eher sagen zu wollen, dass die Religion einfach gar nichts zu den sich stellenden Fragen beizutragen hat, ersatzlos weggelassen werden kann.

Auch der Querbezug zum Kapitalismus ist für mich überinterpretiert. Klar, da ist dieser dämliche Werbeheini. Ansonsten wären die gesellschaftlichen Zwänge aber in einer kommunistischen oder feudalen Gesellschaft die gleichen gewesen. (Eigentlich spielt der Film ja sogar in einer feudalen Welt, und bis auf die nicht gerade unverzichtbare Rolle des Internets hätte er eigentlich auch gleich in einem anderen Jahrhundert spielen können.)

Und dann hätten wir da die Zahlenspielerei mit 678 und 19. Sicher ist das 19. Loch äußerst spannend, aber dass man sich mit Numerologie alles zurechtinterpretieren kann, ist ja bekannt. Höchstens Bezüge zu Dürers magischem Quadrat würde ich hier gelten lassen.

Zitat von Christina Striewski:Wenn Tarkowski auch in "Melancholia" wieder die Reverenz erwiesen wird - Pieter Bruegels Jäger im Schnee spielen in "Solaris" eine Rolle
Hm, an das Vorkommen des Bildes in jenem Film kann ich mich gar nicht erinnern. Aber der Hinweis ist spannend. Hier wird die Verwendung des Gemäldes erwähnt, als in der Stationsbibliothek hängend, und das Bild beschrieben als "beautiful scene, full of longing for the Earth", also ähnlich positiv, wie ich es interpretiere...

Zitat von Justine:Leben gibt es nur auf der Erde, und das auch nicht mehr lange. Wir sind allein.
Da fällt mir noch eine mögliche, wenn auch unwahrscheinliche, Alternativinterpretation ein: könnte Justine hiermit Unrecht haben und das vermeintlich totale Vernichtungsende nur der (dann doch nach Ipsi banale) Untergang der kleinen, irrelevanten Erde sein, während das Leben im Kosmos, insbesondere auf Melancholia, weitergeht? Melancholia hätte ja eigentlich naheliegenderweise ein toter Planet sein können, grau und fahl, schwarz und bedrohlich, oder gar feurig brodelnd. Aber er ist blau, freundlich, lebensverheißend. (In den ersten Vorspannszenen dachte ich sogar, der große blaue Planet sei die Erde mit zu starker Wolkendecke und der kleine Melancholia, bis man dann die Kontinente auf dem kleinen sah und die Umkehr des üblichen Einschlagsszenarios klar wurde.) Und der Einschlag der Erde auf Melancholia sollte zwar eigentlich, analog zu einem gleich skalierten Asteroideneinschlag auf der Erde, alles Leben dort auslöschen, aber mit der Physik stimmt ja eh nicht alles, und es wird nicht explizit gezeigt, ob eine große Schockwelle wirklich schlimmes auf Melancholia anrichtet - in den gezeigten Bildern wirkt es sogar fast wie eine irrelevante kleine Störung auf deren Oberfläche. Und selbst wenn Melancholia verwüstet wird, impliziert die Existenz zweier blauer Planeten im Wesentlichen die Existenz beliebig vieler.
Natürlich muss blau noch nicht lebendig bedeuten, und mindestens genauso wahrscheinlich wie diese Erklärung dürfte sein, dass das ein explizites Spiel mit falscher Hoffnung ist. Oder dass diese Assoziationskette gar nicht gewollt oder bedacht war, sondern es bei der Gestaltung des Planeten rein um ästhetische Aspekte oder irgendeine abstrakte Farbsymbolik ging. (Wobei der Farbwechsel rot-grün-blau aus Erdperspektive auch etwas obskur ist.)

