Forum als polit. System

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Krautwiggerl
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Do 24. Mai 2001, 17:50 - Beitrag #1

Forum als polit. System

jetzt kommt ein Wiggerl-Spezial!
Ich stelle jetzt mal den Versuch an, ein Forum als politisches System zu klassifizieren und einzuordnen.

Nach der klassischen Einstufung würde ich das Forum zwischen Aristokratie und Oligarchie einreihen. Der Unterschied zwischen den beiden: beides repräsentiert die Herrschaft von einer Elite-Gruppe, wobei die Aristokratie mehr Gemeinwohlorientiert ist als die Oligarchie. In welche Richtung das Forum tendiert, hängt davon ab, wie die Admins und Mods mit dem Fussvolk umspringen. Logisch, oder? Mir ist das aber zu schwammig.
Im modernen Sinn gibt es drei Klassifizierungsmerkmale: Herrschaftszentrum (monistisch oder pluralistisch), Willensbildung (monopolisiert oder konkurrierend) und Repräsentation der Herrschaft (total o. partiell). Darüber hinaus kann es für alle drei Bereiche geschlossene oder offene Strukturen geben.
Schauen wir uns mal die Herrschaft an sich an: das Zentrum der Macht liegt in alleinigen Händen der Administratoren. Nur sie können neue Foren eröffnen, überall Beiträge editieren, Mitglieder bannen und Moderatoren ernennen. Das Herrschaftszentrum ist also monistisch. Allerdings haben auch die Moderatoren einen Anteil an der Macht. Da theoretisch jeder Moderator werden kann, wenn er gut schreibt, oder als Moderator entlassen werden kann, wenn er seinen Pflichten nicht nachkommt, kann man die Struktur als offen bezeichnen, weil alle die Chance haben, an eine Machtposition zu kommen, und nicht nur eine bestimmte Gruppe.
Gehen wir weiter zur Willensbildung: diese ist auf jedenfall konkurrierend, da jeder seine Meinung hier kundtun kann oder Verbesserungsvorschläge machen kann. Anderweitige Meinungen werden nicht unterdrückt, sondern fliessen in die "Politik" der Herrschenden konstruktiv mit ein (auch wenn es vom der "Verfassung" her möglich wäre, diese Meinungen zu unterdrücken). Dieses Recht ist nicht nur auf eine kleine Gruppe beschränkt, also ist auch hier die Struktur offen.
Die Repräsentation der Herrschaft ist wiederum total, da die Regeln des Forums überall gelten und es keinen Raum auf dem Board gibt, wo diese nicht gelten. Überall ist zudem ein Moderator anwesend, der die Beiträge liest und gewissermassen überwacht. Die Struktur ist aber auch hier offen, da es jedem freisteht, sich hier anzumelden zu posten oder auch wieder zu gehen, wenn es ihm gefällt. Niemand wird von vornherein aus der Community ausgeschlossen.
Fassen wir zusammen: die Herrschaft ist monistisch und offen, die Wiilensbildung konkurrierend und offen, die Repräsentation ist total und ebenfalls offen.
Und jetzt kommts: dieses System wird als "Demokratischer Zentralismus" bezeichnet. Natürlich handelt es sich dabei um einen Idealtypen, an den sich das Forum nur annähert. Zum vgl.: wäre die Willensbildung monopolisiert, und die Strukturen geschlossen, hätten wir eine totalitäre Dikatur in Reinform. Es hängt also alles von der Persönlichkeit des Administrators ab. Theoretisch wäre es ihm möglich, absolut autokratisch zu herrschen. Wieso er das nicht macht, darüber brauchen wir nicht reden... Aber die "Verfassung" eines Forums ist absolut diktatorisch. Dazu kommt noch die top-down-Kommunikation, denn der Administrator stellt die Regeln auf, die er an die Mods und das "Fussvolk" weitergibt.
Natürlich präsentiert sich das Forum in der Realität anders. Hier haben wir eine Annäherung an ein demokratisches System, auch wenn die Verfassung anderes erlaubt.
Der Begriff demokratischer Zentralismus ist also überaus passend.
Wer schon mal auf anderen Boards unterwegs war, wird feststellen, dass sie sich manchmal in eine autoritäre Richtung bewegen.
Um speziell auf die Matrix zu sprechen zu kommen: hier bewegt man sich eindeutig in die demokratische Richtung. Kritik wird von den "Herrschern" angenommen. Es geht sehr liberal zu, was mir auch an der Matrix so gefällt.

