Lücke im Grundgesetz?

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Ipsissimus
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Di 22. Jan 2008, 13:38 - Beitrag #1

Lücke im Grundgesetz?

gemeint ist der Umstand, dass das Grundgesetz keine Untergrenze für die Wahlbeteiligung vorsieht, unterhalb welcher Wahlen keinen legitimierenden Charakter haben.

Der Gedanke hinter der Lückenvermutung besagt, dass es falsch ist, Nichtwählern Desinteresse oder Gleichgültigkeit zu unterstellen, sondern schlimmstenfalls Resignation. Aktiv interpretiert ist Nichtwahl aber eben auch eine Bekundung: KEINE der zur Wahl stehenden Parteien deckt die Bedürfnisse des potentiellen Wählers ab.

Ich frage mich nun, warum das nicht als ein Volksentscheid gedeutet werden soll: Sinkt die Wahlbeteiligung unter x Prozent, ist damit eine gesetzeskräftige Entscheidung zustande gekommen, welche besagt, dass vom Souverän, dem gesamten Volk, der Befehl an seine ausführenden Instituttionen ergeht, unmittelbar nach den Wahlen ein Verfahren in Gang zu setzen, an dessen Ende Korrekturen und Änderungen grundlegender Strukturen, Organisationsformen und Details des Gesellschaftssystems und der politischen Ausrichtung stehen. An diesem Verfahren müssen wiederum alle gesellschaftlichen Größen und eine statistische relevante Anzahl "normaler Bürger" gleichermaßen beteiligt sein. Das Ergebnis wird dann mittels Volksentscheid angenommen oder verworfen.

Dass für x ein Wert < 50 genommen werden muss, ist klar, x sollte jedoch auch nicht so klein sein, dass es faktisch unmöglich ist, dass je ein derartiger Entscheid zustande kommt. Angemessen halte ich etwa x = 33. Wenn bei einer 33prozentigen Wahlbeteiligung eine Partei 35% der Stimmen erhält, heisst das, sie wird von 12% der Bevölkerung getragen. Ich halte den Schluss nicht für abwegig, ihr dann keine Legitimierung mehr zuzubilligen, selbst wenn sie mit ein, zwei weiteren Parteien in Koalition eine absolute Mehrheit (bezogen auf die tatsächlichen Wähler) erreicht werden kann. Tatsächlich aber gäbe es ein Zwei-Drittel-Votum dagegen, dass irgendeine der zur Wahl stehenden Parteien überhaupt legitimiert wird, und das würde auch im Bundestag derzeit für Verfassungsänderungen reichen.

Wie seht ihr das?

Marc Effendi
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Di 22. Jan 2008, 15:50 - Beitrag #2

Meine ehrliche Meinung? Ich kann mir nicht vorstellen, das eine politische Meinung so abwegig sein kann, das es keine Partei gibt, die diese zu vertreten bereit wäre. Und selbst wenn dem doch so sein sollte, dann steht es dem "aktiven Nichtwähler" frei, selbst eine Partei zu gründen, die eben seine Ansicht vertritt.

Aber wenn ich mir die Nichtwähler ansehe, so dürfte die Mehrheit der Nichtwähler der "ist-mir-doch-wurscht"-Ecke angehören. Etwa gleichgroß dürfte der Anteil der "ich-kann-doch-eh-nix-ändern"-Fraktion sein.

Die Gruppe derer, die politisch interessiert sind und aus Deinen Gründen nicht wählen geht, dürfte eher klein sein.

Wenn dem so ist, dann könnte die Gruppe der Frustrierten und derer, denen es egal ist, ein System in Gang setzen, an dem sie wiederum nicht beteiligt werden würden/wollen würden (je nach Überzeugung).

Also ich halte das für wenig praktikabel.

Ipsissimus
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Di 22. Jan 2008, 16:59 - Beitrag #3

aber einer der Punkte meiner Argumentation dürfte vielleicht doch überzeugen - dass bei einer Wahlbeteiligung von 30 Prozent und Anteilsverhältnissen, wie sie heute üblich sind, keine Partei ernsthaft von ihrer Legitmiertheit sprechen kann. Ganz davon abgesehen, dass es zunächst erst mal nur eine Unterstellung ist, die meisten Nichtwähler würden der Desinteresse- oder "ich kann eh nichts ändern"-Fraktion angehören.

Wenn man mal die Frage kurz außen vor läßt, wofür alle die Nichtwähler sind, so gibt sich trotzdem immer noch die Einsicht, dass sie offenbar alle gegen etwas sind, und dass das bei einer geeignet hohen Anzahl von Nichtwählern offenbar ein Mehrheitsvotum ist. Was dann stattdessen kommen wird, diese Frage stellt sich erst, sobald diesem Mehrheitsvotum stattgegeben wurde. Warum das in einer Demokratie illegitim sein soll, müsste mir erst noch erklärt werden.