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Mo 9. Jan 2012, 19:58 - Beitrag #31

Zitat von Traitor:Im unbefleckten Zustand, wie in der Bibliothek und außerhalb des Films zu sehen, dominiert für mich aber weiterhin die Dorfidylle. Vielleicht bin ich aber auch nur zu entrückt von der damaligen Lebenwirklichkeit, dass Winter in erster Linie Härte war.
Gemälde der Zeit arbeiten oft mit Symbolen, die wir heute nicht mehr zu entschlüsseln gewohnt sind und die auf den ersten Blick nicht auffallen. Der Wikipediaartikel verweist auf das schiefhängende Wirtshausschild 'Zum Hirschen' und den Fuchs als einzige Beute der Jäger. Schlittschuhlaufen wäre dementsprechend auch nicht als unbeschwertes Vergnügen zu verstehen, sondern als gefährlich bzw. Glücks- und Vergänglichkeitsmetapher (genauso ja auch die Jagd als solche). Auch auf die Schroffheit der Felsen im rechten Hintergrund wird verwiesen, und generell ist die Natur eingefroren, gelähmt, auf ein Minimum reduziert. Ich überlege, ob das tiefe Einsinken im Gras/Boden, wie es der Melancholia-Vorspann zeigt, auf den Schnee dieses Bildes anspielt.
Die verlinkte Übersicht ist aber nicht vollständig, oder? Ich meine mich an mindestens ein Bild mit einer eindeutigen Todesgestalt zu erinnern. Manche anderen habe ich wohl aufgrund der nur kurzen Sichtgelegenheit fälschlich als todesbezogen wahrgenommen, u.a. das Schlaraffenland (vom Essay korrekt mit dem Werbebild korreliert) als rumliegende Leichen statt Schlemmer und das Waldbild (im Film deutlich dunkler reproduziert?) auch als Leiche im Hintergrund habend, wo stattdessen ein lebendiger Mann sich nur bückt.
Dann fehlt mir allerdings das verbindende Element der Bilder - hat Justine einfach nur in einem Anfall irgendwelche Bilder aufgeblättert? Vermutlich nicht. Was ist der tiefere Sinn der Auswahl?
Die entsprechende Szene hat leider offenbar noch niemand auf Youtube gestellt, dafür gibt es in diesem Making of der Special Effects immerhin auch den zerpflückten Brueghel zu sehen. Aber ja, ich denke nicht, daß die Bilder zufällig zusammengestellt sind, ich sah da zuviel Korrespondenz mit Bildern des Films (und außerhalb: eines der Filmplakate zeigt ja z.B. Kirsten Dunst im Brautkleid als Wasserleiche, in genauer Imitation der "Ophelia"). "The Woodman's Daughter" sah ich schon im Film im Zusammenhang mit der (mE auch im Vorspann gezeigten) Schnitzszene. Daß aber damit gleich zwei Bilder von Millais vertreten sind, könnte ein Hinweis auf sein erstes bekanntes Werk sein, 'Christ in the House of His Parents', das wegen seines respektlosen Realismus seinerzeit einen großen Skandal auslöste und schärfste Kritik auf sich zog, übrigens auch von Charles Dickens, der ja seinerseits ein quasi naturalistischer Darsteller ärmlicher sozialer Verhältnisse war, aber das und die gezeigte Häßlichkeit für die Heilige Familie unpassend fand. - Vermutlich wirst du auch hier finden, daß die Nähe zur religiösen Interpretation in die Irre geht, schließlich ist es schon wieder ein ex-negativo-Schluß, und auch noch so viele Negativbefunde erzwingen kein Positivergebnis. Immerhin würde aber auch dieses Bild quasi ins Bild passen.
Der Bezug zum Gestirn im Hintergrund ist offensichtlich, wenn es auch bei Dürer eher verheißungsvoll daherkommt, das dürfte wohl die Inspiration für den Film oder zumindest für den Titel gewesen sein. Ein Stürzen sehe ich aber nicht, woran machst du das fest, e-noon? Auch die Sitzende erinnert stark an die Szenen mit erst nur Justine (oder erst nur Claire?) und später beiden zusammen in der Fensterecke. Die restliche Symbolik scheint sich nicht unbedingt direkt übertragen zu lassen, insbesondere scheint der Stich (laut Wikipedia) allgemein als deutlich wissenschaftsfreundlicher interpretiert zu werden als der Film.
