WM 2014 - Politischer Hintergrund

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Traitor
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Mo 16. Jun 2014, 09:41 - Beitrag #1

WM 2014 - Politischer Hintergrund

Wie Guerilla-Jan ja schon nahelegte, brauchen wir wohl auch diesen Thread.

Im Gegensatz zu Russland und Katar sehe ich die Vergabe nach Brasilien als inhaltlich untadelig an (formell, wer weiß, im Zweifel wird immer bestochen), das Land hat fußballromantisch gesehen genug Tradition, politisch keinen Paria-Status und wirtschaftlich eigentlich genau den Status, der Ausrichtung sowohl gewachsen zu sein als auch von ihr zu profitieren.

Die Umsetzung hat dann aber wirtschaftlich offensichtlich nicht so funktioniert, wie man es sich erhoffte. Von den Baumilliarden soll wohl nicht genug an die Unternehmen und Arbeitnehmer vor Ort geflossen. Braucht es eine Nationalquote in der Ausschreibung? Aber in Europa wäre das nicht haltbar.

In sachen politisch-soziale Situation hat die WM als Bühne durchaus ihre Vorteile, zumindest im Vorfeld hatten brasilianische Demonstranten, von Gewerkschaftlern bis Indios, mehr weltweite Aufmerksamkeit, als sie sich sonst erhoffen könnten. Sicher wird sie nicht direkt zu irgendwelchen Veränderungen beitragen, aber das zu erwarten wäre auch naiv. Ist es nicht schon genug, wenn eine Sportveranstaltung nicht zur klassischen Herrschendenbeweihräucherung beiträgt, sondern genau gegenteilig wahrgenommen wird? Und das trotz Versuchen der offiziellen Darstellung, die Proteste auszublenden?

Zudem sehe ich eine gewisse Arroganz darin, zu sehr über die "brasilianischen Zustände" zu meckern - sind die wirklich so viel schlimmer als in Europa? Der Umgang mit den Indios ist natürlich ein spezielles Problem dort, aber die sonstige politische und soziale Situation sehe ich inzwischen als näher an (niedrigsten) europäischen Standards als an klassischer Dritter Welt. Es wäre sehr viel zu verbessern, aber ihre Probleme ähneln durchaus unseren, und man sollte wohl eher gemeinsam nach Lösungen suchen, anstatt zu glauben, dass sie nur unserem Weg nacheifern müssen.

Ipsissimus
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Mo 16. Jun 2014, 11:31 - Beitrag #2

Um 2006, als die Vergabe der WM an Brasilien beschlossen wurde, galt das Land als hoffnungsvollster der Brics-Staaten. Seither hat sich das dramatisch gewandelt, Brasilien wird mittlerweile als problematischster Staat der fragil five gehandelt (Schwellenländer, die die Erwartungen nicht erfüllen konnten, weil sie zwar von Kapitalzuflüssen während des Quantitative Easing profitiert haben, aber unter massiven Leistungsbilanzdefiziten bei gleichzeitig überzogenem Wachstum leiden: Brasilien, Indien, Indonesien, Südafrika, Türkei). Das Land ist derzeit also in einem Status, bei dem es genau so gut explodieren wie sich konsolidieren kann, ohne dass absehbar wäre, wohin das Pendel ausschlägt.

Die Indios sind nur ein Problem. Die Favelas sind ein anderes, nicht auch nur andeutungsweise und von weitem in der Nähe geringster europäischer Standards. Es steht leider nicht zu erwarten, dass eine WM daran auch nur das geringste ändert. In sechs Wochen ist die mediale Aufmerksamkeit wieder ganz woanders und was bleiben wird, ist die Unterwerfung des gesamten Staates unter die Notwendigkeiten potentieller Investoren.

blobbfish
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Mo 16. Jun 2014, 13:44 - Beitrag #3

Die Phänomene, die du ja ansprichst, meinte ich im Winter zu den Winterspielen in Sotschi, als ich sagte, die Spiele müssten kritisch betrachtet werden, ähnlich wie man das ja zur EM in Polen/Urkaine tun sollte. Der große Unterschied ist hier aber, dass nur von Demonstranten die Rede ist, aber kein böser Regierungschef an der Macht sitzt, der ursächlich für Menschenrechtsverletzungen sein könnte.

