Vorläufig verfasst

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
janw
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So 17. Mai 2009, 02:04 - Beitrag #1

Vorläufig verfasst

Das Grundgesetz der BRD wurde 1949 als vorläufige Verfassung verabschiedet, welche nach der Wiedervereinigung durch eine endgültige Verfassung ersetzt werden sollte.
Nach der Wiedervereinigung wurde jedoch das alte GG auf die nunmehr vergrößerte BRD übertragen und nur die entsprechenden Punkte über die Vorläufigkeit und die Bundesländer aktualisiert.
Nunmehr gibt es eine Meinungsströmung, die sich für eine Neufassung des GG als eigenständiger Verfassung des wiedervereinigten Deutschlands ausspricht.
Als Argumente hierfür werden genannt, daß das jetzige GG den neuen Ländern quasi "übergestülpt" worden sei, ohne ihre spezifischen eigenständigen Gegebenheiten zu würdigen, daß das GG selbst nicht hinreichend demokratisch legitimiert sei und spezifische Detailvorstellungen über ins GG aufzunehmende Inhalte (z.B. Staatsziele Tierschutz u.a.).

Mir sind diese Überlegungen nicht unsympathisch, da ich 1990 ff immer wieder den Eindruck hatte, daß die DDR und die Lebenserfahrungen ihrer Menschen sehr zielgerichtet unter eine westliche Deutungshoheit genommen wurden, die kategorisch alles in der DDR Erreichte, Erfahrene und Erlebte mit dem Unrechtsstaat DDR identifizierte und damit entwertete, die BRD wurde quasi a priori als der einzig maßgeblich zu betrachtende Staat und Erlebnisraum hingestellt.
Daß ich den Unrechtscharakter der DDR damit nicht schmälern möchte, dürfte klar sein.
Auch würde ich mir insgesamt mehr direkte Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger wünschen, da ist das GG für mich zu sehr vom - damals verständlichen - Mißtrauen der Siegermächte gegenüber dem Volk gekennzeichnet.
Allerdings sehe ich auch die Gefahr, daß ein Teil des Grundrechtsbestandes bei einer Neufassung unter die Räder kommen könnte, es finden ja durch Schäuble und andere ohnedies immer schon Aufweichversuche statt.
Auch bin ich etwas unsicher, was die angestrebten Staatsziele für die betreffenden Bereiche wirklich bringen würden - unser Tierschutzrecht ist eines der strengsten weltweit, Kultur steht zwangsläufig in Konkurrenz zu anden staatlichen Ausgabeposten. Im Bereich Bildung könnte ich mir eine Verbesserung vorstellen, wenn das Recht auf einen Schulabschluss bis zum jeweils erreichbaren Level verbindlich festgeschrieben würde.

Aber...wie seht Ihr das?

Lykurg
[ohne Titel]
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So 17. Mai 2009, 12:22 - Beitrag #2

Es ist eine kleine Ironie der Geschichte, daß das Provisorium Grundgesetz, das in § 146 seine Vorläufigkeit klarstellt, sich als einer der stabilsten, ausgewogensten und international anerkanntesten Verfassungstexte der jüngeren Geschichte erweisen sollte. Jede grundlegende Veränderung daran sollte sich dessen bewußt sein und mit der entsprechenden Vorsicht verfahren. Verschlechterungen können mit Leichtigkeit erreicht werden, und viele politische Entscheidungen der letzten Jahrzehnte haben sich als zu kurzfristig gedacht herausgestellt, es wäre also nicht zu erwarten, daß eine von den gegenwärtigen Strömungen bestimmte Neufassung irgendeine Art von Zeitlosigkeit haben könnte.

Die Einbringung der besonderen Erfahrungen der DDR-Bürger sehe ich nicht als besonders wesentlich. Die Väter des Grundgesetzes hatten ebenfalls eine totalitäre Vergangenheit zu verarbeiten (oder zu verbergen); erhebliche Teile der DDR-Verfassung haben sich nicht nur im Nachhinein als schiere Propaganda erwiesen oder hatten für den Alltag keine Konsequenz, etwa §23.3, der den kriegerischen Einsatz von DDR-Bürgern zur Unterdrückung eines Volkes verbietet... Der Bildungsparagraph 25 dürfte dir gefallen, die Ziele allerdings sind... nun ja. - Ich sehe keine Notwendigkeit, etwa aus diesem Machwerk etwas zu übernehmen und sich somit in die Tradition dieses Unrechtsstaats zu stellen. Dazu kommt noch, daß, wie ich gestern las, laut einer Umfrage nur noch die Hälfte aller Ostdeutschen es wichtig findet, zwischen mehreren Parteien wählen zu können. Hervorragend. Genau das, was ich mir für eine Verfassung an einzubringenden Wünschen und Vorstellungen schon lange ersehnt habe. Bild