Der starke Strahl nach links oben legt einen Sturz des Kometen nahe. Die bildliche Ähnlichkeit wird dann ja noch verstärkt durch den Regenbogen, dessen Form und Position über der Meeresbucht den Filmbildern des herannahenden Planeten entspricht. Auch hierin wäre aber der Stich 'freundlicher' als der Film, schließlich ist der Regenbogen ja der Bund zwischen Gott und den Menschen, insofern paßt der Stich eben auch nicht so gut zum Film - aber ups, ich soll ja nicht...^^ Und ja, während im Film zunehmend alle Technik und sowieso die Wissenschaft versagt, wird in diesem rätselhaften Stich Technik in ganz ungewöhnlicher Weise präsentiert. Eine Erklärung dafür kann ich leider nicht bieten.
Aber jetzt kommen wir endlich zum Punkt:
Striewski verrennt sich meines Erachtens mit der religiösen Interpretation. Das Auffällige an "Melancholia" ist doch gerade die Abwesenheit jeder Religion. Was läge näher, als im Angesicht des Weltuntergangs über Gott zu diskutieren, aber das macht im Film niemand. Selbst von der Hochzeit wird nur der weltliche Teil gezeigt.
In gewisser Weise gebe ich dir recht, der Film spricht das kaum an, und entsprechend handelt es sich komplett um eine ex-negativo-Diskussion. Wir haben eine 'Traum'-Hochzeit ohne alle kirchlichen Bezüge, wir sehen eine äußerst lange Liste des Hochzeitsplaners, die sicherlich diesen Punkt weiter oben vorgesehen hatte, irgendwo in der Welt da draußen, wo man mit Stretchlimousinen herumfahren kann, und die für den Film keine Rolle spielt. Auch die Diskussion über das Wesentliche im Angesicht des Todes, die Letzten Dinge, wird geführt und verweigert.
Auch der Querbezug zum Kapitalismus ist für mich überinterpretiert. Klar, da ist dieser dämliche Werbeheini. Ansonsten wären die gesellschaftlichen Zwänge aber in einer kommunistischen oder feudalen Gesellschaft die gleichen gewesen. (Eigentlich spielt der Film ja sogar in einer feudalen Welt, und bis auf die nicht gerade unverzichtbare Rolle des Internets hätte er eigentlich auch gleich in einem anderen Jahrhundert spielen können.)
Nein, da hätte das Fehlen religiöser Bezüge eine noch viel verstörendere Wirkung. Und die ökonomischen Bezüge im Film sind schon stark, insbesondere die Szene zwischen dem Boss und dem Neffen.
Und dann hätten wir da die Zahlenspielerei mit 678 und 19. Sicher ist das 19. Loch äußerst spannend, aber dass man sich mit Numerologie alles zurechtinterpretieren kann, ist ja bekannt. Höchstens Bezüge zu Dürers magischem Quadrat würde ich hier gelten lassen.
Da bin ich allerdings ganz deiner Meinung; wenn man anfängt, Quersummen zu bilden, fällt einem offenbar nichts mehr ein, ein Zahlenproblem wegzuerklären.
Da fällt mir noch eine mögliche, wenn auch unwahrscheinliche, Alternativinterpretation ein: könnte Justine hiermit Unrecht haben und das vermeintlich totale Vernichtungsende nur der (dann doch nach Ipsi banale) Untergang der kleinen, irrelevanten Erde sein, während das Leben im Kosmos, insbesondere auf Melancholia, weitergeht? [...] Natürlich muss blau noch nicht lebendig bedeuten, und mindestens genauso wahrscheinlich wie diese Erklärung dürfte sein, dass das ein explizites Spiel mit falscher Hoffnung ist. Oder dass diese Assoziationskette gar nicht gewollt oder bedacht war, sondern es bei der Gestaltung des Planeten rein um ästhetische Aspekte oder irgendeine abstrakte Farbsymbolik ging. (Wobei der Farbwechsel rot-grün-blau aus Erdperspektive auch etwas obskur ist.)
Ja, die Umkehrassoziation der ersten Einstellungen hatte ich auch, das war sicher beabsichtigt - man sieht einen blauen Planeten und geht davon aus, daß es die Erde ist. Aber für mich war dieses Blau ein sehr fahles, kaltes, unlebendiges, ich würde Melancholia nicht für bewohnbar bzw. bewohnt halten, und wenn Justine mit ihrer Aussage über die Einzigartigkeit des Lebens Unrecht hat, ist die Szene mit den Bohnen sinnlos (bzw. ein allzu raffiniertes Spiel mit dem Zuschauer).

