Ungleichzeitige Wahlen - was tun?

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Lykurg
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Sa 10. Sep 2005, 21:26 - Beitrag #1

Ungleichzeitige Wahlen - was tun?

Ein Todesfall mit Folgen
Weil eine NPD-Kandidatin starb, wählt halb Dresden erst nach dem 18. September
Der Tod von Kerstin Lorenz bringt die Wahl durcheinander. Nachdem die NPD-Bundestagskandidatin bei einer Kundgebung am Montag einen Hirnschlag erlitt, ins Koma fiel und am Mittwoch starb, kann halb Dresden am 18. September nicht mitstimmen.

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Dresden · Weder kann die NPD auf die Schnelle einen Ersatzkandidaten aufstellen, noch können rechtzeitig neue Wahlzettel gedruckt und verschickt werden. Deshalb bleiben rund 219 000 Wahlberechtigte in Dresden zuhause, während der Rest der Republik entscheiden darf, wer Kanzler wird. Wer schon per Brief gewählt hat, darf später noch einmal abstimmen.

Sachsens Landeswahlleiterin Irene Schneider-Böttcher plant eine Nachwahl. Der Termin ist noch offen, sie hofft auf ein Wochenende Ende September oder Anfang Oktober. Innerhalb von sechs Wochen nach dem ursprünglichen Termin, so schreibt es das Gesetz vor, müssen im Todesfall eines Kandidaten Nachwahlen abgehalten werden. Am Abend des 18. September wird der Bundeswahlleiter nur ein vorläufiges Ergebnis verkünden - für ganz Deutschland minus halb Dresden.

Das Ableben der NPD-Frau macht aus den Stimmen des Wahlvolks im Wahlbezirk 160 (Dresden I) ganz besondere Stimmen. Halb Dresden wird nämlich, wenn es später an die Urnen schreitet, das vorläufige Ergebnis vom 18. September im Hinterkopf haben. Sollte der Rest der Republik äußerst knapp und spannend gewählt haben, ließe sich in den Dresdner Stadtteilen Striesen, Blasewitz, Plauen, Altstadt, Prohlis oder Gruna vielleicht der Kanzler noch einmal retten - oder stürzen.

So würde - im Falle eines hauchdünnen Wahlergebnisses - aus halb Dresden ein stimmgewaltiges Wahlvolk von Taktierern. Ihr Wissensvorsprung vor dem übrigen Wahlvolk ermöglicht ihnen den gezielten Einsatz ihrer Stimme. Eine Partei knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert? Lässt sich womöglich reparieren. Und uninteressante Parteien, deren Wahl sowieso nichts ändert, kann der Taktierer ignorieren.

Sogar der Fall einer nachträglichen Parteienbestrafung ist denkbar, spekulieren die Analytiker der Internetseite www.wahlrecht.de. Der Fall wäre allerdings bizarr: Bekäme die sächsische CDU am 18. September wieder Überhangmandate, weil sie deutlich mehr Direktwahlkreise gewinnt als Zweitstimmen bekommt, dann könnten beispielsweise listige Dresdner SPD-Anhänger die CDU anschließend beschädigen, indem sie ihr die Zweitstimme geben. Das würde die Differenz zwischen Erst- und Zweitstimmen verkleinern und hätte womöglich den Verlust der CDU-Überhangmandate zur Folge.

Bei der Bundestagswahl vor drei Jahren ging es so aus: In Dresden I gewann die CDU-Kandidatin Christa Reichardt das Direktmandat. Die meisten Zweitstimmen fielen aber auf die SPD. Gesamtdeutsch gezählt kam die SPD im September 2002 republikweit auf 18 488 668 Zweitstimmen, CDU und CSU auf 18 482 641 - macht ein Unionsminus von gerade einmal 6027. Sollte es wieder so knapp sein, entscheidet sich vielleicht in der sächsischen Landeshauptstadt, wer stärkste Fraktion im Bundestag wird.

Vielleicht wird aber auch alles ganz langweilig. Sollte am Abend des 18. September nämlich alles klar sein, dann könnte es bei der Nachwahl einige Wochen später furchtbar fade werden: Das Wahlvolk Dresden I bleibt dann mangels Entscheidungsgewalt und historischer Bedeutung einfach zuhause.
Bernhard Honnigfort
(Quelle: Frankfurter Rundschau vom 8.9.2005)

Ich finde diese Situation äußerst ärgerlich. Sie bedeutet in meinen Augen eine arge Verzerrung unseres Wahlrechts: Die Gleichheit der Stimmen wird ausgehebelt dadurch, daß die Wähler dieses Wahlkreises aufgrund einer völlig anderen Situation urteilen können. Insofern werden sie auch anders wählen als die übrigen Deutschen.

Was haltet ihr davon?

janw
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So 11. Sep 2005, 00:35 - Beitrag #2

Tja, wie sagte ein Landeswahlleiter o.ä. doch in meiner Zeitung? Bundestagswahlen sind eine Massenveranstaltung, bei der nicht durchgängig gleiche Bedingungen hergestellt werden können.

