Vom Antisemitismus zum Antikapitalismus?

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janw
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Fr 4. Jul 2008, 20:14 - Beitrag #1

Vom Antisemitismus zum Antikapitalismus?

Lykurg berichtete neulich über das 1855 erschienene Buch "Soll und Haben" von Gustav Freytag, in dem dieser eine Reihe antisemitischer Klischees entwickelt, die dieses Buch zum Anknüpfungspunkt vieler späterer Vertreter des Antisemitismus gemacht haben. Daraus ergibt sich dann für Lykurg die Frage, wie weit und warum antisemitische Haltungen und Positionen in moderne Kapitalismuskritik bzw. in Antikapitalismus eingeflossen sind.

Ohne daß ich dies jetzt im einzelnen belegen kann, ist mir schon mehrfach in kapitalismuskritischen Schriften aus dem 19. und frühen 20. JH eine Verquickung mit antisemitischen Positionen begegnet, allerdings betrifft dies vor allem Schriften aus dem nationalistischen Bereich, die dem Quellenfeld des "sozialistischen" Anteils des Nationalsozialismus zuzurechnen sind, im weiteren Sinne könnten hierzu auch Schriften Rudolf Steiners gerechnet werden, der eine Art neoromantischen Gegenentwurf zur Moderne vertrat und sich dabei zu den antisemitischen und nationalistischen Strömungen der Zeit in einigen Fällen so äußerte, daß er von Wortführern des Nationalsozialismus vereinnahmt werden konnte.
Außerdem greifen iirc einige Schriften aus der jungen Sowjetunion auf damals dort bestehende antijüdische Ressentiments zurück.

Insofern, daß diese Schriften zum Anknüpfungspunkt oder zur Argumentationsgrundlage moderner Kapitalismuskritik geworden sind, mag man eine genetische Verbindung antisemitischer und antikapitalistischer Positionen erkennen, allerdings sind antisemitische Positionen in keiner Weise notwendig zur Begründung von Ansichten, die eine Kritik am Kapitalismus und die Suche nach alternativen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen zum Thema haben.
Gerne werden aus konservativer Sicht die Grünen als Sammelbecken gerade rechtsgerichteter Haltungen hingestellt, und wenn man sieht, daß die Grünen 1980 noch Personen wie Gruhl in ihren Reihen hatten, dann mag das für diese Zeit zutreffen. Gruhl trennte sich allerdings von den Grünen und gründete die ÖDP.
In meinen Augen ist der Versuch einer Verbindungsziehung von Antisemitismus und "Antikapitalismus" eher Ausdruck des Versuches, kapitalismuskritische Positionen generell als fragwürdig hinzustellen, ohne sich inhaltlich mit ihnen auseinander zu setzen.

Lykurg
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Fr 4. Jul 2008, 22:24 - Beitrag #2

Insofern, daß diese Schriften zum Anknüpfungspunkt oder zur Argumentationsgrundlage moderner Kapitalismuskritik geworden sind, mag man eine genetische Verbindung antisemitischer und antikapitalistischer Positionen erkennen, allerdings sind antisemitische Positionen in keiner Weise notwendig zur Begründung von Ansichten, die eine Kritik am Kapitalismus und die Suche nach alternativen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen zum Thema haben.
Darin stimme ich dir zu; daß es des öfteren so war, macht die Verbindung nicht zwingend. Ich stellte ja nur eine gewisse historische Folge fest, vielleicht eine Stellvertreterschaft, die nicht bedeutet, daß das eine argumentativ auf das andere zurückgreifen müsse. Das wäre auch erschreckend, die 'Argumentation' des Antisemitismus jedenfalls wäre ja wohl kaum geeignet, irgendetwas darauf aufzubauen.
In meinen Augen ist der Versuch einer Verbindungsziehung von Antisemitismus und "Antikapitalismus" eher Ausdruck des Versuches, kapitalismuskritische Positionen generell als fragwürdig hinzustellen, ohne sich inhaltlich mit ihnen auseinander zu setzen.
Sicher eine mögliche Sichtweise, allerdings würde das eine Gleichsetzung von Kapitalismuskritik und Antikapitalismus voraussetzen, die zumindest ich mir nicht zu eigen machen will: Selbstverständlich muß es möglich sein, negative Folgen des Wirtschaftens aufzuzeigen und sich dagegen zu solidarisieren. Verwerflich wird es für mich dann, wenn eine Ideologie darauf aufbaut, die versucht, eigene Denkprozesse auszuschalten und durch Feindbildpropaganda zu ersetzen.
Genau das tun aber die Texte durch die Schaffung einer Gemengelage aus Antisemitismus, Kritik angeblich vornehmlich jüdischer Verhaltens- und Wirtschaftsweise, und Kritik des Spekulantentums - sie bauen ein diffuses Feindschaftsgefühl auf, das auf bestimmten austauschbaren Formeln basiert, und die Grundlagen des Denkens unterminiert. Es geht mir darum, auf diese mögliche genetische Verbindung hinzuweisen, auch um damit abzusichern, daß diese Wirkungsmechanismen heutigen Positionen nicht zugrundeliegen.

