Überwachung im NS-Staat

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
janw
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So 28. Okt 2007, 23:33 - Beitrag #1

Überwachung im NS-Staat

In einer Diskussion über den Film "Das Leben der Anderen", den ich ersten mit einigen Freunden angesehen habe, merkte jemand an, daß die Überwachung ja schon in der NS-Zeit begonnen habe. Natürlich ist die Gestapo für mich ein Begriff, und sie war natürlich ein fundamentaler Bestandteil der NS-Diktatur, aber ich bin mir gerade nicht sicher, ob sie von der Intensität und Durchdringung ihrer Überwachungstätigkeit mit der Stasi vergleichbar ist.
Dabei nur zum Verständnis, es geht mir nicht um einen Vergleich, wie mit den Opfern der Überwachung verfahren wurde - die Unterschiede dort liegen auf der Hand - sondern um das Ausmaß der Überwachung in der Gesellschaft und ihre Dokumentation.

Lykurg
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Mo 29. Okt 2007, 01:14 - Beitrag #2

Ich kenne keine Vergleichszahlen, nehme aber an, daß der prozentuale Anteil der Überwacher an der Gesamtbevölkerung im Dritten Reich deutlich geringer war, weil das Konzept nicht das einer gesamtgesellschaftlichen Durchdringung mit Spitzeln, sondern eher einer Abwehr vermeintlicher Gefahren und Verfolgung möglicher Gegner war. Dabei dürfte es außerdem erhebliche Ineffizienz gegeben haben: Wie für den NS-Staat allgemein üblich, waren die Kompetenzen nicht klar verteilt, sondern lagen zwischen verschiedenen Organisationen (Gestapo, Sicherheitsdienst, Abwehr; aber auch eigene Abteilungen innerhalb der SS dürften geheimdienstartige Tätigkeiten durchgeführt haben). Überwachung in die Breite fand durch allgemeines Bespitzeln (etwa Nachbarn, die das Hören von 'Feindsendern' weitermeldeten), Indoktrinierung der Kinder (denen eingeschärft wurde, ihre Eltern zu verraten, sei ein großartiger Dienst am Vaterland) und die Institution des Blockwarts statt, der die Bewohner zu kennen und alle relevanten Vorkommnisse zu melden hatte.

Ich könnte mir insofern vorstellen (jedenfalls legen es die literarischen und autobiographischen Berichte der Zeitzeugen nahe), daß die Angst vor Bespitzelung allgegenwärtiger war - während im Fall der zweiten Diktatur ja sehr viele erst nach Öffnung der Akten völlig überraschend erfuhren, daß ihre engsten Freunde, Mitarbeiter, sogar Ehepartner über sie berichtet hatten.

Maglor
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Mo 29. Okt 2007, 11:23 - Beitrag #3

Lykurg hat schon etwas wichtiges angesprochen: Im 3. Reich dominierten die Personen, nicht die Institutionen! Pathologisch ist, denke ich, ein Ausspruch Görings: "Wer Jude ist, bestimme ich."
Das 3. Reich war extrem anfällig für Vetternwirtschaft und Gefälligkeiten jeder Art. Manche Historiker sprechen fast schon von Anarchie, was sich auf das Kompetenzgerangel der Nazis bezieht.
Ich habe mal irgendwo gehört, dass die Stasi es nötig hatte, ihre Spitzel zu bezahlen, während im 3. Reich das ganze mehr oder minder auf freiwilliger Basis ablief. Die DDR hatte im das Makel, eine von den Sowjets geschaffener und quasi kontrollierter Staat zu sein. Die Nazi-Diktatur hingegen war Made in Germany. :crazy:
MfG Maglor

teut
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Mi 31. Okt 2007, 18:10 - Beitrag #4

Ausspruch Görings: "Wer Jude ist, bestimme ich."
Leider stammt der wie so vieles was immer wieder zitiert wird nicht von Göring.Sondern richtigerweise vom Wiener Bgm Lueger um die Jahrhundertwende.

Maglor
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Mi 31. Okt 2007, 20:46 - Beitrag #5

Korrekt, Göring sagte nämlich „Wer bei mir Jude ist, bestimme ich“ . ;-)

henryN
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Do 1. Nov 2007, 04:57 - Beitrag #6

der wirklich entscheidende Unterschied:

die Nazidiktatur benutzte die Angst der Menschen bespitzelt zu werden oder die Angst nicht zur Gemeinschaft zu gehören, die viel versprach und sich auf eine Sehnsucht und Hoffnung warf, die gross gewachsen war.

in der DDR hatten nur jene Angst die die Macht innehatten, Angst sie zu verlieren, nicht die endgültige Fortschrittslösung und Befreiung des Menschen zu sein. Diese Angst war sehr viel persönlicher und vom individuellen Leiden der Mächtigen bestimmt, als das sie selbstbewusst und ernstzunehmend daher gekommen wäre. Man konnte lachen darüber, zwar auch nur privat, das aber aus tiefstem Herzen und in fast jeder privaten Gemeinschaft.
Sie ist in einer Zeit entstanden, in der schon alles verloren war, fast jeder einen einschneidenden Verlust im Privaten erlebt hatte. Niemand hatte wirklich was zu verlieren, nur zu gewinnen.

