Nicht-Interventionismus - ein geeignetes Paradigma internationaler Politik?

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
janw
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So 14. Jan 2007, 17:16 - Beitrag #1

Nicht-Interventionismus - ein geeignetes Paradigma internationaler Politik?

Aus den diversen Diskussionen zum islamistischen Terrorismus und zu anderen Fehlentwicklungen im Verhältnis der westlichen Industrienationen zum Rest der Welt hat sich herauskristallisiert, daß neben wirtschaftlichen Interessen und weltanschaulichen Positionen das wechselseitige Nicht-Verstehen der Grundlagen des jeweils Anderen und Gefühle der Bevormundung eine große Rolle für die Konstituierung der resultierenden Konflikte spielen.
Betrachtet man die dabei aufeinander treffenden kulturellen Gegebenheiten, so zeigt sich dabei recht schnell, daß diese in Teilen derart unvereinbar sind, daß Konflikte zwangsläufig auftreten werden, wenn eine der Seiten auf der universellen Gültigkeit ihrer Paradigmen besteht, daß außerdem in kulturellen Fragen schwerlich Kompromisse zu erreichen sein werden, da diese ja stets von den dahinter stehenden Bevölkerungen übernommen werden müssten.

Aufgrunddessen stellt sich mir die Frage, ob ein gezielter Nicht-Interventionismus, die Hinwendung zu einem Primat der Eigenentwicklung ein besserer Weg wäre. Ob er zugleich für "uns" vertretbar wäre, auch wenn er die Abkehr vom Prinzip universell als zu gelten habender Rechte bedeuten würde.
Konkret, wenn unterschiedliche Rechte für Frauen für einen integralen Bestandteil einiger Kulturen gehalten werden, könnte dies hingenommen werden?

Zwei wesentliche Punkte drängen sich mir auf, die dagegen sprächen:
Zum einen, daß in einer Zeit der Faktizität der wirtschaftlichen Globalisierung die Frage der Intervention praktisch nur auf den Bereich des durch staatliche Maßnahmen, überwiegend im Zuge von Entwicklungshilfe anzuwenden wäre, mithin stünde die Durchsetzung der Rechte eben von Frauen und Minderheiten zur Disposition und die Demokratisierung - alles andere wird ja als Gegenstand des freien Spiels der Kräfte des Marktes gesehen.
Es liefe also auf noch mehr Dominanz eben des wirtschaftlichen Geschehens hinaus, das intendierte Korrektiv dazu fiele weg.

Zum anderen stellen die Durchsetzung von Frauen- und Minderheitenrechten sowie die Demokratisierung Gegenstände der Entwicklungshilfe dar, die seit den 80er Jahren eben aus der Erkenntnis der Unzureichendheit reiner wirtschaftspolitischer Maßnahmen, ja ihren schädlichen Wirkungen, dar, man könnte mithin von einer Rolle rückwärts in die 70er Jahre sprechen.

Dennoch, die Frage brennt - wie gehen "wir" bzw. könnten "wir" umgehen mit dem Diktum, Demokratie und Gleichberechtigung seien nicht vereinbar mit der Kultur arabischer Länder, letztlich auch zahlreicher afrikanischer, wenn man dort die Frage stellen würde ?

Ipsissimus
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Fr 19. Jan 2007, 12:41 - Beitrag #2

das Problem besteht darin, daß wir nicht zu einer tabula-rasa-Situation zurück können, von der ausgehend wir so tun können, als gäbe es keine systematischen Hindernisse. Nichteinmischung klingt gut, ignoriert aber das Faktum, daß Einmischung schon immer betrieben wurde, verschärft dadurch, daß seit mindestens 500 Jahren sich dabei ein Übergewicht bestimmter Staaten entwickelt hat, durch welches Einmischung sich schon lange zu "Macht über" wandelte. Es kann also nicht nur um Nichteinmischung gehen, ehe wir dahin kommen müssen erst mal Privilegien - unsere Privilegien -abgebaut werden. Im Moment wäre Nichteinmischung nicht nur ein bißchen so, als ob ich einen Menschen dreiviertel tot schlage, sämtliche Knochen breche und ihm dann, während ich mit seiner Frau schlafe, zurufe "So, von jetzt an mische ich mich nicht mehr bei dir ein".