Marc Effendi
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Di 22. Jan 2008, 17:21 - Beitrag #4

In einem stimme ich Dir zu: die Frage der Legitimation. Das sehe ich genauso wie Du.

Zu welcher Fraktion wieviele Nichtwähler gehören ist natürlich nur eine Vermutung von mir, ich hab da keine konkreten Zahlen. Wäre bestimmt mal interessant, das zu eroieren. Aber ich denke nicht, das ich da deutlich daneben liege.

Wenn meine Theorie richtig ist, dann sind die meisten Nichtwähler nicht gegen etwas, sondern nur nicht für etwas. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Ob das dann ein Mehrheitsvotum ist? Oder überhaupt ein Votum? Da driftet die Fragestellung etwas ins filosofische ab: nämlich ob das Nicht-Kund-Tun einer Meinung oder keiner Meinung auch eine Meinung ist.

Meiner Meinung müßte man aber anders ansetzen. Statt sich ein Instrument zu überlegen, was passiert, wenn eine bestimmte Anzahl seine Stimme nicht wahrnimmt, wäre es m.E. sinnvoller, mehr Menschen politisch zu interessieren.

Ipsissimus
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Di 22. Jan 2008, 18:01 - Beitrag #5

tatt sich ein Instrument zu überlegen, was passiert, wenn eine bestimmte Anzahl seine Stimme nicht wahrnimmt, wäre es m.E. sinnvoller, mehr Menschen politisch zu interessieren.


das dürfte in einer parlamentarischen Demokratie, die ein derartiges Korruptheitsniveau (aka Niveau der Ablösung der politischen Entscheidung vom Willen des Souveräns, des Volkes) wie die unsere erreicht hat, ein schweres Unterfangen werden. Ohne massive basisdemokratische Ansätze auf breiter Front wird da gar nichts gehen, außer dass noch mehr hübsche Floskeln über noch mehr gleichgeschaltete Medien verbreitet werden. - und die Leute trotzdem nicht wählen werden.

Marc Effendi
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Mi 23. Jan 2008, 06:59 - Beitrag #6

Tja, da würde doch die moderne Technik einen Ansatz bieten, oder nicht? Ich habe mal einen Roman gelesen, da war die Gesellschaft basisdemokratisch aufgebaut. Sobald man seinen Computer (oder den Fernseher) eingeschaltet hat, galt es erstmal eine Auswahl an Wahlentscheidungen zu treffen. Das Nichtbeachten zog Sanktionen nach sich, die bis zum Verlust der Bürgerrechte gehen konnten. Wobei nur die Tatsache der Stimmabgabe registriert wurde, nicht die Art der Entscheidungen. So bliebe das Wahlgeheimnis gewahrt.....

Ist nur eine Fiktion, ich weiß. Ich weiß auch, das dann Entscheidungen getroffen werden würden ohne wirkliches Interesse (ich machs damit ich meine Ruh hab...). Aber es wäre ein Ansatz, oder?

Ipsissimus
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Mi 23. Jan 2008, 11:50 - Beitrag #7

das wäre ein durchaus akzeptabler weiterer Ansatz^^

henryN
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Mi 23. Jan 2008, 14:49 - Beitrag #8

Zitat von Marc Effendi: galt es erstmal eine Auswahl an Wahlentscheidungen zu treffen. Das Nichtbeachten zog Sanktionen nach sich, die bis zum Verlust der Bürgerrechte gehen konnten.


hatten wir im Osten schon......... :cool:

wenn eine Mindestbeteiligung dann konsequent. Konsequent hiesse dann zwei/drittel.

Aber welches alternative Modell, stände uns im Falle einer solchen Krise zur Verfügung? Doch nur ein in dieser Situation konstruiertes, oder? Kann man gesellschaftliche Organisationsmodelle konstruieren? Was hätten sie für einen Ursprung in der Gesellschaft selbst? Wo wären die selbsterhaltenden, rückkoppelnden und stabilisierenden Prozesse?

Was sind die wirklichen evolutionären Chancen der Selbstveränderung eines Systems? Wie entstehen sie? Wie verbreiten sie sich? Wie werden sie kommuniziert und wie entstehen daraus integrierbare Prozesse?

zum Thema Korruption:
Ökonomische Macht ist ökonomische Macht. Zumindest solange, wie hinreichend viele leicht zugängliche ökonomische Abhängigkeiten verfügbar sind. Reicht Bewusstsein über Abhängigkeiten aus, um sie einzuschränken und zu 'dämpfen'? Welche Chancen haben Informationen über jene, sich zu verbreiten?

zum Thema Politiker:
Wir haben hinreichend viele Informationen über die Grenzen, Wirkungs- und Einflussmechanismen, denen Politiker ausgesetzt sind. (angefangen bei Max Weber - Staatssoziologie)
..........

