Wieviel Kontrolle braucht eine freie Gesellschaft...?

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janw
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Di 16. Okt 2007, 22:05 - Beitrag #1

Wieviel Kontrolle braucht eine freie Gesellschaft...?

...braucht sie überhaupt Kontrolle?

Mir fiel von einigen Wochen eine Zeitschrift der Bundeswehr in die Hände, in der sich ein Beitrag über Freiheit und Demokratie in Beziehung zur militärischen Verteidigung fand. Ich konnte die Zeitschrift leider nicht mitnehmen und hatte auch nichts zum notieren dabei, aber ein Zitat erinnere ich recht deutlich.
Irgendjemand hat demnach sinngemäß in leicht epischer Form gesagt, daß alle die, welche Demokratie und Freiheit bejubeln, immer sehen sollten, daß diese nur dank des Wirkens von Soldaten Wirklichkeit geworden seien - und diese die Garanten ihres Bestandes seien.

In erweiterter Form, als Frage, ob und wie weit Freiheit und staatliche Kontrolle zusammen gehen, ist dies nun in dem thread über die geplanten
Kontrollkäufe von Alkohol durch Jugendliche aufgekommen.

Meine Position dort war:
Für mich muss staatliche Kontrolle an enge Grenzen gebunden sein, etwa die Abwehr unmittelbarer Gefahr oder großer Übel - die Geschwindigkeitskontrollen sollen dazu dienen, die Einhaltung von Regeln zu forcieren, die zum Schutz von Leben (durch Unfallvermeidung an Gefahrenpunkten) erlassen wurden - und als hoheitlicher Akt muss sie durch identifizierbare Organe des Staates erfolgen.

Maurice meinte dazu:
Für mich setzt Freiheit nämlich ein gutes Maß an Kontrolle voraus, denn ohne Kontrolle keine staatliche Ordnung und ohne staatliche Ordnung folgt eine deutlich größere Einbuße an Freiheit, als sie durch die Kontrolle erreicht wird. Ich teile da Hobbes Ansicht: „Und Verträge ohne das Schwert sind bloße Worte und besitzen nicht die Kraft, einem Menschen auch nur die geringste Sicherheit zu bieten.“


Zunächst ist dabei zu klären, in welchem Rahmen sich der Begriff der Freiheit bewegt.
Freiheit ist hier als gesellschaftliche und staatliche Freiheit gemeint, als Freiheit des Einzelnen in einer Gesellschaft, welche staatlich verfasst ist.
Wenn man Freiheit als Abwesenheit von Zwang begreift, wird klar, daß Freiheit in einer staatlich verfassten Gesellschaft immer eine relative ist, begrenzt durch die Grenze ("Zwang") der Freiheit des nächsten Einzelnen und den Belang der Existenzfähigkeit der Gesellschaft als Gemeinschaft der Einzelnen zur gemeinsamen Nutzenmehrung und des Staates als den Bestand der Gemeinschaft garantierende Instanz.
Der nächste Einzelne, die Gesellschaft und der Staat mit ihren eigenen Freiheits- und Existenzfähigkeitsbelangen sind also die freiheitsbegrenzenden Gegenüber des Einzelnen, nach diesem gängigen Bild der freiheitlichen Zivilgesellschaft.

Hieran lässt sich kritisieren, daß diese Vorstellung für sich genommen keine Begründung über die Notwendigkeit der Existenzfähigkeit der Gesellschaft enthält, gleichzeitig aber eine nicht unerhebliche Freiheitseinschränkung des Einzelnen durch diesen Belang mit sich bringt.
Überhaupt enthält sie keine eigene Aussage darüber, was, welcher Art "Gesellschaft" sein soll, welchem Zwecke sie dienen soll.

Unklar ist weiterhin, wo die Grenze der Freiheit des Einzelnen genau verläuft - der Belang der Existenzfähigkeit könnte genau genommen schon bei seiner bloßen Infragestellung als tangiert angesehen werden - oder auch erst bei konkreten ihm zuwiderlaufenden Handlungen.

