Sarkozy ehrt einen kommunistischen Märtyrer...

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
janw
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Di 23. Okt 2007, 01:44 - Beitrag #1

Sarkozy ehrt einen kommunistischen Märtyrer...

Der französische Staatspräsident Sarkozy hat mit der Ehrung eines Opfers des Vichy-Regimes eine kleine Protestwelle im Land ausgelöst. Geehrt wurde dabei ein junger Kommunist, der 1944 zusammen mit einigen anderen als Racheaktion wegen eines Anschlags der Resistance ermordet wurde, und zwar hat Sarkozy angeordnet, daß der Abschiedsbrief des jungen Mannes an seine Eltern in allen Schulen verlesen werden sollte.
Gegen diese Verlesung des Briefes hat sich nun eine breite Protestwelle formiert.

Ich muss gestehen, daß ich diese Proteste nicht auf Anhieb voll und ganz verstehen kann - die Opfer der Resistance gegen das Vichy-Regime sind doch eigentlich landesweit anerkannt und geachtet...
Oder liegt es daran, daß ein konservativer Präsident, der sonst nicht gerade gut auf die Linke zu sprechen ist, nun gerade ein Aushängeschild der Linken ehrt, sich gewissermaßen "zu eigen macht" - ist es Mißbrauch des Opfers, den man ihm vorwirft?
Betrachtet auch unter dem Aspekt, daß Sarkozy für Menschen vom Schlage dieses Menschen sonst weit weniger Sympathien äußert...
Ein solcher Gedanke des sich-mit Fremden-Federn-schmückens und der Ehrung eines Menschen aus reiner Opportunität drängt sich mir zumindest auf.

Ipsi, kannst Du da irgendwelche Einblicke zu beisteuern?

Lykurg
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Sa 27. Okt 2007, 12:55 - Beitrag #2

Nach diesem ntv-Artikel zu schließen, sind die Motive der Proteste ziemlich diffus.
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  • Der Brief Guy Môquets soll jedes Jahr am 22. Oktober an allen Schulen verlesen werden - das verurteilen Lehrerverbände als "staatlich verordnete Geschichtsinterpretation".
  • Sarkozy ging es darum, ein im öffentlichen Bewußtsein präsentes Gegengewicht zum negativen Bild des kollaborierenden Vichyregimes zu schaffen - also eine Betonung des Freien Frankreichs und der Résistance als Träger verstärkten Nationalstolzes. Das wird von manchen Kritikern als "Instrumentalisierung der Erinnerungspflicht" verstanden.
  • Sarkozy selbst verschwieg, daß Môquet von Vichy-Vertretern an die Deutschen ausgeliefert wurde, insofern also zugleich ein Beispiel für Kollaboration ist
  • Als Kommunist eignet sich Môquet schlecht für eine Identifikationsfigur der Résistance, da die KP (auf Weisung Moskaus) damals offiziell den Hitler-Stalin-Pakt unterstützte, daher mit den Zielen der Résistance nicht übereinstimmte.
  • Viele Linke kritisieren die Vereinnahmung eines Kommunisten durch Sarkozy.
  • Kritikpunkte 1 und 4 kann ich gut nachvollziehen - eine allgemein verordnete Lesung ist in meinen Augen nicht das Wahre, und wenn man über 4 hinwegsieht, ist das Geschichtsklitterung. Punkt 2 halte ich dagegen für notwendig - als Franzose sollte man um beides wissen; und gerade der Fall Môquet ist (siehe 3.) ein Paradefall dafür. Für Punkt 5 habe ich eher wenig Verständnis - ich weiß nicht so recht, warum die politische Ausrichtung eines Menschen jemandem verbieten sollte, an ihn zu erinnern, sei es im Guten oder Schlechten. Wenn nur Kommunisten über Rosa Luxemburg sprechen dürften, käme dabei ein mutmaßlich ebensowenig ausgewogenes Bild zustande, wie wenn man die Erinnerung an Wilhelm I. den Monarchisten überließe.

    janw
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    So 28. Okt 2007, 02:20 - Beitrag #3

    Damit wird mir die Sache etwas klarer...
    Die Anordnung der Lesung als alljährliches Ritual ist schon etwas extrem in meinen Augen, weil IMHO doch eher das historische Geschehen als Ganzes vermittelt werden sollte, für das der Brief Guy Môquets sicher ein wichtiges Dokument ist, aber eben eines unter vielen. Es wäre etwa so, als würde die Lesung des Tagebuchs der Anne Frank oder das Auswendiglernen von Celans Todesfuge oder der geplanten Ansprache der Attentäter des 20. Juli 1944 als verbindlicher einzelner Lehrinhalt festgelegt.