Zum Thema Wahl:
Wahl und Entscheidung. Eine neu zu betrachtende Kategorie......
Sie liegt eben nicht allein beim Wählenden oder Entscheidenden. Sie ist eine Folge von ...................
Adäquat zur Diskussion des "freien Willens" würde ich mal probeweise behaupten, es gäbe keine 'freie Wahl' im idealen Sinne. Diese Situation käme einer 'Orientierungsfunktion' im psychologische Sinne nahe. Man müsste raten, wenn nicht hinreichend verschiedene Gründe eine Entscheidung schon nahe legen würden. Man würde vor ihr fliehen müssen, vorallem wenn die 'Zukunftserwartung' (Informationen darüber vorhanden oder nicht), Bestandteil des rückkoppelnden Systems sind.

Wenn eine Menge X eine Entscheidung über Zustand Y oder Z im Verhältnis zum Problem A (Teilsystem von X) fällen muss, entscheidet die Diversifikation der Kommunikationsverhältnisse (Wahrnehmen, Erkennen, Handeln) zwischen Teilen der Menge X und Subsystem A über die Stabilität und Wandelbarkeit. D.h. je mehr verschiedene 'Zugänge' zur Problematik(A), desto mehr ist sie 'eingebunden' 'vernetzt' mit den sich wandelnden gesellschaftlichen Prozessen innerhalb der Menge X.

m.E. läge der Hauptaugenmerk auf den 'Kommunikationsprozessen'. Beispiele für Bürgerbeteiligung in Problemlösungsprozessen existieren hinreichend viele. Nur ist das auch etwas, das in eigenen Lebensprozessen etabliert und stabilisiert sein will sowie genügend Bedeutung und Relevanz prozessieren muss.

Wahlbeteiligung:
Nur ein politisches System, dass sich auf reinste Machterhaltung ausserhalb der Zuweisung von Bestätigung und Anerkennung durch den Wähler in einem Wahlprozess spezialisiert hat, könnte die Information über eine geringe Wahlbeteiligung ignorieren. Ansonsten würde es alle Hebel in Bewegung setzen, um genügend Aufmerksamkeit zu erregen, jene zu aktivieren.

die Katastrophe:
eine Wahlbeteiligung von weniger als 50% wäre eine Katastrophe. Zumindest aus unserer heutigen Sicht der Reflektion des politischen Prozesses.
Existieren genügend Problemlösungsprozesse der Selbstorganisation, die auf neuartige Möglichkeiten des gesellschaftlichen Organisationsprozesses hinweisen und in diesem Moment wirken könnten?
Und wenn nicht, Zusammenbruch, Dikatur? oder runde Tische?

Ipsissimus
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Mo 28. Jan 2008, 13:56 - Beitrag #9

64,3 % Wahlbeteiligung mal 36,8 % bzw 36,6 % der abgegebenen Stimmen für CDU und SPD, ergeben eine Legitimierung jeder der großen Parteien durch ~24 % der Gesamtbevölkerung Hessens. Echt Klasse Legitimation^^ was mensch nicht sehen will, muss mensch natürlich nicht sehen^^ dass da Parteien regieren, gegen die sich ~75 Prozent der Bevölkerung ausgesprochen haben^^

Malte279
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Mo 28. Jan 2008, 17:25 - Beitrag #10

...die allerdings zu einem großen Teil auch keine andere Partei gewählt haben. Es wäre gut zu wissen in welchem maße das nicht-Wählen unmittelbar der bewussten Frustration mit den Parteien, oder aber schlicht politischem Desinteresse entspringt. Das schlechte Wetter wird auch als ein für die Wahlbeteiligung bedeutender Faktor genannt. Ich stimme Dir auf jeden Fall zu, dass es bestenfalls fragwürdig ist Parteien durch einen so geringen Anteil an der Bevölkerung zu legitimieren. Gleichzeitig kenne ich aber so viele Leute die sich einfach viel mehr für den neusten Sexskandal irgendwelcher Prominenter als für Politik interessieren das ich sehr unsicher über den Anteil an den Nichtwählern bin, die tatsächlich eine bewusste und mit mehr als desinteresse begründbare Entscheidung treffen wenn sie der Urne fernbleiben. Wie viele dieser Nichtwähler haben eine Vorstellung davon was getan werden sollte und wie viele wären gegebenenfalls bereit selbst eine Partei zu gründen und sich zu engagieren um die Ziele durchzusetzen die sie von den etablierten Parteien vernachlässigt sehen?


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