Despoten zu Gast bei Freunden

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Lykurg
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Mo 10. Apr 2006, 21:41 - Beitrag #1

Despoten zu Gast bei Freunden

Wie die traditionelle Gastfreundschaft sowie die klassische diplomatische Zurückhaltung auf Staatsbesucher zu reagieren habe, deren Regime in keiner Hinsicht westlichen Maßstäben genügt, soll hier genauer betrachtet werden. Anlaß sind für mich zwei Zeitungsartikel, die mir heute auffielen, einer über Ahmadi-Nedschad und einer über Lukaschenko. Letzterer bekommt seit ein paar Jahren kein Einreisevisum mehr für EU-Staaten (was gerade auf sein Umfeld ausgeweitet wurde). Dagegen gab es Spekulationen über einen möglichen WM-Besuch des iranischen Präsidenten, woraufhin Schäuble empfahl, ein guter Gastgeber zu sein. Der Artikel dazu spielt mit dem Gedanken, ob er (wie Irving in Österreich) als Holocaust-Leugner verhaftet werden müsse.

Was haltet ihr von dieser Möglichkeit? Und darüber hinaus eben: Wo beginnt, wo endet diplomatische Immunität? Wie geht man mit Despoten um, wenn sie als Gäste kommen?

janw
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Mo 10. Apr 2006, 22:47 - Beitrag #2

Herr Schäuble muss sich den Vorwurf gefallen lassen, mit zweierlei Maß zu messen. Man kann nicht als verantwortlicher Minister gegen den einen Despoten ein Einreiseverbot verhängen (das im übrigen, wenn ich es richtig sehe, für die gesamte EU gilt) und für einen anderen - nun ja, auf sein eigenes Volk bezogen ist er kein klassischer Despot, aber immerhin Leugner eines Völkermordes und nach bundesdeutschem Recht ein Straftäter (was ich aber gleich noch auseinander nehmen werde) und Brecher des Völkerrechts (Handeln entgegen der IAEO) die Parole ausgeben, ihn freundlich zu empfangen.
Sofern be Achmadi Nedschad eine strafbare Handlung vorliegt, grenzt dies gar an Aufruf zur Strafvereitelung im Amt. Ein krimineller Innenminister, das fehlte eigentlich noch...

Wobei zur Leugnung des Holocausts zu sagen ist, daß wohl auch hierfür der Rechtsgrundsatz gilt, daß diese nur dann strafbar ist, wenn sie an dem Ort ihrer Äußerung eine strafbare Handlung darstellt.
In Österreich stellt diese iirc wie in Deutschland eine strafbare Handlung dar, muss alos dort wie verfolgt werden und aufgrund von Rechtshilfeabkommen auch hierzulande.
Insofern dürfte es schwer werden, deshalb Achmadi Nedschads juristisch habhaft zu werden.

Jedoch, seine geäußerte Haltung gegenüber Israel und dem Holocaust und auch sein Handeln gegen Organe der Vereinten Nationen wären in meinen Augen gute Gründe genug, ihn in Deutschland, am besten in der EU, zur persona non grata zu erklären und entsprechend zu behandeln.

Wobei man sicher nicht außeracht lassen darf, welche Auswirkungen eine solche Behandlung in den arabischen Bevölkerungen haben würde.
Im Sinne eines politischen Pragmatismus`, der eigentlich einen Innenminister leiten sollte, wäre es daher in meinen Augen sinnvoll, kühl ersteinmal die juristische Lage zu prüfen und dann entsprechend auf tragbarer Grundlage ein Einreiseverbot zu verhängen oder andernfalls achselzuckend zu sagen "wenn er die iranische Mannschaft unterstützen will, ist ihm dies unbenommen. Punkt"

Feuerkopf
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Mo 10. Apr 2006, 23:51 - Beitrag #3

Das ganze ist mal wieder Diplomatie in Reinkultur.
Lukaschenko kann man die politisch korrekte Stirn bieten, dem iranischen Präsidioten natürlich nicht, weil 1. Öl und 2. wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel stehen. So einfach ist das.

Lykurg
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Di 11. Apr 2006, 09:10 - Beitrag #4

Na, ganz so einfach ist das ja offensichtlich nicht. janws Sicht war da etwas differenzierter - es ist wohl wirklich nicht möglich, Ahmadi-Nedschad für im Iran getane Äußerungen juristisch zu kommen. Dazu gilt immerhin, daß er im Gegensatz zu Lukaschenko eine Wahl gewonnen hat, in der zwar nicht die Kandidaten frei waren, aber die Ergebnisse nach dem, was man hörte, stimmten. :(

Das Einreiseverbot für Lukaschenko beruht offenbar auf einem Beschluß der EU-Außenministerkonferenz. Für Ahmadi-Nedschad fehlt der - sein Fall ist tatsächlich ungleich komplizierter. Wirtschaftliche Beziehungen zu Weißrußland gibt es übrigens auch - allerdings marginal.

