Zur Frage der Mindestlöhne

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
janw
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So 9. Dez 2007, 15:38 - Beitrag #1

Zur Frage der Mindestlöhne

Seit einer Weile ist in das öffentliche Bewusstsein gerückt, daß neben einer größeren Anzahl Langzeitarbeitsloser, die praktisch keine Aussicht mehr haben, eine dauerhafte tragfähige Beschäftigung zu finden, eine größere Zahl Menschen, teilweise in anerkannten Berufen, voll arbeitet und dennoch nicht genug verdient, um damit ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.
Die Reaktion darauf reichte vom Schulterzucken der Ökonomen, die dies als Folge der Marktwirtschaft sehen, gar als Zeichen ihres Funktionierens, über sozialpolitische Überlegungen hinsichtlich staatlicher Ausgleichsinstrumente wie "Kombi-Löhnen" bis hin zur Forderung nach existenzsichernden Mindestlöhnen in den entsprechenden Branchen.
Seit kurzem gibt es nun in zwei Bereichen, in denen vorher vorwiegend nicht existenztragende Löhne gezahlt wurden, staatlich festgelegte Mindestlöhne.
Zuletzt wurden diese Mindestlöhne für Postzusteller festgelegt und sind gerade hier stark in der Kritik. Zum einen wird moniert, daß der Markt nicht hinreichend frei sei - die Post hat nach wie vor eine marktbeherrschende Stellung und wird durch die Befreiung von der Mehrwertsteuer gegenüber Mitbewerbern begünstigt - und weil ins Feld geführt wird, daß die Tätigkeit des Postzustellers vor allem für gering Qualifizierte eine wichtige Beschäftigungsmöglichkeit sei, die Löhne in Höhe des Mindestlohns aber von den Unternehmen nicht erwirtschaftet werden könnten und damit dieses Beschäftigungsfeld durch die Mindestlöhne in Gefahr sei.
Ein Unternehmen hat darauf hin die Entlassung einer größeren Zahl Mitarbeiter bekannt gegeben.

In meinen Augen ist es ein nicht hinzunehmender Zustand, daß Menschen in einer regulären und ganztägigen Beschäftigung nicht genug verdienen, um davon leben zu können, insbesondere in Berufen, für die diese Menschen ausgebildet worden sind.
Dies nicht nur aus "sozialen" Gründen, sondern auch, weil auch von den Wirtschaftswissenschaftlern verlangt werden muss, daß sie die Konsequenzen der in jedem Wirtschaftskunde-Unterricht gelehrten Geldtheorie ernst nehmen, sich ihr stellen, der zufolge Arbeit in unserer Gesellschaft das Mittel ist, Geld im Umlauf zu halten, den Menschen die Existenz zu sichern und ihnen den Konsum der produzierten Güter zu ermöglichen. Zeit ist der "kapitalistischen" (ich benutze diesen Begrifff wertfrei) eine Ressource, damit Geld wert, und damit muss IMHO ein volles Arbeitszeitpensum von 35-40 Stunden/Woche existenzsichernd sein.
Die Verweisung dieser Menschen an die Öffentliche Hand, damit diese die Differenz zur Existenzsicherung zahlt, läuft für mich auf das Phänomen hinaus, das mit "Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren" beschrieben wird, denn die Inhaber dieser Unternehmen profitieren in unkontrolliertem und unkontrollierbarem Maße davon - wie hoch der Unternehmer sich sein unternehmerisches Risiko bezahlen lassen darf, ohne dabei jene angemessen zu bezahlen, die den praktischen Teil seines Geschäftsbetriebes erledigen, bleibt dabei völlig unbeachtet.
In diesem Sinne halte ich die "Kombi-Lohn"-Modelle für ungeeignet, sie werden eher noch zu einer Verschärfung der Lage führen, weil "der Staat ja die Differenz zahlt". Davon abgesehen laufen diese Modelle IMHO darauf hinaus, daß die Betroffenen analog zu Hartz IV Eingriffen in ihre Haushalts-und Lebensgestaltungshoheit ausgesetzt werden (eine Heranziehung von Rücklagen, Geschenken an die Kinder etc. zur Überbrückung von Engpässen wird schnell ins Gespräch gebracht werden, wenn sie nicht schon Teil der Verwaltungspraxis ist) Das liefe mE auf eine Gesellschaft hinaus, die nicht nur Armut trotz Erwerbsarbeit akzeptiert, sondern hiermit auch eine Beschneidung der Rechte zur selbstbestimmten Lebensgestaltung verknüpft, in gewissem Maße eine moderne Sklavenhalter-Gesellschaft.
Die Absage an das "Kombi-Lohn"-Modell schließt dabei für mich nicht aus, daß in Fällen betrieblicher Engpässe staatliche Zuwendungen fließen können, zur Sicherung eines an sich soliden Betriebes und der Existenz der Beschäftigten und mit zumindest teilweiser Erstattungspflicht des Betriebes.

