Darfur - Olympia boykottieren?

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janw
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Mo 10. Sep 2007, 01:34 - Beitrag #1

Darfur - Olympia boykottieren?

Im nächsten Jahr gibt es die nächsten Olympischen Spiele, und sie werden die blutigsten seit langem.
Jede Olympiade ist bislang auch eine Werkschau der Architektur ihrer Zeit gewesen, und oft genug Mittel zur staatlichen Repräsentation durch Protz in Beton. Oft genug mit der Folge der Zerstörung gewachsener Siedlungsstrukturen, die den Stadien und Verkehrswegen im Wege waren.

Die Spiele in Peking werden diese bisherigen Übel in den Schatten stellen - nur ein Bruchteil des gewachsenen alten Peking ist erhalten worden, der Rest zur amorphen Hochhausmasse umgemodelt worden.
Über die Ausmaße der Wanderarbeiterheere, die Vertreibung von Bauern usw. ist etliches bekannt geworden, mancher mag nun einwenden, dies sei eine allgemeine Folge des rasanten Wandels in dem Land.

Nun haben wir aber eine humanitäre Katastrophe zu beklagen, in altbekannter Region, diesmal aber nicht von der Natur verursacht, sondern von der dortigen Regierung - und wie nun klar wird, von China massiv protegiert.
Mehrere 100 000 Menschen sind in Darfur auf der Flucht, vor bewaffneten Gruppen und vor den Truppen der Regierung. Ihre Dörfer sind niedergebrannt, ihr Land verwüstet, viele Menschen bestialisch ermordet, Kinder zu Waisen geworden.
Dir Regierung Sudans hat lange behauptet, nicht gegen die Reitertruppen der Dschandschawid anzukommen, bis allmählich klar wurde, daß die Luftwaffe Sudans durch Bombardierungen selbst beteiligt ist.

Alle Bemühungen, auf UN-Ebene einzugreifen, scheiterten bislang am Veto Chinas. Und nun ist aus der sudanesischen Führung bekannt geworden, daß China massiv in dem Lande investiert und dabei gerade auf Darfur schielt, weil dort Rohstoffe vermutet werden.
China blockiert also die UNO, während die Regierung das Land abbaureif massakriert.

Ich frage mich nun, ob dies nicht ein ähnlich schwerer, bzw. gar schwererer Fehltritt eines Olympia-Veranstaltendenden Staates ist, als jene, die in der Vergangenheit zu Boykottaktionen geführt haben.
Kann und soll Europa einerseits in den Flüchtlingslagern Defensive praktizieren und andererseits China zu der Aufmerksamkeit verhelfen, die das Land sich von Olympia erhofft?

Ich bin selber unentschlossen, weil ich zugleich sehe, daß viele Sportler sich auf die Spiele vorbereitet haben und für viele überhaupt in ihrem Leben nur 2 oder 3 Chancen zur Teilnahme bestehen. Bin ja bekannter Anti-Sportler, aber was der Hambüchen da gezaubert hat, begeistert mich schon etwas...

Lykurg
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Mo 10. Sep 2007, 11:51 - Beitrag #2

Du stellst da ein kleines Kaleidoskop von kritikwürdigen Aspekten zusammen, die nicht alle einen nennenswerten Olympia-Zusammenhang haben. Die Stadtentwicklung Beijings von der mittelalterlichen Großsiedlung zu einer Betonwüste mit geschlossener Asphaltdecke z.B. geht weitgehend auf die 60er bis 80er zurück, damit verglichen sind die heutigen Stahl-Glas-Bauten und umgebenden Grünanlagen eine Augenweide. ;)

Erstaunlicherweise verzichtest du auf Erwähnung der eigentlich naheliegenderen Punkte - Tibet, Kaschmir, Minderheiten, Menschenrechte, Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Industriespionage und Produktpiraterie mit staatlicher Duldung/Förderung, ... - wenn all diese seit Jahren bekannten Kritikpunkte nicht ausgereicht haben, die Veranstalter von den Spielen in Beijing abzuhalten, sehe ich nicht so recht, warum es Darfur sein sollte, wo der chinesische Einfluß so mittelbar und zudem bisher so wenig auf anderem, diplomatischen Wege hinterfragt worden ist.

Ein solcher Schritt scheint mir auch aufgrund der chinesischen Mentalität bedenklich: Mit Beleidigungen - und als solche würde ein Boykott mit Sicherheit aufgefaßt werden - erreicht man äußerst wenig, aus dem Verhandlungspartner wird durch Gesichtsverlust ein Gegner.

janw
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Mo 10. Sep 2007, 14:36 - Beitrag #3

Lykurg, die anderen genannten Punkte sind mir nicht weniger wichtig, aber sie sind quasi running gags seit der Vergabe der Spiele an China. Mit hinreichendem Erkenntnisinteresse können sie auch zu internen Angelegenheiten des Landes runtergeredet werden.
Daß nun aber China die Staatengemeinschaft blockiert, um damit seinen Zwecken dienende Verbrechen eines anderen Staates zu decken, was wiederum ein humanitäres Eingreifen der Staatengemeinschaft erforderlich macht, daß ist IMHO eine neue Qualität, wenn sie auch gerade erst offenbar wird.