janw
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Sa 5. Jul 2008, 01:57 - Beitrag #3

Zitat von Lykurg:Es geht mir darum, auf diese mögliche genetische Verbindung hinzuweisen, auch um damit abzusichern, daß diese Wirkungsmechanismen heutigen Positionen nicht zugrundeliegen.

Ich weiß schon, daß Du das so meinst, vielleicht ist das nicht hineichend deutlich geworden.
Das Problem hat IMHO zwei Seiten, die eine betrifft "cosi fan tutte", die andere die Frage, was mit "Antikapitalismus" gemeint ist und ob das Gemeinte überhaupt existiert:
Zum einen ist festzustellen, daß antisemitische Positionen Teil der geistigen Gemengelage am Ende des 19.JH waren, Teil des Diskurses über das Wesen der Nation und wer dazu gerechnet werden sollte und über die Stellung der Juden in der Gesellschaft - sollten sie Teil eines als einheitlich gedachten "Volkskörpers" werden, sich assimilieren, sollten sie als Gruppe sui generis wahrgenommen werden, sollten sie auswandern mit dem Ziel eines eigenen Staates?
Die entsprechenden Äußerungen Steiners stellen Positionierungen zu diesen Fragen dar und können zum guten Teil als zu der Zeit in diesem Zusammenhang akzeptabel angesehen werden, ebenso die verschiedener anderer Denker der Zeit. Freytag war vielleicht diesbezüglich "unappetitlicher". Die Bedenklichkeit dieser Äußerungen aus heutiger allgemeiner Sicht resultiert nicht unwesentlich aus dem, wozu sie dienten, nachdem ihre Urheber längst gestorben waren - was man hingegen bedenklich finden kann: muss nicht schon der antihumanitäre, segregierende, diskriminierende Charakter dieser Äußerungen Widerspruch hervorrufen, ihre Potenz, nicht erst die Folgen, die sie zeitigten?
Das Problem für die hiesige Frage ist, daß eben der gesamte Satz an Denkströmungen des ausgehenden 19.JH zum Anknüpfungspunkt der Haltungen des 20. JH wurde und damit die antisemitischen Anteile nicht nur zur Grundlage des Nationalsozialismus und kapitalismuskritischer Strömungen, sondern auf die eine oder andere Weise auch diverser anderer Strömungen wurden, die deshalb aber nicht alle unter den Generalverdacht antisemitischer Verwurzelung gestellt würden, so denke ich, daß z.B. der Gleichstellungsdiskurs über den Umgang mit Minderheiten hieraus nicht unwesentlich Impulse bezogen hat.
In gleicher Weise haben auch die anderen Strömungen der Zeit späteren Denkrichtungen als Impuls und Quelle gedient.