Daß dies sich aus dem entsprechenden Blickwinkel wie eine Illustration deiner Feststellung westlicher entwertender Deutung östlichen Wirkens und Erlebens lesen mag, ist mir bewußt. Auch mir ist klar, daß im Osten nicht alles schlecht war, wie auch unter Pinochet und Mao nicht. Ich sehe aber auch nicht, warum sich die Bedürfnisse der Ostbürger so wesentlich von denen der Westbürger unterscheiden sollten, daß eine andere Verfassung vonnöten sei. Sind sie denn wirklich so andere Menschen? Bild

Die Gefahr einer Nutzbarmachung durch Schäuble & Co. sehe ich ebenso wie die durch Lafontaine und andere Rattenfänger. Über den Verfassungsrang von Tierschutzrechten kann man sich trefflich streiten, auch ohne das Ding neu zu schreiben, das "Staatsziel Tierschutz" läßt fast schon anklingen, daß die BRD es sich zur Aufgabe machen sollte, Tierschutz auch im Ausland durchzusetzen - zur Not auch mit Wirtschaftssanktionen und militärischen Mitteln? Ich weiß nicht so recht...

Ipsissimus
Dämmerung
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So 17. Mai 2009, 12:40 - Beitrag #3

na ja, ich glaube eher nicht daran, dass janw überlegt, die Verfassung der Bundesrepublik mit Artikeln der Verfassung der DDR zu ergänzen^^

"überdenken" ist das Stichwort. Deine Bedenken, Lykurg hinsichtlich der schnellen Herbeiführbarkeit von bösen Fehlern teile ich durchaus; andererseits ist trotz der von dir korrekt festgestellten internationalen Anerkennung der deutschen Verfassung selbige ein Machwerk, das in relativ kurzer Zeit dahingeklatscht wurde, mithin optimierbar ist. Wie heißt es so schön in allen Qualitätssicherungsmanualen? "Es ist nicht garantiert, dass es besser wird, wenn es anders wird. Aber damit es besser werden kann, muss es anders werden."

So halte ich es zum Beispiel dringend für geboten, eine Regelung zu finden, was mit Nichtwählerstimmen passieren soll. Ich erachte es als Skandal erster Güte, dass diese einfach unter den Tisch fallen gelassen werden. Mit schwebt dabei nach wie vor vor, die Wahlbeteiligung als Treshold zu verwenden - sinkt diese unter eine bestimmte Schwelle, gilt das nicht nur als positives Misstrauensvotum des Souverains gegen ALLE zur Wahl antretenden Parteien, sondern auch als positives Votum für eine gesellschaftsweite Diskussion über angemessene Änderungen der Gesellschaftsform. Unter dieser Maxime würde die Politik eventuell sogar wieder Phantasie entwickeln müssen und sich von der Diktatur der Sachzwänge emanzipieren müssen.

Tierschutz als Staatsziel heißt nicht Einmarsch der Bundeswehr in Japan. Das weißt du auch alleine, Lykurg^^ es würde aber im Inneren eine Handhabe bieten, Auswüchsen wie Massentier-Käfighaltung und Tierversuchen die Aufgabe zur ernsthaften Suche und Entwicklung von Alternativen entgegenzusetzen.

Integration von Religionsfreiheit in Weltanschauungsfreiheit, Durchsetzung der Menschenrechte als Metawerte auch in Strukturen, in denen diese durch Tradition außer Kraft gesetzt bleiben - wenn ich ernsthaft anfange, darüber nachzudenken, fallen mir jede Menge nötige Korrekturen ein. Die Bremsung übereifriger Innenminister käme da sicher nicht zuletzt.

blobbfish
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Mo 18. Mai 2009, 11:57 - Beitrag #4

Mit schwebt dabei nach wie vor vor, die Wahlbeteiligung als Treshold zu verwenden - sinkt diese unter eine bestimmte Schwelle, gilt das nicht nur als positives Misstrauensvotum des Souverains gegen ALLE zur Wahl antretenden Parteien, sondern auch als positives Votum für eine gesellschaftsweite Diskussion über angemessene Änderungen der Gesellschaftsform.


Ist keine schlechte Idee. Andere Institutionen müssen ja auch Wahlquoten erfüllen, an meiner Uni z.B. braucht's 25% Wahlbeteiligung für Asta etc., sonst werden denen vom Land massiv Gelder gestrichen (was irgendwie nicht so sinnvoll ist, fast mein kompletter FB gibt für die Nicht-FB-Wahlen ungültige Stimmzettel ab).

Ipsissimus
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Di 19. Mai 2009, 11:53 - Beitrag #5

apart fände ich auch die Alternativmöglichkeit, aktiv gegen Parteien wählen zu können; das würde die Wahlbeteiligung sicher wieder hochtreiben und vermeiden, dass Nichtwählerstimmen in einem Pool subsumiert werden - und den Parteien ziemlich deutlich machen, wie sehr sie eigentlich jeden Kredit verspielt haben. Und ein Verbot von Koalitionen würde ich auch begrüßen. Mit Koalitionen kann man den Wählerwillen bis zur Bedeutungslosigkeit biegen - und ich glaube noch nicht mal, dass im Grundgesetz ein Mandat zur Koalitionsbildung überhaupt enthalten ist.


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