An sich erscheint mir die Vergabe an Brasilien auch nicht so wahnsinnig fragwürdig. Betrachtet man aber die utopischen forderungen der FIFA, durchaus. Ich kenne die Stadienlandschaft in Brasilien nicht, ich frage mich aber, ob so ein Neubauunsinn, der ja u.a. für regen Proteste sorgte und sorgt, überhaupt nötig war.

Traitor
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Mo 16. Jun 2014, 13:46 - Beitrag #4

Es wäre ein interessantes Gedankenspiel, wie die WM bei fortgesetztem Wirtschaftsboom aussähe... Die "Fragile Five" waren mir neu, das Phänomen dahinter natürlich nicht. Den derzeitigen Pessimismus halte ich jedoch für ähnlich überzogen wie die vorangegangene Euphorie; mittelfristig wird Brasilien (zumindest rein wirtschaftlich) fast zwangsläufig weiter/wieder aufholen. Politisch-sozial sehe ich die Explosionschancen ebenfalls bei ca. 50%.

"Die Indios sind ein Problem" - da würden dir die Investoren vollkommen zustimmen. ;) Ich vermute aber, ich weiß, wie es gemeint war... Wenn ich das richtig überblicke, ist "das Indioproblem" in Brasilien deutlich anders gelagert als in manchen hispanoamerikanischen Staaten, da die städtische und agrarländliche Unterschicht stärker europäi-afrikani-siert ist, während nennenswerte Teile "der Indios" tatsächlich noch halbwegs naturnah leben und dies auch verteidigen wollen. Daher gibt es vermutlich wenig Solidarität zwischen Indiorechtebewegung und allgemeiner Soziale-Gerechtigkeits-Bewegung, sodass erstere stark marginalisiert wird und beide gegeneinander ausgespielt werden können.
Vielleicht täuscht da der Medieneindruck aber auch, ich müsste mal in Statistiken und detailliertere Berichte reinlesen.

Die Favelas hatte ich heute morgen tatsächlich ausgeblendet, die haben hierzukontinente selbst die Krisenstaaten nicht, stimmt. Auch die militärischen "Befriedungsaktionen" sind ein extremes Abweichen vom ansonsten bestehenden Eindruck eines halbwegs modernen Rechtsstaats.

Die Investorenunterwerfung schien zumindest unter Lula gedämpft worden zu sein, aber wieviel davon nur Propaganda war, fällt mir schwer zu beurteilen.

Edit@fish, obiges alles an Ipsissimus: Demonstranten sind in einer funktional erscheinenden Demokratie deutlich schwieriger zu beurteilen. Wie wohl eine Großdemo parallel zur WM 2006 international rezipiert worden wäre...?
"Utopische Forderungen" habe ich von der FIFA noch nie gehört, zumindest nicht wenn ich "Forderungen" als "dringlich vorgebrachte konkrete Änderungswünsche" interpretiere. In Grundsatztexten und Marketingmaterial faseln die aber natürlich viel utopisches, vermutlich meinst du das? Daraus werden dann aber eben keine konkrete Anforderungen bei der Vergabe oder Umsetzungskontrolle, sofern weitgehend irrelevant.

Lykurg
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Mo 16. Jun 2014, 17:48 - Beitrag #5

Die Favelas sind ein anderes, nicht auch nur andeutungsweise und von weitem in der Nähe geringster europäischer Standards.
Hängt sehr von der Ansetzung europäischer Standards ab, sowie von der jeweiligen Favela. Ich habe in Rio Favelas gesehen, in denen am Hang gemauerte Einzelhäuser mit winzigen Gärtchen standen, zwar ohne Baugenehmigung errichtet, aber staatlich geduldet mitsamt Wasser- und Stromversorgung; andererseits auf dem Land und teilweise in den Städten (zB in São Paolo) Baracken von Semterras (Landlosen), die sie aus Holzabfall, Müllsäcken und Plastikplanen an den Böschungen der Schnellstraßen errichten. Das sind schon mal zwei Welten nebeneinander. Ersteres ist sicherlich weitaus besser als zB die Lebensumstände der Roma in den Balkanstaaten; übrigens auch nicht schlechter als die in einem hiesigen heruntergekommenen Sozialbau. Die soziale Integration ist übrigens besser - es gibt zahlreiche Nachbarschaftsprojekte, die sich genau darum kümmern, etwa Jugendliche aus den Slums und den wohlhabenden Vierteln miteinander in Kontakt zu bringen und Perspektiven zu vermitteln. Befriedungsaktionen bedeuten letzlich auch, daß in Favelas, die zuvor von der Mafia kontrolliert wurden, die Polizei die Kontrolle übernimmt. Von der Idee her muß das nicht unbedingt schlecht sein, allerdings ist natürlich nicht zu erwarten, daß das unblutig geschieht.