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Di 11. Apr 2006, 10:32 - Beitrag #5

wie kommt ihr darauf, Achmadi Nedschad als Despoten zu bezeichnen? Der Mann ist dem Westen politisch unbequem - deswegen wird ja auch schon mit nem amerikanischen Atomschlag gegen Iran mehr als nur noch spekuliert, ohne daß deswegen jemand darüber nachdenkt, Bush und Konsorten zu personae non grata zu deklarieren. Nedschads Anerkennung im Iran selbst aber ist wesentlich größer als viele unserer Politiker sie bei uns genießen. Natürlich gibt es im Iran auch genügend viele Leute, die ihn ablehnen; wenn er aber ein lateinamerikanischer Militärdiktator wäre, würde er von den USA nicht nur akzeptiert, sondern aktiv unterstützt werden.

Ich sage nicht, daß ich ihn in irgendeiner Weise sympathisch finde, nur daß die politische Mulitmoral zum Kotzen ist; es könnte eigentlich klar sein, daß diese ganzen Politiker keiner Kindergarten- oder Schulbuchmoral folgen, sondern daß Nützlichkeit das einzig relevante Kriterium für machtpolitische Akzeptanz oder Ablehnung eines Politikers ist. Machtpolitisch stehen Drecksäcke im Wettbewerb mit Scheisskerlen Und nur die medial verblendete Weltsicht der Privilegierten = Unsereins meint, es würde einen Unterschied machen. Die moralische Keule ist reine Augenwischerei.

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Di 11. Apr 2006, 10:47 - Beitrag #6

Zitat von Feuerkopf:Das ganze ist mal wieder Diplomatie in Reinkultur.
Lukaschenko kann man die politisch korrekte Stirn bieten, dem iranischen Präsidioten natürlich nicht, weil 1. Öl und 2. wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel stehen. So einfach ist das.


Der Iraner und Lukaschenke sind das gleiche Kaliber. Man sollte bei beiden das Gleiche machen.

@ Feuerkopf Auch bei dem Iraner kann und wird man das gleiche anwenden.

janw
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Di 11. Apr 2006, 11:13 - Beitrag #7

Zustimmung zu Ipsi.
Die Schublade "Despot" passt eigentlich nicht zu Achmadi Nedschad.

Schäuble als Kind des Kohl-Systems ist in der geistig-moralischen (Ab)Wende der Kohlokratie gefangen, eigentlich schon deshalb ein Un-Innenminister.

Lykurg
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Di 11. Apr 2006, 11:40 - Beitrag #8

Zitat von janw:Im Sinne eines politischen Pragmatismus`, der eigentlich einen Innenminister leiten sollte, wäre es daher in meinen Augen sinnvoll, kühl ersteinmal die juristische Lage zu prüfen und dann entsprechend auf tragbarer Grundlage ein Einreiseverbot zu verhängen oder andernfalls achselzuckend zu sagen "wenn er die iranische Mannschaft unterstützen will, ist ihm dies unbenommen. Punkt"
Zustimmung zu janw.^^ - Ich glaube nicht, daß man Schäuble als das absolute Böse begreifen muß, auch wenn die Tatsache, daß er bereits zu Kohls Herrschaftszeiten existierte, dazu einen Anlaß geben mag - soviel zu dem Exkurs. Wenn man Schäuble unbedingt in diese Schublade stecken möchte, geben seine eigenen Äußerungen sicherlich genug Gründe, ohne daß man in alten Geschichten graben muß (bzw. mit einer tatsächlich nur zeitbedingt folgerichtigen Zugehörigkeit argumentiert werden müßte).

"Despot" ist die Bezeichnung für einen weitestgehend unbeschränkten Herrscher - insofern trifft sie A-N wohl in ungefähr demselben Maße wie das Große Übel auf der anderen Seite des Konferenztischs.^^ Der wertende Inhalt der Bezeichnung greift allerdings die willkürliche Mißhandlung von Personen in seinem Machtbereich an - was auch auf beiden Seiten gesehen werden mag.^^ Unabsetzbarkeit ist nicht unbedingt notwendig - Despotien wurden (nicht) oft genug gestürzt.

Ist es grundsätzlich gerecht, jeden gleich zu behandeln, unabhängig vom in Details deutlich voneinander abweichenden Verhalten?

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Di 11. Apr 2006, 12:50 - Beitrag #9

Zitat von Lykurg:Zustimmung zu janw.^^ - Ich glaube nicht, daß man Schäuble als das absolute Böse begreifen muß, auch wenn die Tatsache, daß er bereits zu Kohls Herrschaftszeiten existierte, dazu einen Anlaß geben mag - soviel zu dem Exkurs. Wenn man Schäuble unbedingt in diese Schublade stecken möchte, geben seine eigenen Äußerungen sicherlich genug Gründe, ohne daß man in alten Geschichten graben muß (bzw. mit einer tatsächlich nur zeitbedingt folgerichtigen Zugehörigkeit argumentiert werden müßte).