Was du mit dem Farbwechsel meinst, weiß ich nicht. -

Traitor
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Do 12. Jan 2012, 22:13 - Beitrag #32

Der Vergleich von Älterem und Jüngerem Schneejägerbild ist auch interessant. Halbwegs gegebene Farbtreue der Reproduktionen vorausgesetzt, ist die Kopie deutlich heller und damit einerseits auf den ersten Blick fröhlicher, nach Assoziation von heller = kälter bei typischem WInterklima aber vielleicht auch wieder gegenteilig...
Ich überlege, ob das tiefe Einsinken im Gras/Boden, wie es der Melancholia-Vorspann zeigt, auf den Schnee dieses Bildes anspielt.
Hauptanspielung des Einsinkens ist natürlich, wie Justine später selbst erklärt, auf das Gefühl des Nichtvorankommens bei Depression, Vorwegnahme ihrer zwischenzeitlichen Starre. Schneestapfen wäre eine mögliche Nebenassoziation, die aktiv werdenden Pflanzenteile widersprechen sich aber stark mit dem Erstarrtheitsaspekt des Winterbilds.
"The Woodman's Daughter" sah ich schon im Film im Zusammenhang mit der (mE auch im Vorspann gezeigten) Schnitzszene.
Das Kind findet die Idylle nur in der Natur? Das wäre wohl zu platt und positiv für Melancholia. Etwas doppelbödigeres?
Vermutlich wirst du auch hier finden, daß die Nähe zur religiösen Interpretation in die Irre geht, schließlich ist es schon wieder ein ex-negativo-Schluß, und auch noch so viele Negativbefunde erzwingen kein Positivergebnis. Immerhin würde aber auch dieses Bild quasi ins Bild passen.
Haus der Eltern - Haus der Familie, das könnte man noch assoziieren. Aber alles reichlich weit hergeholt, ja.
Der starke Strahl nach links oben legt einen Sturz des Kometen nahe.
Das ist eine Möglichkeit. Alternativ könnte es aber auch ein übertriebener Überblendeffekt bzw. durch Wolkenrudimente hervorgehobener Strahlengang sein, wie sie der Mond gerne mal zeigt. Da Wikipedia als Alternativinterpretation zum Kometen einen Planeten (insbesondere Saturn) ins Spiel bringt, kommt mir diese Variante allgemeiner vor, und dürfte von den Saturnisten vermutlich auch so angenommen werden. Zu Melancholia passen praktischerweise sowohl Komet als auch Planet. (Modulo astronomische Nomenklatur. ;))
Nein, da hätte das Fehlen religiöser Bezüge eine noch viel verstörendere Wirkung.
Stimmt, religiöse Aspekte sind umso unverzichtbarer, je weiter man in die Vergangenheit geht. Im späten 19. Jahrhundert hätten sie in manchen bürgerlichen Kreisen aber auch nicht mehr gefehlt als im heutigen amerikanischen "Adel".
Und die ökonomischen Bezüge im Film sind schon stark, insbesondere die Szene zwischen dem Boss und dem Neffen.
Die beiden waren aber weitgehend Fremdkörper in der Gesellschaft des Films, die meisten anderen Gäste schienen Geld zu haben, ohne sich drum kümmern zu müssen, oder Leute zu kennen, deren Geld reichte. Wenn, dann geht es eher um dekadenten Geldadel als um aktiven Turbokapitalismus.
Aber für mich war dieses Blau ein sehr fahles, kaltes, unlebendiges, ich würde Melancholia nicht für bewohnbar bzw. bewohnt halten, und wenn Justine mit ihrer Aussage über die Einzigartigkeit des Lebens Unrecht hat, ist die Szene mit den Bohnen sinnlos (bzw. ein allzu raffiniertes Spiel mit dem Zuschauer).
Die Spiralwolken verliehen Melancholia für mich ein sehr lebendiges Antlitz. Natürlich muss ein dynamisches Klima noch kein Leben implizieren, siehe Gasriesen, aber die Assoziation bietet sich zumindest an.
Was du mit dem Farbwechsel meinst, weiß ich nicht. -
In den Weltraumaufnahmen ist Melancholia immer blau, am Erdhimmel aber mal blau, mal grün. Mit Rot bin ich mir dagegen nicht mehr ganz sicher, mir war am Anfang nicht ganz klar, ob sie sagen wollten, dass Melancholia mit Antares verwechselt wurde (-->rot) oder danach Antares verdeckte (-->nicht rot). Für Verwechseln spricht, dass John überrascht ist, dass Justine den fraglichen Antares sehen kann, für Verdecken aber, dass man ihn eigentlich sehr gut sehen können sollte...