Rosa Luxemburg hat einmal geäußert, daß Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden sei.
Die Infragestellung des Existenzfähigkeitsbelangs von Gesellschaft und Staat wären danach unbedingt erlaubt, geradezu notwendig zur Verwirklichung von Freiheit.

Damit stellt sich die Frage nach der Legitimität staatlicher Maßnahmen zur Sicherung der Existenz von Staat und Gesellschaft - und proklamiertermaßen der Freiheit des Einzelnen. Darf Staat kontrollieren, was die Einzelnen treiben, gewissermaßen an seinem Gartenzaun entlang patrouillieren, oder darf er erst aktiv werden, wenn "das Kind im Brunnen" ist oder gerade im Fallen?

Statt Antworten meinerseits zum jetzigen Zeitpunkt noch eine Frage zum Schluss:
Der Liberalismus ist eine politische Haltung, welche in besonderem Maße den Freiheitsanspruch des Einzelnen gegenüber dem Staat betont. In einer stärker auf wirtschaftliche Aspekte bezogenen Form heute als Neoliberalismus bezeichnet. Wie ist nun der Liberalismus zu trennen von der Haltung der Staatsverweigerung, der Renitenz? Und wie stellt sich die Staatsverweigerung den Begründungen, mit welchen die Existenz von Staaten begründet wird?

EDIT: Weil letzteres wohl doch eine Überfrachtung des threads darstellt, habe ich dazu einen neuen thread aufgemacht.

Ipsissimus
Dämmerung
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Mo 22. Okt 2007, 14:19 - Beitrag #2

zunächst mal verwechselt der Schreiber aus der Bundeswehrzeitschrift Werkzeug und Werkzeugbenutzer; außerdem scheint er sich nicht über den Unterschied zwischen "nach außen sichern" und "im Inneren sichern" klar zu sein. Staaten, in denen das Militär auch für die Innensicherung der Freiheit zuständig ist, gelten zumindest derzeit noch üblicherweise als Militärdiktaturen. Aber solche Feinheiten erwartet mensch von einer Bundeswehrzeitschrift wohl auch nicht^^


Wenn Rosa Luxemburgs Zitat überhaupt irgendetwas bedeutet, dann weist es auf den interaktiven Charakter von Freiheit hin. Wenn Freiheit die Freiheit des Andersdenkenden ist, dann gibt es einen Denkenden, der jenem Andersdenkenden Freiheit gewährt oder verwehrt; nicht ganz so deutlich, aber dennoch erkennbar, weist es auch darauf hin, dass das Denken des Denkenden als normativ oder wenigstens normenkonform gilt, während das Denken des Andersdenkenden als deviant aufgefasst wird.

Das heißt, ihr Zitat funktioniert nur vor dem Hintergrund von - auf die Verbindlichkeit des Inhalts bezogenen - Denkhierarchien. Wenn du diese und jene Inhalte denkst, ist dein Denken a priori mehr wert als mein Denken, wenn ich andere Inhalte denke.

So aufgefasst weist das Luxemburgzitat direkt auf die Unmöglichkeit seiner eigenen Möglichkeit hin, denn das Gewähren von Freiheit gerät derart zu einer moralischen Frage, also zu einer überindividuellen Frage. Im Überindividuellen haben individuenmögliche Freiheitsgrade der Interpretation aber nur äußerst geringen Platz, die Freiheitsgrade werden durch Reglement ersetzt. Damit ist Freiheit prinzipiell etwas, das inhaltlich genauso zur Disposition steht, wie auch ein Gesetz zur Disposition stehen kann; sie, die Freiheit, und es, das Gesetz, werden also nur noch nach Notwendigkeit gewährt bzw eingerichtet; in der etwas klügeren Version nützen die Denkenden ihre Deutungshoheit und definieren einfach um, was unter Freiheit zu verstehen sei.

Devianz ist dann nur noch ein Problem der Polizei.