Trotzdem ist natürlich im Vorfeld der WM vieles falsch gelaufen; daß die Brasilianer sich selbst fragen, inwieweit es sinnvoll war, die WM abzuhalten, finde ich ein vernünftiges Zeichen; von mir aus könnte die Veranstaltung gern auch ganz ausfallen. :-P (Auch die Olympischen Spiele in Athen und die WM in Südafrika waren vom wirtschaftlichen Standpunkt her gesehen sehr fragwürdig.) Aber ich sehe nicht, daß wirklich politische Bedenken bestehen sollten, geschweige denn, daß diese mit denen etwa einer WM in Qatar oder der Olympischen Spiele in Sotchi auch nur ansatzweise vergleichbar wären.

janw
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Do 19. Jun 2014, 01:38 - Beitrag #6

Zitat von Traitor:Es wäre sehr viel zu verbessern, aber ihre Probleme ähneln durchaus unseren, und man sollte wohl eher gemeinsam nach Lösungen suchen, anstatt zu glauben, dass sie nur unserem Weg nacheifern müssen.

Das Problem ist, die Führungsschichten haben fast durchweg einige westliche Lehreinrichtungen durchlaufen, in denen als zentraler Inhalt vermittelt wurde, daß der westliche Weg der Weg des Heils sei, zumindest für das Konto.

Edit:
"Westlich" meint kapitalistisch im anglo-amerikanischen Sinne

Lykurg
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Do 19. Jun 2014, 10:42 - Beitrag #7

Der Ausdruck "einige westliche Lehreinrichtungen" verwundert mich dann doch, ich mußte sicherheitshalber erst einmal nachlesen, worauf sich Traitor bezog - einerseits sieht sich Brasilien durchaus als Teil des Westens, ist auch in der Lage, seine Führungsschichten selbst auszubilden, wobei natürlich auch einige deutsche Führungskräfte "westliche Lehreinrichtungen" besuchen, falls du damit ein Studium in den USA meinst. In den letzten Jahren, genauer mit Lula und Rousseff, hat sich die Selbständigkeit noch ein wenig ausgeprägt, gerade auch im Zuge der NSA-Affäre, wo sich Rousseff deutlicher geäußert hat als irgendein anderer Staatschef. Diese Differenz ist aber nichts neues, selbst in Zeiten der Militärdiktatur war Brasilien deutlich 'sozialistischer' als die USA. Die Frage, ob man Teil eines Freihandelsabkommens mit den USA sein will, wird dort nicht weniger kritisch diskutiert als bei uns.

Ich habe eben die Biographien der 24 Minister des aktuellen Kabinetts durchgesehen (pt:WP; außerdem die von Präsidentin und Vizepräsident). Außer dreien, die überhaupt keine Angaben dazu haben (wohl weil sie noch frisch im Amt sind), haben alle in Brasilien studiert, Auslandsstudien werden nirgends erwähnt. Möglicherweise ist mein Überblick zu flüchtig, eventuell ist das auf der zweiten Ebene (Staatssekretäre etc.) schon ein bißchen anders, auf den ersten Blick kann ich deine Einschätzung aber jedenfalls nicht teilen.

Ipsissimus
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Do 19. Jun 2014, 14:10 - Beitrag #8

Ich vermute aber, ich weiß, wie es gemeint war...

hoffentlich als nur ein Problem von mehreren^^


Lykurg, allerdings versuchen die Balkanstaaten bislang auch nicht, sportliche Größtereignisse zu stemmen als wären sie reiche Industrienationen. Ich bin auch nicht sicher, ob sich die Roma als europäischer Gegenpart zu den Favelas auffassen lassen. Gegen die Roma wird mehr oder weniger offen ein Vernichtungskrieg geführt. Es mag eine gewisse Schnittmenge hinsichtlich der zugefügten Bösartigkeiten geben, trotzdem ist das konzeptionell nicht dasselbe. Die Favelas sind eine Art offener Verwahranstalten, mag sein mit Abstufungen. Von denen, die drin sind, kommt vielleicht einer unter 10000 wieder raus. Daran ändern auch folkloristische Aufführungen in Laienspielkreisen nichts. Slums gibt es auch in europäischen Städten. Aber bei weitem nicht in dieser Konzentration und dieser völligen Ausweglosigkeit.

janw
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Do 19. Jun 2014, 20:54 - Beitrag #9

Gut, Lykurg, das mag dann für Lula und Rousseff etwas anders sein, aber im Sinne der Befreiungstheologie sind sie denn auch nicht sozialisiert.