Traitor
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So 16. Nov 2014, 17:21 - Beitrag #33

Jetzt bin ich endlich mal dazu gekommen, einen anderen Film zu sehen, der oft im Zusammenhang mit Melancholia diskutiert wurde/wird: "Another Earth", ebenfalls 2011 erschienen, ebenfalls mit dem Auftauchen eines fremden Planeten am Erdhimmel als Hintergrundthema (dort ein Erd-"Spiegel"), ebenfalls mit einem eigentlichen Fokus auf Psychologie und menschliches Drama, ebenfalls mit einer schwer verstörten (und stark gespielten) weiblichen Hauptfigur, ebenfalls mit zig Interpretationsmöglichkeiten der Astronomie von realistisch bis rein metaphorisch. Sowohl stilistisch als auch vom künstlerischen Anspruch bodenständiger als das Trier-Werk, eher in einer rauen Indie-Ästhetik (nicht zu verwechseln mit Popcorn-"Indie"-Komödien-Stil), mit gelegentlicher Tendenz zum expressionistischen. Äußerst spannend zu sehen, sowohl in Anbetracht seiner eigenen Klasse als auch im kuriosen Quervergleich.

[Administrative Notiz: Dieser Thread enthielt nach dem Softwarewechsel ziemlich kaputte verschachtelte Quotes, die ich aber hoffentlich alle verlustfrei reparieren konnte.]

Lykurg
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Mo 17. Nov 2014, 11:12 - Beitrag #34

Klingt spannend, sollte ich mir beizeiten auch mal ansehen.

[adadministrative Notiz: Ein kleiner Fehler ist passiert, such mal nach "pardon". Ich denke aber, der Aufwand einer Rekonstruktion, wenn überhaupt möglich, lohnt sich nur in Maßen.]

Traitor
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Mo 17. Nov 2014, 23:01 - Beitrag #35

[Pardon repariert. Man kann nie zuviele Backups haben. Komisch, dass da anscheinend ein simpler Smiley nicht nur Zerformatierung, sondern sogar tatsächlichen Satzfragmentverlust ausgelöst hat. Ich hoffe, das ist nicht noch in weiteren Beiträgen in den Tiefen der Matrix passiert.]

Ob Ipsissimus wohl inzwischen Melancholia gesehen hat...?

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Mi 19. Nov 2014, 10:38 - Beitrag #36

nein, noch nicht, nur Trailer. Mal sehen, am Wochenende

Was ich mich bei einem negativen Gravity Assist aber frage: Reicht der Impuls danach noch für eine globale Zerstörung? Die Geschwindigkeit ist ja doch erheblich gedrosselt, ich könnte mir gut vorstellen, dass ein Kontinent draufgeht, aber die gesamte irdische Biospäre? Bei diesen Größenverhältnissen?

Andererseits, würde die Erdgravitation überhaupt für eine derart massive Geschwindigkeitsreduktion ausreichen?