Dazu ist es ein ungeheurer Brocken, den Mentalitäts-Übergang von Stammesgesellschaften zu demokratischen Gesellschaften zu bewirken, also nicht nur eine Form überzustülpen, sondern das Empfinden von Menschen zu ändern. Überdies einer, von dessen Notwendigkeit und Qualität ich nicht überzeugt bin, da ich Demokratie als Herrschaft von Wirtschaftsfunktionären u.dgl., also als getarnte Oligarchie auffasse. Auch in Europa und USA ist Aufklärung nur ein hauchdünner Anstrich.

Nehmen wir noch die Vermischung (firmen)privater mit öffentlichen Interessen hinzu, kommen wir zu dem Bild eines riesigen gordischen Knotens, zu dessen klassischer Auflösung der Umstand nur unbedeutend im Wege steht, daß die Fäden, die dazu (z)erschlagen werden müssen, unzählige einzelne Menschen sind. Ich wage die Prognose, daß unsere Gesellschaften und ihre Tendenzen mit ihrem Werkzeug "Globalisierung" allerdings genau dahin unterwegs sind, eine erdweite Gleichmacherei, bei der alle regionalen Unterschiede über kurz oder lang platt gewalzt werden, und sei es dadurch, daß ganze Regionen aussterben oder gleich ausgerottet werden. Dabei wird es dann wohl auch zu solchen Nebeneffekten wie formaler weltweiter Gleichberechtigung der Frauen kommen, die es sich leisten können.

janw
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Fr 19. Jan 2007, 14:00 - Beitrag #3

Stimmt wohl, "wir" haben es schon weit gebracht damit, die traditionellen Kulturen von einer eigenständigen Lebensfähigkeit zu entfernen, und dahinter können "wir" nun nicht mehr zurück..

Dazu ist es ein ungeheurer Brocken, den Mentalitäts-Übergang von Stammesgesellschaften zu demokratischen Gesellschaften zu bewirken, also nicht nur eine Form überzustülpen, sondern das Empfinden von Menschen zu ändern. Überdies einer, von dessen Notwendigkeit und Qualität ich nicht überzeugt bin, da ich Demokratie als Herrschaft von Wirtschaftsfunktionären u.dgl., also als getarnte Oligarchie auffasse. Auch in Europa und USA ist Aufklärung nur ein hauchdünner Anstrich.

Nun, das müsste Demokratie von sich aus nicht sein...und ist es wohl auch erst allmählich geworden. Aber selbst, wenn Demokratie heute anders wäre, wäre es dann qualitativ geboten, sie Stammesgesellschaften als praktisch obligatorisch zu übernehmende Alternative anzudienen?

Wenn sie auch nur ein mantelhafter Anstrich ist, kommt der Aufklärung und Gleichberechtigung ein Wert, eine Bedeutung zu, die Gesellschaften ohne sie als "mangelhaft" erscheinen läßt?

Ipsissimus
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Fr 19. Jan 2007, 14:44 - Beitrag #4

was Demokratie von sich aus nicht sein müßte ...^^ du brauchst andere Menschen, um ne andere Demokratie zu bekommen, die den Namen wert ist. Solange ist es gleichgültig, was Demokratie sein könnte.

Ich halte Aufklärung durchaus für einen Wert .... mit Weisheit bedacht und nicht als Mäntelchen, das eine gar nicht so aufgeklärte Struktur verbergen soll. Vielleicht bin ich diesbezüglich ein hoffnungsloser Idealist, aber ich erachte Aufklärung nicht für synonym mit rationalem Denken. Aufklärung ist für mich eine Lebenseinstellung, die es sich - ihrer eigenen Souveränität sicher - erlauben kann, ihre eigenen Voraussetzungen so weit hintenan zu stellen, daß es ihr möglich ist, andere Lebenseinstellungen auch dort noch zu verstehen und zu respektieren und ihnen Platz zu gewähren, wo sie deren Lebenseinstellungen nicht teilt, also einen massiven Werterelativismus tatsächlich lebt, ohne sich ihrer eigenen Werte unsicher zu werden.