Die andere Frage ist, was dieser "Antikapitalismus" ist bzw. sein soll - gibt es ihn überhaupt?
Unter dem Begriff des Kapitalismus wird ein real praktiziertes sozioökonomisches Modell verstanden, das in verschiedene "Schulen" zerfällt, die mehr oder weniger prägend für die reale Umsetzung sind.
Der so verstandene Kapitalismus ist seit langer Zeit Gegenstand kritischer Betrachtungen und Gegenentwürfe, die allerdings IMHO zu divers sind, um unter einem gemeinsamen Rubrum "Antikapitalismus" versammelt zu werden, der gemeinsame Focus ist zu gering angesichts der großen konzeptuellen Unterschiede, die es IMHO nicht erlauben, von einem einheitlichen -ismus zu sprechen.
Nimmt man nur den Sozialismus als eine der wesentlichen antikapitalistisch orientierten Denkschulen, so zeigt sich schon die Ambivalenz bezüglich antisemitischer Positionen: Man mag in den Schriften Lenins, Trotzkis und anderer vielleicht die eine oder andere Berufung auf antijüdische Ressentiments oder schlimmeres finden, die zionistische Kibbuz-Bewegung setzte wesentliche Prinzipien der sozialistischen Denkungsart um. Gleichzeitig würde wohl kaum jemand Marx und Engels als geistige Väter des Zionismus, der Idee von Erez Israel oder gar des israelischen Staates bezeichnen.

Weiterführend ließe sich die Frage stellen, ob es überhaupt angebracht und zielführend ist, heute von einem eigenständigen Antisemitismus zu sprechen - ist er nicht eine der mannigfachen Formen sozialer Diskriminierung, in gleicher Weise zu verurteilen wie die Ausgrenzung behinderter Menschen, Sinti und Roma oder anderer Menschen aus welchen Ländern auch immer?
Die Nazis verfolgten auch Menschen, die sie "Asoziale und Arbeitsscheue" nannten, diese haben bisher weder Entschädigung noch ehrendes Gedenken erhalten.

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Sa 5. Jul 2008, 16:04 - Beitrag #4

Ich denke, dass Antisemitismus auf jeden Fall Teil des Antikapitalismus war. (Probelamtisch ist aber an der Stelle, dass der Nationalsozialismus an sich ja ebenfalls antikapitalistisch war.)
Verstehen kann mir die Verbindung aber nur, wenn man weiß, was ein Jude an sich eigentlich ist oder besser in den Jahren vor 1945 war. Zum einen ist da natürlich eine Religionsgemeinschaft. Dass das abendländische Judentum an sich aber mehr als nur eine Religion war, wird heute aber gerne im Rahmen der politischen Korrektheit übersehen. Die Juden bildeten auch eine Art Stand, indem wie in traditionellen Gesellschaften üblich quasi alles erblich, insbesondere der Beruf. So konnte der Begriff Jude im 19. Jahrhundert auch eine Berufsbezeichnung für den Bänker und Krämer. Vergleichbar natürlich mit dem Lombarden, ebenfalls eine quasi ethnische Bezeichnung für den Berufsstand. Ein schönes Beispiel ist da Georg Büchners Drama „Woyzeck“. Darin sagen die Charaktere einfach, man solle doch zum Juden und dort dies oder jenes erwerben oder verkaufen. Ähnlich ist ja heute mit dem zum Italiener, auch wenn der Pizza-Bäcker in Wahrheit gar kein Italiener ist.
Da ist es nur ein kleiner Schritt weiter und das Kapital ist nichts weiter als das „internationale Finanzjudentum“.
Zitat von janw:Weiterführend ließe sich die Frage stellen, ob es überhaupt angebracht und zielführend ist, heute von einem eigenständigen Antisemitismus zu sprechen - ist er nicht eine der mannigfachen Formen sozialer Diskriminierung, in gleicher Weise zu verurteilen wie die Ausgrenzung behinderter Menschen, Sinti und Roma oder anderer Menschen aus welchen Ländern auch immer?

Du hast es schon richtig erkannt: Der Antisemitismus-Vorwurf ist nicht zielführend. Stalins Politik gegenüber den sowjetischen Juden unterscheidet sich kaum von der gegenüber anderen religiösen und ethnischen Gruppierungen der Sowjet-Union. Und die Kritik am Judentum an sich ist häufig nur ein Beispiel für die grundlegende Ablehnung von Nation und Religion.
Die größten Kritiker der Elche, sind nämlich selber welche. ;) Ein schönes Beispiel sind da Freuds Äußerungen über das Judentum. Ähnlich ist es ja auch mit Marx oder Trotzki.