Von daher erübrigen sich auch Fragen danach, was der Staat "legitimerweise" darf oder nicht. Er darf das, woran er nicht gehindert wird. Das einzige, was mir früher absolut unbegreiflich war, wovon ich dann eine Zeitlang glaubte, es verstanden zu haben, ehe es mir mittlerweile wieder und zunehmend unbegreiflich wurde: die unglaubliche Geduld und Langmut der Schafe. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob dies besser als Folge von Massendebilität oder besser als Folge von Massentraumatisierung erklärt werden kann. Beide Ansätze haben etwas für sich, so dass die Wahrheit, wie so oft, wahrscheinlich in der Mitte liegen wird ^^ faktisch ist das probate Mittel hierfür natürlich: atomisiere und spiele die gegeneinander aus, welche - als Geeinte - deiner Hoheit gefährlich werden könnten.

Maurice
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Di 23. Okt 2007, 09:26 - Beitrag #3

Seit die Uni wieder angefangen hat, habe ich volles Programm und fast keine Zeit mehr, ins Internet zu gehen. Werde in absehbarer Zeit in der Matrix kaum zu sehen sein. Bevor ich mir aber wieder aufbreche, um mir im Seminarraum einen Platz zu sichern, ein kleiner Kommentar:

Darf Staat kontrollieren, was die Einzelnen treiben, gewissermaßen an seinem Gartenzaun entlang patrouillieren, oder darf er erst aktiv werden, wenn "das Kind im Brunnen" ist oder gerade im Fallen?

Ist das eine moralische Fragestellung? Was meinst du mit "darf"? Kann man auf deine Frage auch eingehen, wenn man sie durch ein hypothetisches "Soll" modifiziert?

janw
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Di 23. Okt 2007, 11:28 - Beitrag #4

Maurice, Staat kann prinzipiell alles, was seine Vertreter als notwendig, propagandistisch verkaufbar und durch Macht durchsetzbar erachten.
Staat "darf" alles, was der Selbstwahrnehmung seiner Organe hinsichtlich des Verhältnisses vom Staat zum Recht nicht zuwiderläuft (Wenn die Organe sich als Organe eines Rechtsstaates und Gesetze als bindend begreifen, dann müssen alle Handlungen dieser Organe im Rahmen der Gesetze erfolgen, notfalls müssen die Gesetze so umgestaltet werden, daß die gewollten, aber bislang nicht gedurften Handlungen zulässig werden). Formalkorrektheit als Erlaubnisdeterminante.

Staat ist nicht gezwungen, all das zu tun, was der Selbstwahrnehmung seiner Organe hinsichtlich des Verhältnisses vom Staat zum Recht nicht zuwiderläuft; wenn es in einem Rechtsstaat erlaubt ist, Demos wegen zu erwartender Straftaten zu verbieten, können die Organe des Staates dies tun, müssen es aber nicht.
Dann kann gefragt werden, ob sie es tun "sollen", im Einzelfall, immer, unter welchen Bedingungen. "Sollen" gehört in den Bereich, den die einen Ermessen, die anderen Willkür nennen.

Insofern verändert "sollen" natürlich den Sinn der Frage, aber wenn wir uns im Bereich von Handlungen bewegen, die bezogen auf das Recht prinzipiell gedurft werden, ist das IMHO weniger erheblich.

Allerdings ist die Frage hier weniger auf das Recht als Erlaubnisdeterminante gerichtet, sondern es geht darum, wieviel staatliche Einwirkung eine freie Gesellschaft /eine Gesellschaft freier Menschen verträgt, ohne diese Freiheit nennenswert einzubüßen.
"Sollen" hieße hier, etwas formalkorrekt erlaubtes und im Ermessensbereich liegendes zu tun zum Zwecke der Erhaltung der Freiheit.
Wäre die Freiheit bedroht, wenn Staat nicht eingriffe...?
Insofern...schreib ruhig mit "sollen".

Zu Ipsi komme ich später :-)


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