In diesem Sinne wäre halt zu fragen, was wir exportieren, wenn wir Aufklärung exportieren. Die Fähigkeit zu kritischer Distanz zu den eigenen Vorstellungen und Grundlagen, oder doch bloß Wirtschaftssysteme, Regeln, Normen, Gesetze? Wobei hinzuzufügen ist, daß die meisten gebildeten Menschen einer Sozietät ja doch WISSEN, welcher Schindluder eigentlich betrieben wird, um was es wirklich geht, nämlich Privilegiengenerierung, -sicherung und -ausweitung. Können wir exportieren, andere lehren, wozu wir selbst nicht in der Lage sind? Und mit welchem Recht? Wie immer mit dem des Stärkeren?

janw
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Fr 19. Jan 2007, 15:41 - Beitrag #5

Hoffnungslos denke ich nur bezüglich der Vorstellung, es könnte sich etwas an der überkommenen Deutung des Aufklärungsbegriffes und seiner Verwendung etwas ändern...
Das Problem ist, daß die, wenn wir so wollen Schöpfer des Aufklärungsgedankens selbst noch nicht über ihre eigenen Voraussetzungen steigen konnten. Sartre war zu spät^^
Kant und Descartes waren tief im Glauben verwurzelt, in der Vorstellung einer letztlich göttlichen Bedingtheit der Welt, und wären wohl ähnlich irritiert gewesen wie heutige Katholiken mit Kruzifix und Madonna im Haus es wären, wenn der Vatikan plötzlich in Demokratie machen würde.
Das bedeutet aber auch, daß allein der Gedanke der Übersteigbarkeit der eigenen Voraussetzungen schon ein kulturelles Implantat darstellen würde, die Gläubigen der Welt, und damit vor allem die Armen der Welt wären dann auch noch die letzte Verankerung los, die ihnen ihr Leben lebbar erscheinen lässt.

Ipsissimus
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Mo 22. Jan 2007, 15:26 - Beitrag #6

Das bedeutet aber auch, daß allein der Gedanke der Übersteigbarkeit der eigenen Voraussetzungen schon ein kulturelles Implantat darstellen würde, die Gläubigen der Welt, und damit vor allem die Armen der Welt wären dann auch noch die letzte Verankerung los, die ihnen ihr Leben lebbar erscheinen lässt.


das heißt, es ist im Grunde von äußerstem Interesse unserer ach so aufgeklärten Machtträger, daß Aufklärung niemals "global" werde - ganz im Gegensatz zu ihrer sonstigen Globaliserungsstrategie - denn wirklich aufgeklärte Menschen können nicht mehr ganz so einfach bei der Stange gehalten werden mit ein paar religiösen Geschichten und fromm manipulierten Gefühlchen. Ein paar wenige wirklich aufgeklärte Leutchen können unsere Staaten schon als Alibis verkraften, aber nicht in Masse^^

henryN
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Di 23. Jan 2007, 12:25 - Beitrag #7