Ich möchte aber gern zwischen den Anti-ismen unterscheiden. Ist Antisemitismus Kern oder nur ein Symptom des -ismus?
In Hitlers merkwürdiger Gedankenwelt, ist ja der Kommunismus wie der Kapitalismus oder auch das Christentum, selbst der Parlamentarismus allein schon „böse“, weil es für ihn jüdisch zu sein scheint und eben nicht „arteigen“.
Wenn aber Joschka F. und Daniel C.-B. mit ihren Sponti-Freunde Häuser jüdischer Mitbürger besetzt hielten, so begründeten sie dies mit ihrer Ablehnung des Spekulantentum und nicht mit den eher zufällig jüdischen Eigentümern.
MfG Maglor :rolleyes:

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So 6. Jul 2008, 01:20 - Beitrag #5

Zitat von Lykurg:Sicher eine mögliche Sichtweise, allerdings würde das eine Gleichsetzung von Kapitalismuskritik und Antikapitalismus voraussetzen, die zumindest ich mir nicht zu eigen machen will: Selbstverständlich muß es möglich sein, negative Folgen des Wirtschaftens aufzuzeigen und sich dagegen zu solidarisieren. Verwerflich wird es für mich dann, wenn eine Ideologie darauf aufbaut, die versucht, eigene Denkprozesse auszuschalten und durch Feindbildpropaganda zu ersetzen.

Ich hätte das schon näher ausführen sollen zu der Zeit...ich sehe anstelle eines eigenen "Antikapitalismus" eher einen großen Schwarm kapitalismuskritischer Gedanken, Konzepte und Systementwürfe, die in jeweils unterschiedlicher Tiefe auf der Kritik an Gedanken, Implikationen, Systemkonflikten und Folgen beruhen, darauf jedoch zu teils sehr gegensätzlichen Antworten kommen - darunter auch -ismen bzw. Ideologien im von Dir beschriebenen negativen Sinne.
Mag manche Kritiker des Kapitalismus auch eine Art pseudoreligiöser Eifer reiten, so doch etliche Jünger des Kapitalismus nicht weniger, die von den "heilsamen Kräften des Marktes" sprechen und dabei über die Folgen von Kapitalkonzentrationen hinweg sehen, auch übersehen, daß in Freiheitsrichtung nicht viel gewonnen wird, wenn die alten gesellschaftlichen Diskriminanten elterliche Berufe, soziale Herkunft usw. durch die neue des Besitzes an Produktionsmitteln und Kapital ersetzt werden, der im Falle einer Vererbung noch nicht einmal im Sinne eines Leistungsideals "verdient" ist.
Die immer wieder noch zu hörende Gleichsetzung von Kritik am Kapitalismus mit "Kommunismus" schaltet in gleicher Weise Denkprozesse aus und ersetzt sie durch Feindbildpropaganda, wie eine Gleichsetzung von Kapitalismus mit einigen seiner Exponenten.

Genau das tun aber die Texte durch die Schaffung einer Gemengelage aus Antisemitismus, Kritik angeblich vornehmlich jüdischer Verhaltens- und Wirtschaftsweise, und Kritik des Spekulantentums - sie bauen ein diffuses Feindschaftsgefühl auf, das auf bestimmten austauschbaren Formeln basiert, und die Grundlagen des Denkens unterminiert. Es geht mir darum, auf diese mögliche genetische Verbindung hinzuweisen, auch um damit abzusichern, daß diese Wirkungsmechanismen heutigen Positionen nicht zugrundeliegen.