Nun frage ich mich aber, ob die Focussierung auf den Postzustellerbereich nicht zumindest taktisch unklug war.
Der mit der Bundespost ausgehandelte Tarifvertrag deckt zwar aufgrund der monopolgesicherten und auch durch nicht unbefriedigende Dienstleistungskultur des Unternehmens (ich empfinde die Bedienung bei der Post als deutlich freundlicher und effizienter als bei der Telekom zu Monopolzeiten) unterbaute Kundenbindung die Mehrheit der im Postzustellungsgewerbe Beschäftigten ab, erfüllt damit also dieses formale Kriterium zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung, aber die Monopolstellung in wichtigen Bereichen und die Mehrwertsteuerbefreiung für Postdienstleistungen der Bundespost schaffen nicht die homogenen Marktbedingungen, welche in den klassischen Tarifbranchen gegeben sind - im Baubereich wie in der Stahlindustrie und den Handwerksberufen usw. gibt es zwar große und weniger große Betriebe, die aber ggf. durch Spezialisierung durchweg vergleichbare Marktzugangschancen haben.
Insofern wäre es IMHO sinnvoller gewesen, analog zu den Gebäudereinigern für bereits klassische "Problembranchen" wie Friseure u.ä. existenzsichernde Löhne durchzusetzen, Branchen, in denen vergleichbare Marktzugangsbedingungen usw. Realität sind.
Im Bereich der Postzusteller wäre dies demnach dann anzustreben gewesen, wenn diese Bedingungen umgesetzt worden wären - oder zumindest das erhebliche Mehrwertsteuerprivileg aufgehoben worden wäre, immerhin 19%, welche ein Postkunde automatisch spart.

Ein anderes Argument wird immer wieder ins Feld geführt, nämlich, daß der Postzustellerbereich vor allem gering qualifizierten Arbeitnehmern eine Beschaäftigung bietet, welche nun wegfällt, wodurch diese Menschen nun ganz auf staatliche Zuwendung angewiesen seien.
Dieses Argument kann für mich nur begrenzt verfangen, denn auch gering Qualifizierte sollten IMHO bei vollzeitiger Tätigkeit existenzsichernd bezahlt werden - ob ausgebildete Friseure dafür dann mehr Geld bekommen sollten, wäre getrennt zu diskutieren.

Aber nun, wie steht Ihr dazu?

henryN
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Mo 10. Dez 2007, 01:42 - Beitrag #2

Zitat von janw:Ein anderes Argument wird immer wieder ins Feld geführt, nämlich, daß der Postzustellerbereich vor allem gering qualifizierten Arbeitnehmern eine Beschäftigung bietet, welche nun wegfällt


das wäre wohl nur der Fall, wenn keiner mehr Briefe verschicken würde.....
im Falle von Mahnschreiben eigentlich keine schlechte Idee.... ;-)

janw
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Mo 10. Dez 2007, 02:34 - Beitrag #3

Henry, das war natürlich von mir etwas verkürzt formuliert, ich bezog mich auf diese Firma, die jetzt Leute entlässt, weil sie meint, sie nicht zu Mindestlohnbedingungen entlohnen zu können - und dabei tränenreich bedauert, daß dies eben arme gering Qualifizierte treffe.
In meinen Augen sind das Krokodilstränen, denn dieselben Firmenchefs würden unter anderen Bedingungen nüchtern verkünden, daß das Geschäftsmodell offenbar nicht tragfähig sei und daß damit solche Firmen keinen Platz auf dem Markt hätten.
Wenn ich paranoid wäre, würde ich vermuten, daß Springer diese Firma nur dazu gegründet hat, um das Thema Mindestlöhne zu torpedieren, bzw. sie nun zumindest böswillig dazu instrumentalisiert.