Geduld ist wohl doch die schlimmste Übung für ein Menschenleben, daß ja doch leider recht kurz ist, im Verhältnis zu dem, was die Evolution des Denkens für uns noch bereit hält. Wissen ist Macht. Die "Aufklärung" noch nicht das Wissen, was uns die Macht gibt, nicht selbst Macht auszuüben, sondern eben jene Selbstheilungskräfte zu evozieren, die jedem einzelnen Menschen die Fähigkeit gibt, die "MATRIX" aus Sehnsucht, Selbstbestätigung, Selbstwerterhaltung, Sinnschöpfung, Besitzergreifung und externen Antworten zu durchbrechen. Ich meine diverse Lösungs"Ansätze" haben alle menschlichen Kulturen schon hervorgebracht. Wie wäre es mit einem Übersetzungsversuch? Ich übe mich regelmäßig darin, in einzelnen Menschen die resigniert haben, und jene [ich bleib mal spaßeshalber (und hier ja irgendwie passend) bei dem Begriff "matrix", leider als größere "Macht" anerkennen] die Erkenntnis dessen als Stärke anzusehen. Selbstvertrauen zu evozieren. Bei Gleichgesinnten eine leichte Übung. Bei den "Anderen" schon deutlich schwieriger zu erlernen.

Schade, das der Film "Matrix" seine revolutionäre Idee (wie ich finde) so verschenkt hat. Aber es ging ja hierbei eben auch nur um Geld und Erfolgsrausch. Joanne Rowling hatte es irgendwie besser raus. ;-)

Demokratie und Aufklärung oder Parteiensysteme als "Antworten" schlechthin können niemanden überzeugen, nur Regeln, Absichern, Festhalten, Besitz wahren. Sie sind Sinn zum Zwecke der Besitzstandswahrung. Und wenn es nur eine gemütlich eingerichtete Gesellschaft ist, in der ich mich gemütlich wie in einem gemütlichen Cafe dazusetzen darf. ;-)

"mit Geduld und Spucke", und davon werden wir noch viel brauchen...

Ich habe das dumpfe Gefühl, daß sich ein neuer "Zeitgeist" ein neuer "Aufklärungsgedanke" langsam durchsetzt, und in den Medien wie Kunst und Literatur spürbar wird.

Also bitte bitte bitte nicht aufhören weiter solche Fragen, wie die Ausgangsfrage in diesem Thread, in die Welt zu setzen. Ich glaube es reicht wirklich aus, nur die richtigen Fragen zu stellen! Keine Antworten, keine Antworten........;-) :-)

...ging neulich in einen Fahrstuhl, und da betrat ein eigenartiger Mensch diesen engen Raum. Er war mit einer eigenartigen Energie angefüllt, einem Wissen, einer Macht, einer Ausstrahlung, die den Raum viel größer machte als er war. Vielleicht war es jene Energie der totalen Erfüllung, die jener Mensch hat, der mit friedlich lächelndem Gesicht auf dem Totenbett liegt. Aber er war nicht tot. Er war lebendig. Ebenso lebendig, wie ein kleines neugieriges Kind. Nur viel älter.

Jene Menschen, die darin standen (es war im Gerichtsgebäude)
und mit einer Frage gekommen waren, einer Frage, wie es ausgehen würde, erfüllte es mit einem friedlichem Gefühl des Selbstvertrauens, daß es irgendwie in diesem Moment egal machte, was passieren würde. Ein Mensch stand darin (in diesem Falle Anwalt) mit seiner Macht des Wissens ausgestattet und mit der Energie seiner Antwort, seiner Variante eines Urteils.
In seinem Gesicht habe ich einen eigenartigen Schmerz entdeckt...

Vielleicht das Wissen darum, daß seine Antworten, vielleicht nichts zählen könnten.....

Emphatie, Wahrnehmen, Verstehen, die Angst verstehen, den Grund der Angst verstehen, und dann jene Kräfte erwecken, die die Angst auflösen, aber nicht in Form von Religion oder Staatsystemen, die selbst wiederum nur eine mögliche Spielform sind. Es ist etwas Anderes, etwas selbst entdecktes....

Man nennt es Zauberei, weil es unerklärt ist, oder unerklärbar erscheint. und das ist es wiederum auch. Es kann sich nur selbst finden. Aber man kann es provozieren. Es ist ganz real erlebbar. Es nimmt die Dinge hin wie sie sind und ist dennoch aktiv. Es hat Ausstrahlung.....

:-) und muß schon wieder auf "Antworten" klicken... ;-) :-)


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