Wie Maglor schon anführte, gab es im 19. JH eine starke steuernde Wirkung sozialer Herkunft, elterlicher Berufe u.a., und in diesem Zusammenhang hatten die Juden recht fest umrissene Berufsfelder, die ihnen offen standen und die teils von ihnen dominiert wurden, vergleichbar der heutigen Dominanz von Indern in den Handelsbetrieben in Teilen Afrikas.
Das Problem liegt bei Freytag und anderen darin, daß sie ihre teils wohl berechtigte Kritik an bestimmten Bankern und Spekulanten nicht auf das Banker-sein oder Spekulant-sein und die angewandten Methoden richteten, sondern auf ihr Jude-sein. Interessant wäre, ob sie auch nichtjüdische Banker und Spekulanten bzw. auch Methoden und Implikationen der zugrundeliegenden Systeme kritisierten - oder waren eben die Mißstände nur der Aufhänger?
Interessant ist in dem Zusammenhang, daß unter den westeuropäischen Juden die sozial deutlich schlechter gestellten Juden Osteuropas ähnlich negativ gesehen wurden und mit denselben Klischees, wie im Rest der Bevölkerung.
Eine Tatsache, die brisant ist, weil iirc einige Rechtsgesinnte selbstapologetisch daraus abgeleitet haben, der Antisemitismus sei teils unter den Juden selbst entstanden bzw. diese auch nicht frei davon gewesen...ein Minenfeld.

Zitat von Maglor:Ich möchte aber gern zwischen den Anti-ismen unterscheiden. Ist Antisemitismus Kern oder nur ein Symptom des -ismus?

Vorläufig sehe ich den Antisemitismus des 19.JH als ein Symptom des Nationalismus an, er erwuchs nach meinem Eindruck aus der Frage, was die (deutsche) Nation sei, wer dazu gehöre und wie sich zu verhalten habe, wer dazu gehören wolle. Der Wandel von einer Gesellschaft der Verschiedenheiten zu einer durch den Rahmen der Nation umgrenzten, also die "Hermetisierung" der Gesellschaft, und die damit verbundene Idee des einheitlich gedachten "Volkes" (s. "Volkskörper")war in meinen Augen der Auslöser für das Denken der Ausgrenzung.

Maglor
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So 6. Jul 2008, 15:01 - Beitrag #6

Zitat von janw:Das Problem liegt bei Freytag und anderen darin, daß sie ihre teils wohl berechtigte Kritik an bestimmten Bankern und Spekulanten nicht auf das Banker-sein oder Spekulant-sein und die angewandten Methoden richteten, sondern auf ihr Jude-sein. Interessant wäre, ob sie auch nichtjüdische Banker und Spekulanten bzw. auch Methoden und Implikationen der zugrundeliegenden Systeme kritisierten - oder waren eben die Mißstände nur der Aufhänger?

Die Sache ist schwierig. So konnte durchaus auch ein Nichtjude, der besonders reich oder eben als "Wucherer" galt, einfach als Jude bezeichnet werden. Jude wird quasi synonym benutzt. (Einen ählich Fall bildeten übrigens auch die Schweizer. So wurde etwa um die Jahrhundertewende der Melkknecht in Deutschen Reich einfach "Schweizer" genannt, auch wenn er gar keiner war. Das sorgt dann in zeitgenössischen Meldebüchern für Verwirrung: Waren das jetzt Schweizer Staatsbürger oder Melkknechte? Häufig beides, aber eben nicht immer!)
Bedenken muss man an der Stelle, dass der jüdische Anteil an der Bevölkerung tatsächlich weit höher war als heute, aus bekannten traurigen Gründen. In einigen Kleinstädten Hessen war fast die Hälfte der Geschäfte in jüdischer Hand und jüdische Viehhändler bildeten die andere Kontaktzone zwischen bäuerlicher Bevölkerung und der Geldwirtschaft. Der antikapitalistische Antisemitismus war vor allem ein ländliches Phänomen.
Als quasi Gegenbewegung begründete Friedrich Wilhelm Raiffeisen ein Genossenschaftswesen. Landhandel und Banken sollten so in die Hände des Volkes (Volksbank) gelegt werden und so den Wucherern entzogen werden. Als Zeichen wählten die Genossenschaften die gekreuzten Pferdeköpfe, als altgermanisches, quasi arteigenes Symbol:
Bild

Interessant ist in dem Zusammenhang, daß unter den westeuropäischen Juden die sozial deutlich schlechter gestellten Juden Osteuropas ähnlich negativ gesehen wurden und mit denselben Klischees, wie im Rest der Bevölkerung.