    Suspekt ist mir, daß offenbar eine gewisse Rehabilitierung des Vichy-Regimes angestrebt wurde - oder verstehe ich Lykurg falsch?
    In meinen Augen war das Vichy-Regime eine Fortsetzung des Nazi-Terrors mit französischen Mitteln - was soll daran positiv gewesen sein?

    Für Punkt 5 habe ich eher wenig Verständnis - ich weiß nicht so recht, warum die politische Ausrichtung eines Menschen jemandem verbieten sollte, an ihn zu erinnern, sei es im Guten oder Schlechten. Wenn nur Kommunisten über Rosa Luxemburg sprechen dürften, käme dabei ein mutmaßlich ebensowenig ausgewogenes Bild zustande, wie wenn man die Erinnerung an Wilhelm I. den Monarchisten überließe.

    Es geht um den schmalen Grat zwischen Erinnerung und Vereinnahmung: Jeder kann sich auf den Freiheitsbegriff Rosa Luxemburgs beziehen - in meinen Augen ist der grunddemokratisch - aber sie auf diesen Ausspruch zu reduzieren, hieße ihr gedankliches Oeuvre zu verleugnen; täte jemand dies, der dieses Oeuvre sich nicht zu eigen macht, und dann im politischen Machtkampf, wäre es Anbiederei. Und Sarkozy ist mit seinem nie zu vergessenden Ausspruch "kärcher..." der Toleranz gegenüber sozial Anderen eher unverdächtig. Sein plötzlicher Sinneswandel kann daher gut als Versuch wahrgenommen werden, die Opposition zu vereinnahmen, ihre Säulenheiligen zur Verbrämung der eigenen Politik zu mißbrauchen, die freilich nichts mit den Idealen und Zielen dieser Säulenheiligen zu Lebzeiten selbst noch mit jenen der Opposition gemein haben.
    Schlimm genug, daß jemand Präsident der grande nation werden kann, der Menschen als "Unrat" bezeichnet hat.
    Marie Antoinette wollte sie immerhin noch mit brioche ernähren...

    Lykurg
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    So 28. Okt 2007, 20:09 - Beitrag #4

    Zu Punkt 1 bin ich weitestgehend deiner Meinung.
    Suspekt ist mir, daß offenbar eine gewisse Rehabilitierung des Vichy-Regimes angestrebt wurde - oder verstehe ich Lykurg falsch?
    Da verstehst du mich (Punkt 2) tatsächlich falsch: Sarkozy wollte betontend darauf hinweisen, daß es nicht nur (das negative) Vichy gab, sondern auch (positiv) das Freie Frankreich unter de Gaulle und die Résistance.
    Vichy wurde in diesem Fall 'nur' (Punkt 3) geschichtsklitternd 'ausgeklammert'.

    Beide Seiten sollen nicht vergessen werden und die jeweils andere nicht überdecken.

    Restliche Antwort später.

    janw
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    Mo 12. Nov 2007, 03:19 - Beitrag #5

    Zitat von Lykurg:Beide Seiten sollen nicht vergessen werden und die jeweils andere nicht überdecken.

    Nachvollziehbar, wobei sich mir aber die Frage stellt, was am Vichy-Regime positiv zu erinnern ist. Immerhin hat es ohne Not die Judengesetze eingeführt, die Verschleppung und Ermordung der Juden und anderer gesellschaftlicher Gruppen nicht nur geduldet und auch sonst mit den Nazis recht bereitwillig kollaboriert, über das von den Deutschen geforderte Maß hinaus.
    Gut, wenn aber in manchen Kreisen Vichy immer noch verklärt und die Resistance ignoriert bis verdammt wird, macht das Vorgehen sicher Sinn.

    Lykurg
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    Mo 12. Nov 2007, 11:42 - Beitrag #6

    Nein! Ich meine nicht, daß irgendetwas an Vichy positiv war (zumindest ist mir nichts dergleichen bekannt), sondern daß es eben auch die exilierten Organisationen des Freien Frankreich gab; eine provisorische Regierung, Radiosender, auf alliierter Seite kämpfende Verbände der französischen Streitkräfte... Mit "beide Seiten" meinte ich Vichy und das Freie Frankreich.

    janw
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    Mo 12. Nov 2007, 16:45 - Beitrag #7

    Gut, ich dachte mir auch schon, daß Du es so gemeint hattest :)

    Gibts vielleicht aus Ipsis Sicht noch etwas zu dieser Geschichte bei den Wackessen zu sagen?

    henryN
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    Mo 12. Nov 2007, 22:34 - Beitrag #8

    "Ein 17-Jähriger, der sein Leben für Frankreich gibt, ist ein Beispiel für die Vergangenheit und für die Zukunft" sagt Sarkozy

    ...darauf läuft es also hinaus. Sarkozy taugt für ein Shakespearedrama. In ihm steckt einfach ein kleiner Hitler. ;-)
    Aber da es H. schon gegeben hat, und sich auch die Franzosen daran hoffentlich erinnern......