Die ganze Wahl zu verschieben geht nicht, weil dann die Frist des GG nicht eingehalten wird. Außerdem, vielleicht stirbt dann woanders jemand...

Die Stimmzettel erst Wochen später auszuzählen, wird als schwierig angesehen, weil die Urnen so lange vor jeder Manupulation geschützt werden müssen. Was wohl nicht ganz einfach sein soll.
(Warum auch immer, mich hat noch keiner gefragt, ob nicht noch Platz in meinem Schuppen ist)

Die Stimmzettel auszuzählen und die Ergebnisse erst Wochen später zu veröffentlichen, soll ebenfalls nicht einfach sein, weil bei hinreichendem Rechercheaufwand der Journaille doch irgendwo was durchsickert.
Das kann ich mir sehr gut vorstellen.

Natürlich ist es ärgerlich, auch und gerade wegen des zu erwartenden knappen Wahlausganges. Wenn dann ein Wahlkreis das Zünglein spielen kann, ist das schon keine ganz gleiche Wahl mehr.

Fehlt eigentlich nur, daß jemand nach Karlsruhe pilgert und eine einstweilige Verfügung des BVerfG erwirkt, daß die Stimmen nicht ausgezählt werden dürfen. Man könnte sie ja bei der Bundespolizei unterstellen, eigentlich.
Werd mal meine Schwester kontaktieren morgen, als Juristin sollte die sich damit auskennen^^

fanvarion
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So 11. Sep 2005, 08:29 - Beitrag #3

Es ist nicht besonders schön, diese Situation.

Wie sagte ein Interviewter ich werde wohl alle wichtigen Personen demnächst zu einem Kaffee einladen dürfen.

Ich hoffe das die Stimmen nicht bekannt gegeben werden wenn feststeht das es sich um wenige Stimmen unterschied geht.

Bei klaren Ergebnissen ist es sowie so egal ob ein Wahlbezirk noch nicht gewählt hat oder nicht.

Hier ein Link der das Wahlrecht mit sehr aufschlussreiche Informationen.
Wahllen Wahlrecht und Wissenswertes

Leider nichts über diesen Sonderfall ausser normale Rechtsdinge und zusätzlich Informationen bei einem entfernt ähnlichen Fall .

AJ
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So 11. Sep 2005, 12:46 - Beitrag #4

In Bayern werden beim Todesfall eines Kandidaten trotzdem gewählt und ein Nachfolger rückt dann halt nach. Ich verstehe einfach nicht, warum man in Dresden die Wahlen verzögert.

Man sollte es meiner Meinung nach ähnlich wie in Bayern handhaben.

Bowu
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So 11. Sep 2005, 12:58 - Beitrag #5

Das Bundeswahlgesetz ist einheitlich, da gilt eigentlich auch in Bayern, was hier in Dresden 160 gilt. Kann höchstens sein das es bayrischer Landtag oder Kommunalwahlen waren.

Rein persönlich finde ich diese Situation sehr spannend, ich freu mich schon, wenn die Wahlkämpfer zum Endspurt in unsere schöne Stadt pilgern... . Ich wähle zwar in meiner Heimat, und nicht hier in Dresden I, aber rein vom Unterhaltungswert wirkt das sehr positiv auf die Wahl.

Politisch muss ich natürlich sagen ist es schon eine schwierige Situation, und eine perfekte Gleichheit der Wahl ist selbst bei 100% Geheimhaltung nicht gegeben, weil 2 Wochen später die Stimmung auch so eine ganz andere sein kann.

Juristisch müssen auch die Gerichte die Optionslosigkeit sehen, und abgesehen von einer Aufforderung, die Wahlgesetze zu ändern, wie es fast alle inzwischen vor haben, wird da kaum viel herauskommen.

Im Wahlgesetz steht meines Wissens nach, dass der Wahlleiter jedes Wahlkreises nach der Auszählung sein Ergebnis verkündet. Das ist der Pflicht auf gleiche Wahlen wohl sicher eine untergeordnete Norm, aber so gut ist mein Wissen im Wahlrecht dann doch nicht.

Traitor
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Mo 12. Sep 2005, 22:37 - Beitrag #6

Seit dieser Nachricht frage ich mich, wie zum Geier es passieren konnte, dass in den 50 Jahren nicht dafür gesorgt wurde, so einen Fall zu verhindern. Es ist doch so einfach, Nachrücker verpflichtend zu machen und auf den Wahlzettel zu schreiben.