Die Sache mit der schlechteren Stellung der Juden in Osteuropa ist allerdings erst eine Entwicklung der Neuzeit. Vorher hatten die Ostjuden im Königreich Polen-Litauen eine privilegierte Stellung als Steuerpächter und Verwalter, was sicher die Juden-Progrome der Kosaken erklärt. Erst im Zarenreich kam es zu folgenschweren Diskriminierung und zur Verarmung der Schtetl. Die Folge war die Abwanderung nach Westeuropa, insbesondere nach Deutschland und in die Niederlande.
Ihre jiddische Sprache und auch ihre eigenwillige Tracht, die aber weitgehend der damaligen ukrainischen Volkstracht gleicht, ergänzten die schon bestehenden Juden-Klischees in Deutschland. Insbesondere ermöglichte die jiddisch-osteuropäische Kultur eine nationalistische Anreicherung des Antisemitismus.
MfG Maglor :rolleyes:

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So 6. Jul 2008, 22:33 - Beitrag #7

Ich hab heute nochmal über die Frage der Berufsdominanz nachgedacht und denke, daß sie etwas differenzierter zu betrachten ist, als es in meinem Beitrag gestern sich andeutet...die deutlich unterschiedliche Behandlung der Juden in den deutschen Ländern und darüber hinaus hat sicher zu unterschiedlichen Berufsfeldern in den Regionen geführt, die unterschiedlich stark unter den verschiedenen Bevölkerungsschichten aufgeteilt waren. Im ländlichen Raum spielten die Juden sicher im Viehhandel eine Rolle, aber regional sicher unterschiedlich stark.
Andererseits gab es auch Regionen, in denen Juden auch studieren durften und z.B. häufiger Ärzte wurden, z.B. in Österreich.
Insofern werden die Dominanzvorwürfe und die Vorwürfe der Ausnutzung marktbeherrschender Positionen sicher zum guten Teil gezielt überzeichnet sein - eben um Stimmung zu machen. Gleichzeitig wurden ja von Freytags Gesinnungsgenossen auch immer wieder die religiösen Vorbehalte ausgebreitet, so unhaltbar diese auch waren und sind.

Nach einer Untersuchung vor einigen Jahren scheint übrigens in der Lüneburger Heide die NS-Propaganda unter den Bauern teils nur wenig verfangen zu haben, die Bauern kauften weiter ihr Vieh bei den Händlern, die sie kannten - egal, welcher Religion diese anhingen.

Mir scheint, die Wirkungsgeschichte der Propaganda seit etwa 1800 könnte noch interessante Erkenntnisse erbringen, die auch für die Frage der heutigen Gefährdung durch entsprechende Gruppen bedeutsam sein könnten.

Lykurg
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Mo 7. Jul 2008, 00:06 - Beitrag #8

Die "typisch jüdischen" Berufsfelder hängen stark mit mittelalterlichen Zunftordnungen zusammen. Juden durften kein Land besitzen, konnten also keine Landwirtschaft oder Viehzucht betreiben. Da nur Christen Zunftmitglieder werden konnten, waren den Juden auch handwerkliche Berufe grundsätzlich verwehrt, zudem (regional unterschiedlich) sogar das Recht, mit unter Zunftrecht hergestellten Gütern zu handeln. Da blieben nur freie Gütersparten übrig (bestimmte Luxusgüter, Tuch und Wolle, Gewürze, Pelze, Wein; zeitweise und regional Vieh und Getreide).
Der Arztberuf war lange Zeit so ziemlich der einzige Bildungsberuf (neben dem Rabbinat): Die Aufnahme in den Staatsdienst (ob Schreiber oder Jurist) war unmöglich, akademische Lehrtätigkeit (etwa in Philosophie) nur als damals meist unbezahlter Privatdozent zulässig. Das Studium war meines Wissens zwar möglich, allerdings vielerorts zu einem Mehrfachen der Studiengebühren, die Nichtjuden zu entrichten hatten.