Jetzt mag sich einer fragen, hat der Wiggerl einen zuviel gekippt, wenn er auf so was kommt.
Was ich daran faszinierend finde, ist, dass sich überall im Leben, wo Menschen eine Gemeinschaft bilden, sich klassische Herrschaftsstrukturen herausbilden. Sogar an einem so fortschrittliche und neuen Ort wie dem Internet.
Jetzt könnt ihr Kommentare dazu ablassen oder mich für blöd erklären.

Feuerkopf
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Do 24. Mai 2001, 18:05 - Beitrag #2

Diese Struktur hat sich als ideal für's Überleben erwiesen. Gruppen, die sich so zusammensetzen, sind einfach fit. Ein Chef, der die anderen richtig einzusetzen weiß, der Kritik annimmt und verarbeitet, der Arbeit deligiert, der Menschen mit verschiedenen Fähigkeiten zusammenhalten kann, der beweist guten Führungsstil.
So sollten Firmen geführt werden.

Es stimmt aber nicht ganz, das alle Meinungen erlaubt sind, Wiggerl, denn es gibt schon so etwas wie Tabus.
Aufruf zu Gewalt, zu Rassenhass und Volksverhetzung sowie pornografische Äußerungen sind hier sehr wohl auf der "edit"-Liste.

Ich hatte in einem anderen Board auch die leidige Erfahrung machen müssen, dass die Regeln dort immer rigider wurden.

8ball
 
Do 24. Mai 2001, 18:24 - Beitrag #3

Krautwiggerl : Brilliant analysiert, und kein bischen blöd. Den Beitrag finde ich absolut genial.

Feuerkopf : Die von Dir genannten "Tabus" beruhen nicht zwingend auf die Board-Ordnung, sondern eher auf geltendes Recht. Somit gilt dies zwingend für die Matrix.

Krautwiggerl
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Do 24. Mai 2001, 19:52 - Beitrag #4

@BB: danke
@Feuerkopf: die Einhaltung solcher Regeln wie keine fremdenfeindlichen Parolen skandieren zu dürfen hab ich als gegeben vorausgesetzt. Unter Meinungsfreiheit verstand ich mehr das: es ist jedem erlaubt zu sagen: Krautwiggerl, das hättest du nicht machen sollen, das war dumm von dir o.ä. Das solche Kritik an der Amtsführung in Diktaturen nicht geübt werden darf ist der Unterschied. Wir bezeichnen Deutschland ja auch als Demokratie mit Meinungsfreiheit, trotzdem können ausländerfeindliche Parolen, Aufrufe zur Gewalt usw. sanktioniert werden.

Feuerkopf
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Fr 25. Mai 2001, 01:18 - Beitrag #5

@Wiggerl,
ich hab das auch nur ergänzen wollen, es war keine Kritik an Deiner erstaunlichen Beschreibung.

Nun bin ich wirklich gespannt, wie sich dieses Board weiter entwickeln wird. Es ist schon deshalb interessant, weil die Member-Struktur sowas von überhaupt nicht homogen ist. Es gibt überproportional viele Männer hier, sehr junge Member und etliche ältere (wie mich). Die Interessen sind äußerst gestreut, es gibt eigentlich keinen Interessenfocus.
Möge diese fließende, ständig wechselnde Struktur noch lange erhalten bleiben!
Gibt es dafür auch einen Fachbegriff?

Krautwiggerl
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Fr 25. Mai 2001, 14:05 - Beitrag #6

Als heterogene Gesellschaft würd ich das bezeichnen.


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