Meines Wissens werden in Peking unterschiedslos jahrhundertealte Hutongs wie Slums der 70er Jahre und städtebauliche Sünden der Neuzeit zerstört.

Zitat von Lykurg:Ein solcher Schritt scheint mir auch aufgrund der chinesischen Mentalität bedenklich: Mit Beleidigungen - und als solche würde ein Boykott mit Sicherheit aufgefaßt werden - erreicht man äußerst wenig, aus dem Verhandlungspartner wird durch Gesichtsverlust ein Gegner.

Da ist etwas dran. Nur scheint mir, daß China selbst eher eine Chamäleon-Politik fährt: Ihr wirtschaftliches und außenpolitisches Handeln bedient sich aller Möglichkeiten des westlichen Systems, ohne die damit gleichermaßen verbundenen Verpflichtungen zu übernehmen - sie werden kurzerhand als dem eigenen Fortkommen hinderlich und als Teil einer westlichen Abschottungstaktik definiert. Kritisiert man dieses Handeln, kehrt China alle Muster der ostasiatischen Umgangskultur hervor, die Gesichtsverlust-Ideologie an erster Stelle.

Lykurg
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Mo 10. Sep 2007, 23:30 - Beitrag #4

Meines Wissens werden in Peking unterschiedslos jahrhundertealte Hutongs wie Slums der 70er Jahre und städtebauliche Sünden der Neuzeit zerstört.
Meiner Meinung nach sind internationale Sanktionen gegen die Baupolitik eines Landes, wenn es sich dabei nicht um die Zerstörung bedeutender Natur- bzw. Kulturgüter von Weltrang oder etwa den Lebensraum einer bedrohten Ethnie handelt, ein Eingriff in dessen Souveränität.
Daß nun aber China die Staatengemeinschaft blockiert, um [...] Verbrechen eines anderen Staates zu decken [...] ist IMHO eine neue Qualität, wenn sie auch gerade erst offenbar wird.
Gerade wenn und weil das gerade erst offenbar wird, sollte man einen kühlen Kopf behalten und zunächst geeignetere Wege der Verhandlung suchen als die sehr klobige und schnell stumpfe Waffe eines Boykotts. China würde daraufhin vermutlich spätere Olympiaden in westlichen Ländern boykottieren; die Folge wären (wie in den 80ern zwischen SU und USA oder in den 70ern mit diversen afrikanischen Ländern) jahrzehntelange gegenseitige Blockaden eines Sportfestes, das eigentlich explizit der Völkerverständigung und dem Weltfrieden dienen soll.

Ihr wirtschaftliches und außenpolitisches Handeln bedient sich aller Möglichkeiten des westlichen Systems, ohne die damit gleichermaßen verbundenen Verpflichtungen zu übernehmen [...] Kritisiert man dieses Handeln, kehrt China alle Muster der ostasiatischen Umgangskultur hervor, die Gesichtsverlust-Ideologie an erster Stelle.
Dieses erhebliche Problem sehe ich sehr ähnlich; der Holzhammer scheint mir aber tendenziell eher der zweitbeste Weg zu seiner Behebung zu sein.^^

janw
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Di 11. Sep 2007, 02:36 - Beitrag #5

Zitat von Lykurg:Meiner Meinung nach sind internationale Sanktionen gegen die Baupolitik eines Landes, wenn es sich dabei nicht um die Zerstörung bedeutender Natur- bzw. Kulturgüter von Weltrang oder etwa den Lebensraum einer bedrohten Ethnie handelt, ein Eingriff in dessen Souveränität.

Kann man so sehen, ich hatte diesen Punkt auch eher als qualitatives Merkmal erwähnt.

Gerade wenn und weil das gerade erst offenbar wird, sollte man einen kühlen Kopf behalten und zunächst geeignetere Wege der Verhandlung suchen als die sehr klobige und schnell stumpfe Waffe eines Boykotts.

Gut, da landen wir da, wo schon jetzt nichts funktioniert.
Es läuft dann auf weitere Massaker in Sudan hinaus, Verwandlung des Nils in eine Staudammkette, weitere Stabilisierung der dortigen Regierung unter chinesischer Hegemonie und glänzende Gewinne für die Nutznießer des olympischen Gigantismus.

Wie gesagt, ich bin gar nicht unbedingt auf einen Boykott fixiert - weil ich sehe, daß die Spiele vielen Sportlern ungeachtet ihrer eigentlich reinen Statistenrolle sehr viel bedeuten.