Im Ergebnis läuft es denn doch darauf hinaus, das westliche Paradigmensystem mit Wachstum als erster Devise zu verfolgen und überkommene Besitzstrukturen samt feudalistischer Elemente als sakrosankt anzusehen.
Technokratie mit Großstaudämmen usw. ist sowieso überall implementiert.


Aber gut, eine wirklich alternative Politik ist auch nicht drin - die WM-Mittel statt in WM in Bildung und Wohnungsbau zu investieren, würde wiederum der IWF als übermäßig hohe Staatsquote ansehen.

Maglor
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Do 19. Jun 2014, 21:21 - Beitrag #10

Im Grunde ist es ein weltweites "Problem" der letzten Jahre, dass sie die Bürger nicht mehr jede Art von Geldverschwendung in Form von Großprojekten gefallen lassen.
Die Proteste um Stuttgart 21 oder den Gezi-Park sind Geschwister. An quasi harmlosen Geldverbrennungsprojekten können Proteste anheizen, bei denen die Aktivisten am Ende zum Äußersten bereit.
Den Konflikten kann man durch Volksabstimmungen entgehen. 2013 haben sich die Bayern gegen eine Olympiade in München im Jahre 2022 entschieden.
So darf man sich fragen, ob derartiger Quatsch zukünftig nur noch in Diktaturen oder tendenziell autoritären Staaten wie Russland oder Katar möglich sind.
Brasilien ist meiner Einschätzung nach alles andere als ein autoritäter Staat. Viel mehr gibt es ein Problem mit fehlender Durchsetzungskraft des Staates gegenüber der Licht- und Schattenwirtschaft.

Traitor
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Fr 20. Jun 2014, 10:04 - Beitrag #11

Man hätte sich ja denken können, dass Lykurg Ahnung von Brasilien hat, so viele -polis, wie es da gibt. ;)
@Selbigen: Ein wesentlicher Unterschied zum Balkan dürften die Mehrheitsverhältnisse sein, wenn auch vielleicht nicht aufs ganze Land, aber zumindest auf die Metropolregionen gerechnet. Geographisch mögen die Favelas per Definition randständig sein, demographisch sind sie aber wohl ein Massenphänomen. Obwohl z.B. diese Zahlen von ~10% für Sao Paulo, 22% für Rio deutlich niedriger sind, als ich erwartet hätte - entweder ist die offizielle Favela-Definition sehr eng, oder man bekommt hierzulande einen falschen Eindruck.
Befriedung mit Militär hat für mich noch eine ganz andere Qualität als mit Polizei.

@Ipsissimus: Ich kann mir vor allem schwer vorstellen, dass du meintest, dass die Indios das Problem sind, und nicht, dass Staat, Wirtschaft und europäischstämmige Bevölkerung ein Problem mit ihnen haben bzw. eines für sie sind. Es gibt dort ein "Indioproblem", definitiv, aber zumindest historisch gesehen ist die Schuld klar.

@Jan: Lateinamerika halte ich nicht nur geographisch, sondern auch kulturell durchaus für "westlich". Dein "westliches Paradigmensystem" dagegen nicht. Das mag hierzulande die vorherrschende wirtschaftliche Ideologie sein. Aber der Großteil der Bevölkerung und insbesondere auch das Bildungssystem stehen dem doch sehr skeptisch gegenüber.