Lykurg
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Fr 2. Nov 2007, 00:53 - Beitrag #7

Zitat von henryN:in der DDR hatten nur jene Angst die die Macht innehatten
Na, da verklärst du in meinen Augen das DDR-System aber doch ziemlich... ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, was für Angst man z.B. bei der Grenzkontrolle haben konnte, einfach Angst vor der Willkür der Beamten. Und was du mit "Niemand hatte wirklich was zu verlieren, nur zu gewinnen" meinst, verstehe ich nicht.

janw
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Fr 2. Nov 2007, 01:34 - Beitrag #8

Lykurg, ich verstehe Dein Unbehagen, aber vielleicht macht Henrys Erklärung Sinn...die Angst der Bonzen um ihre Position und den Bestand ihres Weltmodells, vielleicht gar ihre Ahnung von dessen Brüchigkeit erforderte für sie, alles in der Gesellschaft zu unterbinden, was ihre Position und den Bestand ihres Weltmodells auch nur ansatzweise hätte infrage stellen können. Natürlich findet sich dafür eine allgemeinverständliche Erklärungsalternative, nämlich die der Staatsräson.

[EDIT]Daß sie damit Angst und Schrecken unter denen verbreiteten, die mit dem Regime nicht harmonierten...keine Frage.[/EDIT]

Der Unterschied zwischen NS-Diktatur und DDR klingt mir recht plausibel.

henryN
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Fr 2. Nov 2007, 02:10 - Beitrag #9

das Wörtchen "nur" ist so sicher nicht ganz richtig. Eine Verklärung liegt mir am allerwenigsten auf dem Herzen, selbst oder vorallem, weil ich selbst dort lebte.......

Angst, ist meiner Meinung nach, das Lebenselexier jeglicher Machtausübung. Auf Seiten des Mächtigen wie auch desjenigen, auf den die Macht ausgeübt wird, der diese Macht annimmt, entweder weil er überhaupt nicht in der Lage ist sich ihr zu entziehen, oder weil die Angst ihn daran hindert tätig zu werden. Eine starke Bindung an materielle und soziale Güter produziert gleichzeitig die Angst, sie zu verlieren.. Dazu gehören private Güter ebenso wie das Bild von der eigenen Lebens- und Existenzform.

Beide Gesellschaften hatten nach dem Krieg mehr oder weniger alles verloren, was es im vorstellbaren Rahmen zu verlieren gab. Auf beiden Seiten war man mit der Neukonstruktion des gesellschaftlichen Lebens beschäftigt. Somit konnten die meisten Transaktionen als gesellschaftlicher Hinzugewinn interpretiert werden. In einer Situation in der es nichts zu verlieren gibt, oder nur sehr wenig, werden widrige Verhältnisse eher als Herausforderung denn als Beschränkung empfunden.

Besitzen konnte man in der DDR nicht sehr viel. Auch musste man vor der Grenze keine Angst haben, denn mit gesundem Menschenverstand konnte man ja sowieso nicht einfach auf die andere Seite wollen, da man es eh nicht durfte, und die die es taten, hatten keine Angst sondern hatten einen grossen Mut aufgebracht jene Grenze zu überwinden. Übrigens wurde diese Grenze ja auch erst 16 Jahre nach Kriegsende gebaut.
Natürlich wurde auch hier Angst produziert. Nur traf sie nicht auf das gleiche psychologische Futter wie in den 30er Jahren.

Es war auch relativ leicht sich dem politischem zu entziehen. Für das Nichtstun und Wollen gab es tausende kleiner Nischen im System, was in einem Naziregime, welches im Verhältnis einen deutlich größeren Willen zur Unterwerfung, Macht und Besitzanreicherung mitbringt schwerer fällt, insbesondere bei einer Massenmobilisierung im Kriegsfalle.

Nach der Wende konnte man dem "Ossi" seine Hilflosigkeit ansehen. Die meisten Menschen hierzulande waren doch eher ungeübt darin, selbst Verantwortung und hinreichend gesellschaftliche und ökonomische Initiative zu entfalten. Die runden Tische waren doch eher von einem kleinen Kreise gebildeter Menschen besetzt und mussten sie auch relativ schnell wieder räumen.

Und jene die nach der Wende am meisten Angst mitbrachten waren jene die befürchten mussten, dass ihr Gesellschaftsbild gescheitert war und dafür gebrandmarkt werden konnten.