Da ergaben sich Geldgeschäfte fast zwangsläufig als ein Weg, den Lebensunterhalt zu sichern; noch verschärft wurde diese Folgerichtigkeit durch die Sonderabgaben, die Juden zu entrichten hatten (weswegen auch manche häufiger in Geldschwierigkeit steckenden Fürsten das Zustandekommen (nur-)jüdischer Ansiedlungen in ihrem Land förderten, um sie bei Bedarf auspressen zu können. Manch ein Landesherr hielt sich seinen "Hofjuden", der ihm aus den Finanznöten heraushelfen mußte. Was für Folgen das haben konnte, zeigt eindrucksvoll der Wiki-Artikel über Joseph Süß Oppenheimer, das Vorbild für den NS-Propagandafilm "Jud Süß"...

- Davon, daß die Propagandamechanismen einst und heute vergleichbar und ihre Untersuchung fruchtbar sein kann, bin ich überzeugt. -

Maglor
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Mo 7. Jul 2008, 14:00 - Beitrag #9

Das Problem ist die mittelalterliche Moral der Zünfte und Stände. Geld stinkt, dachte man damals. Den Zünften an sich waren Gewinnstreben und Konkurrenz fremd; sie taten alles dafür sie im Keim zu ersticken. Auch für den Adel galt es als nicht standesgemäß Geldgeschäfte zu betreiben. Hinzu kam das kirchliche Verbot für den Geldverleih Zinsen zu nehmen.
Die Juden von den christlichen Zünften und Ständen ausgeschlossen; sie mussten sich daher eben auf die unanständigen Berufe beschränken. (Bis weit ins 19. Jarhundert durüften Juden in Deutschland auch keine Beamten werden; es sie konvertierten zum Christentum.) Nichts desto trotz erkannten die anständigen Leute bald, dass sie eben doch Leute brauchten, die die unanständigen Sachen erledigen. So füllten schließlich die Juden jede Lücke im Wirtschaftsleben, welches der strenge Moral- und Ehrenkodex des Mittelalters riss.
Effekt des ganzen war natürlich, dass jener schlechter Leumund auf die Juden an sich übertragen wurden.

Zum ländlichen Antisemitismus:
Sicher ist der regional recht unterschiedlich, so wie auch die Verteilung der Juden auf einzelne Fürstentümer vom Gutdünken des Fürsten abhängig war.
Interessant ist die "Antisemitische Volkspartei" die in Hessen Ende des 19. Jahrhunderts Bedeutung erlangte. Mit der Parole "Gegen Junker und Juden" verband diese Partei Kritik an Kapitalismus und Feudalismus, ähnlich wie der Begriff Zinsknechtschaft. Ziel war es der Bevormundung der Landwirte durch eben jüdische Viehhändler wie eben die Junker zu unterbinden, Antisemitismus quasi Klassenkampf.

Maglor
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Di 28. Okt 2008, 14:16 - Beitrag #10

In jeder Krise wird nach Schuldigen gesucht, nach Sündenböcken. Auch in der Weltwirtschaftskrise von 1929 wollte niemand an einen anonymen Systemfehler glauben. Damals hat es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager.

Lykurg
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So 16. Nov 2008, 01:41 - Beitrag #11

Keine zwei Wochen nach Sinns von Maglor zitierter Äußerung fiel dann auch noch Wulffs Satz "Ich finde, wenn jemand zehntausend Jobs sichert und Millionen an Steuern zahlt, gegen den darf man keine Pogromstimmung verbreiten." Letzteres finde ich ziemlich ärgerlich und unpassend; denn so weit sind wir nicht, und so zweifelsfrei positiv ist die Tätigkeit so manch eines Managers nicht. Natürlich gehört es auch zu den Aufgaben eines Vorstands, dafür zu sorgen, daß sein Unternehmen möglichst effizient ist, und das bedeutet eben nicht nur das Sichern von Jobs (bzw. teilweise das Sichern von Jobs durch Streichung anderer).

Sinns Vergleich mit der Situation 1929 fand ich dagegen diskutabel, und die Aufregung darüber so vorhersehbar wie überzogen. Die Empörung beruhte zumindest teilweise auf der verbreiteten Meinung, "die Manager" seien schuld an der Krise, und sein Vergleich der einer Reinwaschung, während er tatsächlich eher Symptome aufzeigte. Es ist immer so viel einfacher, Personen zu beschuldigen als Sachverhalte...


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