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Fr 14. Sep 2007, 09:28 - Beitrag #6

es handelt sich auch dann um einen Eingriff in die Souveränität eines Landes, wenn es sich um die Zerstörung bedeutender Natur- und Kulturgüter handelt^^ einen Eingriff im Übrigen, der vom wesentlichen Faktor bestimmt wird, der nationalen Militärstreitmacht. Die ist entweder stark genug oder nicht stark genug, und das ist die einzig relevante Einflussgröße.

Witzig finde ich jetzt schon die Kommentare bemüter Kommentatoren, die den Spagat versuchen zwischen den Hinweisen auf den friedensstiftenden Charakter der Spiele und den Hinweisen auf die Greuel der chinesischen Machthaber. Richtig gut fände ich es daher, wenn Eröffnungs- und Schlusszeremonien auf dem Platz des Himmlischen Friedens stattfänden.

janw, wenn China boykottiert wird, müßten alle Spiele in den USA und in Russland oder auch Indien und Pakistan und vielen anderen Ländern genauso boykottiert werden. Viel wichtiger wäre es, endlich einmal die Spiele zu hinterfragen, und zwar gründlich. Von ihrer Idee ist nämlich praktisch nichts mehr übrig geblieben; genau wie die allermeisten heutigen Volksfeste nichts anderes mehr sind als eine Lizenz für ein paar Kaufleute, auch außerhalb der Ladenschlusszeiten Profit zu machen, und für´s Volk ein Alibi für´s hemmungslose Fressen und Saufen in der Öffentlichkeit.

Lykurg
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Fr 14. Sep 2007, 10:29 - Beitrag #7

es handelt sich auch dann um einen Eingriff in die Souveränität eines Landes, wenn es sich um die Zerstörung bedeutender Natur- und Kulturgüter handelt^^ einen Eingriff im Übrigen, der vom wesentlichen Faktor bestimmt wird, der nationalen Militärstreitmacht. Die ist entweder stark genug oder nicht stark genug, und das ist die einzig relevante Einflussgröße.
Womit du zweifellos recht hast - ich menite natürlich, daß ich in einem solchen Fall den Eingriff (nicht) gerechtfertigt finde - was aber die Eingreifenden kaum kratzen dürfte. - Erkennst du neben der nationalen militärischen nicht auch wirtschaftliche Macht an, und das Engagement in Bündnissystemen?

Volksfest bedeutet nunmal für viele, den kürzesten Weg zu dem, was sie wollen, einzuschlagen. Aus dem Durst, Trophäensammelwahn etc. der Besucher gekoppelt mit dem Verdiensttrieb der Verkaufenden ergibt sich ein Glücksbereitungsmechanismus. Warum sollte Olympia anders sein? ;)

Ipsissimus
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Fr 14. Sep 2007, 12:22 - Beitrag #8

doch, natürlich erkenne ich das an, Lykurg; ich meinte es halt so, dass eine nationale Militärstreitmacht eben stark genug ist, den Angriff seitens anderer Militärstreitkräfte oder ganzen Bündnissen zu unterbinden, oder eben nicht. Und da China über Atomwaffen verfügt, denke ich mal, es wird bei Worthülsen bleiben. Das gleiche gilt in grün auch für wirtschaftliche Stärke. Derzeit buhlt die ganze Welt um den chinesischen Markt, und China selbst ist heute schon stark genug, um jeden Wirtschaftskrieg durchzustehen. Nöö, das wird alles schön bei Mundbekenntnissen bleiben, während anschließend die Kaufleute die wirklichen Gespräche führen^^

janw
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Fr 14. Sep 2007, 12:56 - Beitrag #9

Lykurg, bezüglich der internistischen Praxis^^ hatte ich vergessen zu erwähnen, daß die Stadtplanierung in Peking wesentlich im Zeichen und aus dem Grunde und zum Zwecke von Ollümpia erfolgt, zumindest zu großen Teilen, und damit gehört dies zu den Begleiterscheinungen des Zirkus, die sehr wohl äußerer Kritik zugänglich sind, sein müssen, wenn die organisatorisch wie ideell hinter Olympia Stehenden ihre Rolle ernst nehmen. Wenn mensch prinzipiell diesen von nach wie vor mit bestimmten Werten assoziierten Wanderzirkus für angemessen und sinnvoll hält, dann dürfen dessen Begleiterscheinungen diesen nicht fundamental zuwiderlaufen, bzw. müssen Standorte gefunden werden, an denen dies einigermaßen gewährleistet ist. China ist dies ganz offensichtlich nicht, bei Südafrika bin ich auch sehr skeptisch - die haben doch auch eigentlich ganz andere Probleme, und wer kommt für den nicht auszuschließenden Schuldenberg auf?

Ceterum censeo...rennt Ipsi bei mir offene Scheunentore ein. Der Zirkus dient nur noch wirtschaftlichen Interessen multinaler Konzerne und als Mittel zur Ablenkung der Massen von den wirklichen Problemen. Braukt wi nich^^

Nur, was machen wir dann mit Hambüchen et consortii?


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