"Despot" ist die Bezeichnung für einen weitestgehend unbeschränkten Herrscher - insofern trifft sie A-N wohl in ungefähr demselben Maße wie das Große Übel auf der anderen Seite des Konferenztischs.^^ Der wertende Inhalt der Bezeichnung greift allerdings die willkürliche Mißhandlung von Personen in seinem Machtbereich an - was auch auf beiden Seiten gesehen werden mag.^^ Unabsetzbarkeit ist nicht unbedingt notwendig - Despotien wurden (nicht) oft genug gestürzt.

Ist es grundsätzlich gerecht, jeden gleich zu behandeln, unabhängig vom in Details deutlich voneinander abweichenden Verhalten?


Ja es ist grundsätzlich gerecht. Man muß alle beide gleich sehen. und sie auch nach gleichen Gesichtspunkten behandeln.

Ipsissimus
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Di 11. Apr 2006, 18:36 - Beitrag #10

und wie kommst du darauf? Meinst du, man könne allen Menschen alle Sachverhalte unterschiedslos gleichermaßen abverlangen? Das hätten die Manager und Juristen gerne, klar. Die Realität sieht völlig anders aus

janw
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Di 11. Apr 2006, 21:34 - Beitrag #11

Lykurg, es gibt in meinen Augen schon Bereiche, wo Gleichbehandlung sinnvoll, gar geboten, ist - vor dem Gesetz, bei der Zubilligung von grundlegenden Rechten usw. Was die beiden Personen betrifft, ist IMHO Differenzierung gefragt. Lukaschenko führt eine Autokratie mit den Mitteln der Wahlfälschung und der brutalen Verfolgung jeglicher kritischer Kräfte, wobei er mittlerweile damit wohl keine Minderheit mehr bekämpft - eines Volkes, das säkular, einigermaßen gebildet und grundlegend demokratiefähig ist.
A.-N. führt eine - man möge mich korrigieren - zumindest in Teilaspekten und ohne Ergebnisfälschung demokratisch legitimierte Regierung eines Volkes, das stark religiös ist und sehr divers, was Bildungsstand und Demokratiefähigkeit betrifft. Gewiss ist der Umgang mit oppositionellen Kräften nicht zimperlich, die Existenz einer großen Exiliraner-Gemeinschaft auch in Deutschland spricht hier Bände, aber der Iran ist damit im Prinzip einer von vielen - so ist es Wirklichkeit in praktisch allen Schwellenländern.
Gut, nur er leugnet von all den Regimeführern den Holocaust und strebt zumindest verbal danach, ein anderes Land von der Landkarte zu tilgen - das kann man ihm mit Recht übelnehmen (wenn auch Israel selbst in seinem selbst unrechtmäßigen Verhalten viel Anlass zu dem aufgestauten Hass beiträgt).
Dennoch hieße ihn zu bannen in meinen Augen Lukaschenko aufzuwerten, und wenn kann dies nur im europäischen Konzert geschehen.

In meinen Augen muss man auch die Langzeitwirkungen betrachten - hat nicht das Embargo gegen Cuba vielleicht regimestabilisierend gewirkt?

Was Sch(r)äuble betrifft, Du hast recht, was sein eigenes Handeln betrifft.
Wie lebt es sich eigentlich mit so einem Onkel ? ;)

Ipsi, wie wäre es mit einer "individuell gleichen" Behandlung?

Ipsissimus
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Sa 15. Apr 2006, 22:55 - Beitrag #12

jan, wenn als erster Satz eines auf den Peanoschen Axiomen beruhenden Aussagesystems der Satz 2 + 2 = 5 gelten soll (durch wie auch immer gerechtfertigte Machtsetzung), können, basierend auf diesem Satz, unendlich viele gültige Aussagen getroffen werden, die alle ungültig sind

janw
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Mo 17. Apr 2006, 18:34 - Beitrag #13

Ipsi, wenn wir nun in der Frage der Werterelativität eine Antwort als so wahr setzen wie 2+2=4, dann müßten doch alle auf dieser Basis getroffenen Aussagen per se gültig sein und auch absolut, oder?
Würden wir also in diesem Sinne die Werterelativität als gegeben ansehen, dann wäre jede auf Werten basierende Argumentation hinfällig.
In diesem Falle wären demnach der Iranische und der Belarussische Machthaber gleichermaßen nicht zu beanstanden.
Sehe ich das richtig?

Dann wäre Politik immer und überall reine Willkür, "cosi fan tutte - nur manche sind eben auf der falschen Seite".
Ist das der Ausgangspunkt für fundamentale Machtkritik?


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