Das Problem wäre jedenfalls leicht zu verringern - indem man die Mehrwertsteuerbefreiung auf alle Postdienstleister ausdehnt (angesichts des hohen Menscheneinsatzes mein Favorit) oder auch die Bundespost mehrwertsteuerpflichtig macht.

Ipsissimus
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Mo 10. Dez 2007, 11:34 - Beitrag #4

aus meiner Sicht ist ist ein Mindestlohn ohnehin ein zu kurz greifender Ansatz, da wir es aber gewöhnt sind, dass ohnehin nur politische Flickschusterei betrieben wird, sei´s drum.

Mindestlöhne sind imo ein Schritt in die richtige Richtung, werden auf Dauer aber kein Problem lösen, weil das eigentliche Problem ungelöst bleibt. Das eigentliche Problem: die nahezu beliebige Erpressbarkeit der Nationalstaaten durch Global Player und alle diejenigen, die imstande sind, ihre Produktuivstätten ins Ausland zu verlagern. Außerdem verdecken Mindestlöhne zumindest teilweise die Sicht auf die Arbeitslosen, die von diesem Mindestlöhnen nichts haben. Viel sinnvoller wäre imo eine höhere Grundversorgung. Hartz IV könnte ein guter Gedanke sein, bei einer Regelgrundleistung von etwa 600 Euro pro Monat pro Person - nicht pro Haushalt - zuzüglich Miet- und Heizkostenübernahme pro Haushalt.

Maglor
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Mo 10. Dez 2007, 12:16 - Beitrag #5

Nun ja, ich sehe es eher so, dass das Problem der Dumpinglöhne vor allem im hoch gelobten Dienstleistungssektor verbreitet ist und nicht so sehr in der Industrie.
Bei Studieren der Stelleanzeigen finde ich neben Friseuren und Verkäufern auf 400€-Basis immer wieder auch Psychologen, Ärtzte oder auch Nachhilfelehrer (möglichst mit akademischer Ausbildung!). Ich mutmaße mal, dass da die Global Player noch nicht dran schuld sind.
Die "Unterbezahlung" hat vor allem zwei Gründe:
- Bei Friseuren gilt es als normal, dass es sich in erster Linie um Friseurinnen handelt, die mit einem Ernährer liiert sind. Ergo war es doch nie notwenig, eine Friseurin ordentlich zu bezahlen. Gleiches gilt meist auch für Aushilfmutti an der Kasse. (Ist die Mini-Jobberin zu allem Überfluss auch nicht mit Karlchen Schmitt verheiratet, der am Band seine Schichten abarbeitet, so wird ihr natürlich auch ein Kombilohn verwehrt.)
- Es gibt Berufsgruppen, deren Kundschaft nicht besonders zahlungsbereit sind. Dies gilt vor allem für den Gesundheitssektor. Während am Band immerhin noch Autos gebaut werden, verwahren Krankenpfleger totes Kapital und erzeugen keinen Mehrwert. So kommt es dann auch, dass ungelernte Industrie-Arbeiter dank Haustarif mitunter genauso viel oder mehr verdienen wie examinierte Pflegekräfte.
MfG Maglor :rolleyes:

janw
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Mo 10. Dez 2007, 16:05 - Beitrag #6

Ipsi, völlig d'accord zur Flickschusterei - wobei das "Flick" allein schon zu doppelsinnig ist, um nur Narren böses denken zu lassen^^

Ich denke, hier bahnen wir uns mal durch die Niederungen, und dann kommt nochmal ein thread über das Blauanmalen des Mondes, wie Rüttgers sich mal ausdrückte.

Kommt Dein 600 Euro-Geld ohne die Hartztypischen Eingriffe in die Haushaltsführung und Rücklagen aus?