Eigentlich wäre das aber auch nur Kosmetik. Meines Erachtens ist dieser Fall, genauso wie all die Abstrusitäten des Wahlrechts - Stichwort Überhangmandate, negatives Stimmrecht usw. - ein Symptom der Krankheit "Zwei-Stimmen-Wahlrecht". Die Erststimme gehört in meinen Augen abgeschafft. Sie macht das Wahlrecht nur intransparent und anfällig für obengenannte Systemfehler. Das Hauptargument für sie scheint zu sein, dass der direkt gewählte Kandidat "seinen Wahlkreis" vertreten soll. Aber einerseits leben wir längst in einer Zeit der Wahlkreismigration, andererseits bin ich der Ansicht, dass es gar keine Möglichkeit geben darf, im Bundestag einen Wahlkreis zu vertreten, da Interessen eines Wahlkreises nichts in der Bundespolitik zu suchen haben.

Bowu
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Di 13. Sep 2005, 01:42 - Beitrag #7

Das hiesse allerdings, die Verteilung der Bundestagsmandate nach der Wahl komplett den Parteien zu überlassen, es sei denn auch die Zweitstimme wird reformiert, so dass auch Listenwahlen personalisiert werden.

Ohne solch eine Personalisierung der Zweitstimme halte ich eine Abschaffung der eRststimme nicht unbedingt für sinnvoll.

Saint-Just
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Di 13. Sep 2005, 02:04 - Beitrag #8

Es gibt viele Gründe, die gegen das angelsächsiche Modell des Wahlrechts sprechen. Zumindest die vorletzte US-Wahl sollte so manchem noch in Erinnerung geblieben sein: Einen von der Mehrzahl des Volkes gewählten Präsidenten Gore zu verhindern, weil die absolute Anzahl der Wahlmänner in relativem Verhältnis für Bush ausgezählt werden musste, das ist für mich nicht richtig und kann nicht richtig sein.

Der Tod jener Abgeordneten jedoch ist ein Politikum. Es ist ein Selbstläufer in Medien in Wahlkampfzeiten: oh bitte, als wäre sowohl jener Vorschlag nicht durchführbar, die Urnen für eine weitere Woche zu versiegeln, wie jener, eine Woche später wählen zu lassen.
Keine Frage: Jeder hätte sich ein anderes Wahlverfahren gewünscht, nämlich ein definitives Ergebnis am Wahlabend. Doch anstatt sich davor zu fürchten, daß subversive Kräfte sich versiegelter Wahlurnen in Deutschland bemächtigen könnten, ist wohl vornehmlich der Tod der Politikerin zu betrauern.

Bowu
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Di 13. Sep 2005, 02:17 - Beitrag #9

Mit der Personalisierung meine ich nicht das Einschalten von Wahlmännern, sondern das man bei der Wahl einem Kandidaten der Liste der Partei seine Stimme gibt, und die Bundestagsmandate so der Stimmanzahl entsprechend gefüllt werden.

janw
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Di 13. Sep 2005, 15:02 - Beitrag #10

Naja, auch wenn es etwas wegführt...ich bin gar nicht mal so gegen das Zweitstimmensystem.
Es gibt momentan zwei Parteien, die für mich wählbar sind, zwischen denen ich noch hänge. Mein Wahlkreis ist allerdings der des Verteidigungsministers und eines CDU-Männleins, dazu noch einer chancenlosen Grünen und einer Person aus der FDP. Wenn ich den CDU-Hansel verhindern will, dann wähle ich ihn nicht, sondern den außer ihm am ehesten erfolgversprechenden Verteidigungsminister. Die Grüne zu wählen - jene Stimme wäre vergebens.
Mit der anderen Stimme kann ich dann die Partei wählen, die ich als Ganzes im Bundestag stärken möchte.
So dumm finde ich diese Möglichkeit also nicht.

ich_von_hier
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Di 13. Sep 2005, 15:56 - Beitrag #11

Nun ja, warum die Nachwahl die einzigst vernünftige Lösung ist, hat janw ja schon geklärt. Und man konnte ja nicht damit rechnen, schlieslich war die Frau gerade mal ein paarundvierzig.

Das Zweitstimmen-System abzuschaffen ist ziemlich unvernünftig. Unser Wahlsystem ermöglicht die Kombination von Verhältnis- und Mehrheitswahl. Und auch bei jeder anderen Wahl wird es irgendwelche Nachteile geben. Alle zufrieden zu stellen ist sowieso unmöglich.

Was mich angeht, bin ich über die Nachwahl sehr glücklich.
1. Kommen mit etwas Glück viele Politiker hier nach Dresden. (hat Bowu ja schon erzählt). Merkels und Schröders letztes auftreten hab ich leider verpasst. :(
2. Kann man als Wahlhelver hier gleich doppelt absahnen, da der Wahlkreis 161 (Dresden II - Meißen I) normal wählen geht. *g* So macht geld-verdienen spaß.

Allgemein ist zu sagen, das diese Wahl halt anders ist, eben wegen dieser Ausnahmesittuation. Aber vielleicht ist ja schon am Sonntag alles entschieden und der Wahlkreis 160 ist nur noch eine reine Formsache.


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