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Mi 19. Nov 2014, 12:23 - Beitrag #37

Fortbestand der Biosphäre bei der Kollision zweier ungefähr gleichgroßer Planeten? Das finde ich schwer vorstellbar. Nach meinem Verständnis würden selbst bei einer extrem langsamen Kollision die Gravitationskräfte die beiden Planeten zerreißen und ihre Massen vollständig neu arrangieren, was u.a. mit einer ganzen Menge verspritzem Magma und untergepflügter Oberfläche einherginge; vermutlich würde es ein paar Jährchen dauern, bis die neuerdings melancholische Erdkruste sich wieder genügend gefestigt hätte, daß Gras darüber wachsen könnte. Eventuell könnte es allerdings auch Regionen geben, in denen - abgesehen von einem unvorstellbaren Erdbeben mit Flutwellen, heftigen Staub-/Sandstürmen etc. - nicht so viel passiert, und robustere Vegetation und eventuell sogar höhere Lebewesen überleben können. Wäre halt auch die Frage, was Melancholia für eine Athmosphäre mitbringt, bzw. wie sich die Athmosphäre nach dem Zusammenstoß neu konstituiert.

Vermutlich wären die Überlebenschancen bei einem - nichtfrontalen - Zusammenprall mit höherer Geschwindigkeit, bei dem sich die Planeten wieder voneinander lösen können, höher.

Ipsissimus
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Mi 19. Nov 2014, 13:14 - Beitrag #38

bei gleichgroßen Körpern kannst du aber nur dann einen negativen Gravity Assist erwarten, wenn die Massen des einen Körpers deutlich unter denen des anderen Körpers liegen, das heißt, Melancholia muss sehr viel leichter sein als die Erde, kaum mehr als heiße Luft, damit der negative Gravity Assist überhaupt funktioniert. Und die Geschwindigkeiten müssten auch in einem sehr speziellen Verhältnis zueinander stehen, zumindest muss die Eigengeschwindigkeit von Melancholia im Verhältnis zur Erde auf unter irdische Umlaufgeschwindigkeit abgebremst sein. Ich bezweifele, dass das noch für einen Totalreset reicht.

Bei gleichgroßen Massen wäre die Erde außerdem längst aus der Bahn gezogen, bevor es zur Kollison kommt. Es ist gar nicht so einfach für zwei Körper mit ungesteuerter Bewegung, einander wirklich zu treffen; sobald die Vektoren auch nur geringfügig aneinander vorbei zielen, würde sich bei geeigneten Geschwindigkeiten eher ein Doppelsystem (à la Erde-Mond) bilden, als dass der Bewegungsvektor auf Kollision abgelenkt würde. Wirkt alles ein bisschen merkwürdig, ist aber ja auch nur Fiktion^^

Traitor
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Sa 22. Nov 2014, 15:00 - Beitrag #39

Klar, die Orbitalmechanik lässt einige Fragen offen. Die lassen sich aber noch halbwegs mit "man kriegt ja nicht alle Informationen" wegdiskutieren: ob die Erde aus ihrer Bahn gelenkt wird, wurde meiner Erinnerung nach weder bejaht noch verneint, und wenn die Handlung nur ein paar Tage dauerte (wie ich mich ebenfalls zu erinnern meine), würde man eine derartige Änderung auch gar nicht groß bemerken. Bildung eines Doppel- oder Dreifachsystems (war was mit dem Mond?) wäre für mich intuitiv auch wahrscheinlicher, eventuell dann noch mit verzögerter Kollision, oder vielleicht Billiardeffekt via Mond. Aber zumindest unmöglich sollte die gezeigte Variante nicht sein, bei hinreichend genau passenden Anfangsparametern (woher auch immer Melancholia denn auch kam... ;)).
Zu den Kollisionsfolgen dürfte Lykurgs Argumentation stimmig sein.
Die fragwürdigsten "wissenschaftlichen" Aspekte waren vor allem der Mangel an Gezeitenkräften und zusätzlichen Atmosphärenproblemen kurz vor Ende. Aber die werden halt auch gerne als bewusste Auslassungen zur gezielten Senkung des Realismus und damit Betonung oder zumindest Ermöglichung rein metaphorisch-imaginierter Erklärungen herangezogen.

Ipsissimus
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Sa 22. Nov 2014, 20:04 - Beitrag #40

falls sich das mit den einsamen Wanderern bestätigen sollte, wovon ich ausgehe, dürfte das die nächstliegendste Erklärung sein

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