Maglor, das dumme ist nur, daß die Verwaltungsfachangestellte (vulgo Kraft für Kaffee und Kopieren) im Bürgeramt auch mit einem Gehaltsempfänger liiert ist und dennoch anstandsgemäß bezahlt wird.

Mir schwebt auch ein rrradikales Alternativmodell vor, ich werds mal ausformulieren.

Ipsissimus
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Mo 10. Dez 2007, 20:27 - Beitrag #7

ich denke, bestimmte Dinge kann man diskutieren - zwei Personen müssen keine 80 qm haben, wenn die 400 Euro mehr kosten als die 55 qm. Aber im Rahmen einer vernünftigen Lebensführung sollten die 600 Euro imo pauschal gewährt werden, und zwar unabhängig von vorhandenen Rücklagen, solange die Rücklagen deutlich erkennbar Notreserven sind und nicht etwa Kapitalvermögen. Auch eine Eigentumswohnung oder ein eigenes Haus würde ich nicht anrechnen wollen; statt der Miete könnte dann z.B. die Grundsteuer übernommen werden.

janw
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Do 13. Dez 2007, 03:32 - Beitrag #8

Gut, sicher halte auch ich eine bestimmte Wohnungsgröße für vernünftig, aber daß die Arbeitsamtler einen Umzug anordnen, Leistungsbezug daran knüpfen können (wenn ich das richtig verstehe), geht mir entschieden zu weit.
Meinetwegen soll die Zuweisung von Mietbetrag und Energiebedarf sich auf diese "angemessene" Wohnfläche beziehen, ob und wann daraus ein Umzug resultiert, muss aber IMHO den Menschen überlassen bleiben - denn allzuoft geht es nicht um doppelte Übergrößen, sondern um Maße im Bereich von ein paar qm über dem Limit, außerdem hängt doch oft vieles anderes an einem Wohnort dran, was im Einzelfall erheblich mit der individuellen Lebensführung zu tun hat - Lage der Wohnung in Reichweite zur Schule der Kinder und zu möglichen Arbeitsplätzen, soziale Eingebundenheit, Großeltern, die nebenan wohnen und sich mit um die Kinder kümmern oder von der Leistungsempfängerfamilie gepflegt werden,...

Ich habe ein wenig das Gefühl, daß die Aufwertung von Arbeit zum Schlüssel der Sinngebung, ja zur gesellschaftlichen Daseinsberechtigung, hier zu einer Art Sklavenhaltergesellschaft führt, zu einer Gesellschaft, in der allgemein akzeptiert wird, daß Nicht-Arbeit zum Wegfall prinzipieller Freiheitsrechte führt, wie z.B. dem Recht auf Selbstbestimmung des Aufenthaltsortes und der freien Entfaltung der Persönlichkeit.
Was kommt dann als nächstes? Aberkennung des Wahlrechts für Arbeitslose?

Wobei diese Sicht auf die Arbeit in meinen Augen etwas synkretistisches an sich hat: Hier verbinden sich die "white protestant work ethic" und die mir schon pseudoreligiös erscheinende Geldtheorie mit ihrer Monetarisierung von Zeit.
Sage noch einer, wir lebten im Zeitalter des Rationalismus und in einem säkularen Staat...


Wie es aussieht, war PIN ja schon länger ein wenig ertragreicher Betrieb, der nun als Kronzeuge gegen die Mindestlöhne instrumentalisiert wurde.
Bemerkenswert ist IMHO vor allem, daß es eine Reihe anderer Postzustellungsfirmen gibt, die zwar über die Mindestlöhne nicht begeistert sind, aber durch diese nicht gefährdet werden.

Ipsissimus
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Do 13. Dez 2007, 12:18 - Beitrag #9

Janw, deine Präzisierungen treffen sich durchaus mit dem, was ich meinte^^

zu PIN - was erwartest du von Springer? Schade für alle, die sich auf diesen Konzern einlassen müssen.

janw
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Fr 28. Dez 2007, 14:25 - Beitrag #10

Ipsi, mein Problem ist, daß ich immer noch einen Funken Hoffnung habe, daß auch der schlimmste Springer mal zur Räson kommen könnte. Wobei sie nun deutlich gesunken ist...aus dem Laden wird nichts mehr^^


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