@Maglor: Seltsam ist halt, dass soetwas inzwischen als "Geldverbrennung" gesehen wird, während es früher als Investitionsprogramm galt. Eigentlich müsste letzteres richtiger sein, das Geld wird schließlich nicht physisch verbrannt, sondern fließt irgendwo hin. Fraglich ist halt, in wessen Taschen, und ob diese Taschen vor Ort wohnen und reinvestieren. Und, ob man bei begrenztem Investitionsvolumen nicht besser in nützlichere Infrastruktur investiert.
Die Alternative dazu, Großspiele nur noch von Diktaturen ausrichten zu lassen, wäre, sie dorthin zu vergeben, wo die Infrastruktur bereits besteht. Im Fußball hieße das: nur in die Länder mit großen Profiligen. Für Olympia ist es schwieriger, da die Konzentration diversester Sportanlagen im Umkreis nur einer Stadt fast nirgends vorexistiert; da müsste man das Austrägerkonzept auf eine Nation oder Region erweitern.

janw
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Fr 20. Jun 2014, 12:01 - Beitrag #12

Traitor, hinsichtlich der Begriffsbildung gebe ich Dir Recht.
Edit: Ich meinte damit die anglo-amerikanischen Vorstellungen von Wirtschaft und Gesellschaft, gekennzeichnet insbesondere durch Marktradikalismus und einer Ablehnung staatlicher Intervention.

Hinsichtlich Investition vs Geldverbrennung: Investition ist gedacht als Schaffung dauerhaft nutzbringender Einrichtungen und Kapazitäten durch Geldeinsatz.
Das Problem ist, daß die Stadien nachher nicht dauerhaft nutzbringend sind, weil schlicht kein Bedarf dafür besteht. In Afrika nennt man so etwas "Weiße Elefanten". Das entsprechende Stadion in Kapstadt soll jetzt abgerissen werden, weil es schlicht nicht mehr unterhalten werden kann.
Da ist wirklich Geld für Nicht-Wert ausgegeben worden, und wird am Ende noch Geld hinterher geworfen.

Olympia gehört für mich nach Griechenland, mit einem System, das die Einrichtungen schafft und dauerhaft unterhält und dem Staat regelmäßige Pacht zahlt.

Lykurg
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Fr 20. Jun 2014, 14:42 - Beitrag #13

@Maglor: Sehe ich ähnlich - und wenn sich die Zentralgewalt auch in den Schatten durchsetzen will, zeigen alle mit dem Finger drauf.

@Traitor: In Brasilien gibt es halt eine Militärpolizei, die anders als in Deutschland auch Zivilisten gegenüber in Erscheinung tritt (ähnlich z.B. in Frankreich die Gendarmerie oder in Spanien die Guardia Civil). Die führen auch z.B. Verkehrskontrollen durch, sind aber eben auch hinreichend ausgebildet und ausgestattet, um bewaffnete Banden aus Slums zu vertreiben. Wie weit die entsprechende Problematik ohne durchsetzungsfähige Polizeitruppen eventuell ginge, sieht man in Mexiko. Verglichen mit Mexiko ist übrigens auch das Zahlenverhältnis der Slums anders; tatsächlich halte ich die hiesige Sicht auf Brasilien diesbezüglich für reichlich eingeschränkt (ok, meine ist es natürlich auch) - der Fokus der medialen Berichterstattung ist aber tatsächlich stark überproportional auf die Favelas gerichtet, so daß leicht der Eindruck entstehen kann, es handle sich um die Bevölkerungsmehrheit und nicht um eine wenn auch beträchtliche Minderheit. (Der Bevölkerungsanteil der Roma in den Balkanländern ist auch recht umstritten und wird von den jeweiligen Regierungen gern kleingerechnet; die letzte Volkszählung in Rumänien ergab laut Wikipedia einen Bevölkerungsanteil von 2,5 %, die US-Regierung geht dagegen von 10% aus.)

@Ipsissimus: Ich meine ebenfalls, daß die Zustände in den Favelas zumindest meist besser sind - meine Absicht war ja gerade, eine übertriebene Sichtweise zu korrigieren, indem ich ein gleichsam extremes Vergleichsbeispiel wählte. Mir scheint auch, daß der Grad an gesellschaftlicher Offenheit deutlich größer ist als in weiten Teilen Europas. Da spielt übrigens dann doch eine gewisse Orientierung an den USA mit hinein, nämlich, daß gesellschaftlicher Aufstieg aus eigener Kraft („vom Tellerwäscher zum Millionär“) respektiert wird - ungeachtet der Tatsache, daß es natürlich auch dort traditionelle Oberschichten gibt, wenn auch weniger ausgeprägt und verfestigt. Abendschulen sind dort sehr populär als ein Weg, fehlende Schulabschlüsse und weitere Qualifikationen neben dem Broterwerb aufzubauen. Ich denke nicht, daß dein „einer von 10000“ statistisch haltbar ist. Vielfach gibt es dafür auch Stipendien – und eben private Initiativen als Brückenschlag durchaus nicht nur folkloristischer Natur, sondern etwa Sportvereine und Capoeiragruppen, die bewußt Jugendliche verschiedener Herkunft regelmäßig zusammenbringen. (POV-Warnung: Meine Cousine organisiert sowas, ihre Kinder sind auch drin.)