Niemand der Mächtigen im Osten, konnte sich seiner Sache auf Dauer wirklich sicher sein. Im direkten Vergleich..........
Und sie waren nicht wirklich mächtig, denn auch sie besassen nichts, ausser ein paar jämmerlichen Waldhäusern an irgendeinem See, auf die man heutzutage vielleicht nichtmal als mittlerer Angestellter ein Auge werfen würde.
Das kratzt am Selbstbewusstsein. ;-)

Und da die Grenze ja zu war, konnte man auch nicht den Traum von der Eroberung anderer Länder installieren, von denen man eh nicht viel wusste, ausser dass es sie gab.

Lykurg
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Fr 2. Nov 2007, 22:07 - Beitrag #10

Danke für die weitere Erklärung! Ich hätte vielleicht gleich sagen sollen, daß ich diese deine Unterscheidung generell einleuchtend finde.
Auch deine Erläuterungen zu den Konsequenzen des Nichtvorhandenseins von wertvolleren Besitztümern sind nachvollziehbar, wenn mir auch ebenso denkbar erschiene, daß man dadurch das, was man hat, um so höher einschätzt und erbitterter verteidigt. In meinen Augen ist das eine Charakterfrage: es dürfte sowohl unter relativ wie unter absolut armen und eben auch reichen Menschen solche geben, die den Verlust ihres Besitzes (und sei es eine Ziege) so sehr fürchten, daß es ihr Wesen bestimmt.

---

War es wirklich so leicht, sich dem Politischen zu entziehen? Das verpflichtende Schulfach "Wehrerziehung"; die Teilnahme an Jungpionieren und FDJ, die fast obligatorisch war und deren Verweigerung u.U. ein Studium unmöglich machen konnte, selbstverständliche Teilnahme an den entsprechenden politischen Fortbildungsveranstaltungen in den Betrieben...
Sicher haben viele Leute dann gefehlt, wo immer sie konnten, aber hatte das wirklich keine Konsequenzen? Und so oder so, ist das als "leicht" einzuschätzen?

janw
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Sa 3. Nov 2007, 13:48 - Beitrag #11

Lykurg, natürlich haben die Ideologen jede Möglichkeit genutzt, den Menschen den Rückzug zu vermiesen und natürlich bei jenen angesetzt, die am ehesten zu beeinflussen sind, Kindern und Jugendlichen. (Daß sie damit auch etwas Auge und Ohr in den Familien hatten, klarer Fall)
Trotzdem haben sich viele dem entzogen, und wenn nicht körperlich, so durch Absitzen der Zeit in der Schulungsveranstaltung, ein paar gefällige Worte zum Lehrgangsleiter und die Konterbande fürs Wochenende auf der Datsche aufheben.
Ich bin anfang der 90er mal auf einem Campingplatz im Ostharz gewesen, und mir ist dort aufgefallen, daß die Leute viel spontaner zusammen gekommen sind, als ich das sonst so kenne. Das war wohl ein Überbleibsel von diesen vielen Nischen.

Mir ist im Kontrast dazu ein Zitat von Hitler eingefallen über seine Jugendkonzeption, das Bände spricht und für das ich kein Pendant aus der DDR kenne: "...und sie sollen nicht mehr frei werden ihr Leben lang".

henryN
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Sa 3. Nov 2007, 19:23 - Beitrag #12

Zitat von Lykurg: es dürfte sowohl unter relativ wie unter absolut armen und eben auch reichen Menschen solche geben, die den Verlust ihres Besitzes (und sei es eine Ziege) so sehr fürchten, daß es ihr Wesen bestimmt.


meine Theorie: viel Besitz, welcher durch den eigenen ökonomischen Stoffwechsel, entweder geschaffen, erhalten oder prozessiert wird, erfordert eine ebenso entsprechende Repräsentation im Bewusstsein.

Darüber hinaus muss man sagen, dass ich als Besitz nicht nur den stofflichen Eigentum von Dingen meine, sondern als Bestandteil der "Ich" Konfiguration, z.b im Sinne von, "ich habe also bin ich" .Dies ist der entscheidende Motor zur Akkumulation von Ressourcen, denke ich. Wenn dies der Motor ist, heisst es auch, wenn ich mehr habe, bin ich mehr wert. Ebenso anders herum. Wenn ich weniger habe, bin ich weniger wert. Ich glaube, dass das mit wesentlich mehr zu tun hat, als einer Charakterfrage.
Hinzu kommt der Faktor Zeit. Wenn es eine Projektion auf das Zukünftige gibt, findet eine Fixierung eines Zustandes statt. Erwartung, Wunsch, Wille, Sicherheit. Dadurch entstehen regelmässig Differenzen zwischen tatsächlich erlebtem und der Realitätssimulation im Bewusstsein. Diese Differenzen äussern sich in Emotionen. Z,B Angst, Aggression, Hoffnung, Sehnsucht....

Der Nationalsozialismus war zutiefst emotional. Die Bürokratie hat ihn real gemacht.


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