    Frage mich wofür ein unerfahrener, recht unwissender, 17 jähriger heute oder in Zukunft sein Leben geben soll? Für ein Selbstmordattentat auf Sarkozy? ;-)

    janw
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    Mo 12. Nov 2007, 23:51 - Beitrag #9

    Wobei...hat er überhaupt...sein Leben für irgendwas gegeben, oder ist das nicht Wunschdenken, einschließlich der Anschauung, eine Nation sei etwas, für das ein vernünftiger Mensch ehrlich auf den Gedanken können könnte, sein Leben zu geben?
    Gut, der Anschauung ließe sich mit Verweis auf einige Opfer des NS-Regimes begegnen, die sich iirc in ihren letzten überlieferten Äußerungen explizit auf ihre Nation bezogen haben.
    Und vielleicht findet sich ja auch in seinem Abschiedsbrief einen entsprechende Passage...

    Trotzdem klingt mir das ganze sehr nach Zuweisung und Vereinnahmung. Und nach dem Versuch, einer Nation Größe zuzuweisen, weil sich jemand für sie geopfert habe. Wird aber der Mensch nicht klein, unbedeutend und zu einer Randfigur, wenn er erst durch seinen Tod in einer bestimmten Situation Bedeutung erlangt? Läuft das nicht geradewegs auf die Betrachtung hinaus, daß der lebende Mensch, erst recht, wenn er unbequem ist, als Unrat von der Straße gekärchert werden sollte?

    henryN
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    Di 13. Nov 2007, 04:20 - Beitrag #10

    genau! und es geht gar nicht darum was jener irgendwann aus welchem Grund auch immer getan haben mag, ob KP oder nicht, ob instrumentalisiert oder nicht. So egal wie Leberwurst.

    S. will Menschen davon überzeugen, dass es toll ist für seine Idee zu sterben. Sein Bild von F.
    Ist doch einleuchtend, oder?
    Er will den Menschen im Menschen vernichtet wissen, weil es das einzige unberechenbare in ihm für ihn ist, und formt die Welt nach seinem Bilde, und verspricht das Leben nach dem Tod, das nicht das Leben desjenigen ist, der gestorben ist. Das Paradies, das versprochene, heisst Frankreich, oder Auflösung in einem Ganzen, das selbst nichts Ganzes ist, nicht mal Familienersatz.
    Aber es ist nur schwache Magie, derer er sich bedienen kann. Im Moment zumindest.

    S. hat sich zumindest die Frage nach dem "Unsinn" des Lebens noch nicht gestellt.

    Er glaubt an Gott, oder an eine Instanz die das Leben regeln könnte, ohne Leid, und nimmt sich selbst heraus "Gott" zu sein. Gottkönig. Aber er scheitert schon jetzt. Das ist schön zu beobachten und auf eine Weise neu in der Geschichte, oder etwa vielleicht doch nicht.............?

    janw
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    Di 13. Nov 2007, 14:10 - Beitrag #11

    Nein, neu ist das nicht, aber man muss dafür nicht auf diesen schnauzbärtigen Randösterreicher zurückgreifen - im Grunde ein running gag des letzten Jahrtausends in Mitteleuropa. Zuerst Erlösung und ewiges Leben durch den Tod für die Christenheit und die heilige Mutter Kirche, als dies nicht mehr zog - verdammte Aufklärung aber auch!;) - gabs dasselbe bei krepieren für Kaiser, Gott und Vaterland, später für Reich, Volk und Führer und ne Fahne und Hymne dazu und ein Bild für Mutter und Familie zu Hause an der Wand. Im Osten krepierte man für Partei und Volk, und es gab Einkaufsscheine und Snatschki.

    Insgesamt aber habe ich für den Jungen doch was übrig, finde, daß seinesgleichen im Gedächtnis bleiben sollten, etwa in demselben Maße, wie S. für mich eine person ist, unnecessary to be spoken about.

    henryN
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    Di 13. Nov 2007, 15:38 - Beitrag #12

    Zitat von janw: unnecessary to be spoken about.


    das nun wiederum nicht. dafür verursacht er zuviel Wind, den man wiederum nicht ignorieren kann. Man muss darüber sprechen. Immerhin handelt es sich um eine gefährliche Abhängigkeitsbeziehung zwischen Angst - Ordnung und Sicherheit.

    janw
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    Di 13. Nov 2007, 16:16 - Beitrag #13

    Gut, ja, stimmt...ignorieren wäre gefährlich.


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