Zur Illustration meiner Aussage zur nötigen Differenzierung im vorigen Beitrag hier noch ein Blick auf die Favela Vidigal in Rio, die zumindest optisch wohl kaum der übelste Slum der Welt ist...Bild

Ipsissimus
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Fr 20. Jun 2014, 15:10 - Beitrag #14

Traitor, ich wollte lediglich sagen, dass die Situation der Indios ein Problem unter mehreren, vergleichbar belastenden sind. Nicht die Existenz der Indios ist das Problem - das wäre Investtoren-Sichtweise - sondern die Art, wie der brasilianische Staat und sehr viele Brasilianer mit ihnen umgehen und ihnen ihre Rechte verwehren, mit größtenteils hahnebüchenen rechtlichen Begründungen.

Deutlicher?

Traitor
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Sa 21. Jun 2014, 10:51 - Beitrag #15

Sieht hübsch aus, Lykurg. Vermutlich müsste man trennen zwischen "Favela" als rechtlichem Status (also genehmigungslos errichtete Viertel) und "Favela" als soziologischem Status, also Armut und schlechter Zustand. Oder sind die sozialen Zustände in "Luxus-Favelas" durchaus noch den "Slum-Favelas" vergleichbar; Einkommen und Perspektive mit Infrastruktur- und Gebäudezustand eher unkorreliert, letztere eher Funktionen von Gruppenzusammenhalt, Projekten, Förderung, krimineller Durchdringung...?

Mit den Roma sollte man in Brasilien vielleicht eher die Indios vergleichen...? Und eine dritte arme und randständige Gruppe gibt es ja auch noch, die Wanderbauern. (Wie war nochmal die Bezeichnung...?)

@Ipsissimus: Ja, das ist die Sichtweise, die ich dir auch unterstellt hatte. ;) Da sind wir uns dann einig.

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Sa 21. Jun 2014, 12:53 - Beitrag #16

Ich denke, daß Brasilien und die Balkanstaaten hier schwer mit einander zu vergleichen sind, sie sind von ihrer Bevölkerungsstruktur, der Geschichte, dem Lebensstandard und der wirtschaftlichen Situation zu unterschiedlich.

Die Roma sind IMHO auch schwer mit den Indios zu vergleichen:
Auf dem Balkan sind alle Volksgruppen in wohl relativ ähnlicher Zeit zugewandert, die Roma haben dabei keinen eigenen Platz gefunden, vielleicht, weil sie nicht so ortsgebunden waren und sind wie die anderen. Also im Wesentlichen der Konflikt zwischen sesshafter und wandernder Bevölkerung.
In Brasilien bilden die Indios die ursprüngliche Bevölkerung, die von einer aus zwei Quellen zugewanderten Bevölkerung an den Rand getrieben wird.

Was die Favelas betrifft, könnte man anmerken, daß es Vergleichbares nahezu überall gibt, Kartonsiedlungen unter Brücken mittlerweile auch in usa.
Einer der weltweit größten Slums besteht (noch?) in Mumbai (Dharawi) in Indien, in Istanbul haben die Gecikondus einen erheblichen Anteil an der Stadtfläche, um nur zwei Beispiele zu nennen.
In Brasilien scheint mir aber ein besonders großer Kontrast zu bestehen, was die sozialen Unterschiede betrifft: neben der bitteren Armut vieler gibt es eine Schicht extrem Reicher, die z.B. in Sao Paulo mit Hubschraubern ein- und ausfliegt.
Man könnte denken, in manchen Ländern seien die Slums unvermeidbar, Teil des Entwicklungsganges, während Brasilien eigentlich die Mittel hätte, sie zu überwinden.
Spricht etwas gegen den Gedanken?


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