Lissabon-Urteil

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Ipsissimus
Dämmerung
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Di 30. Jun 2009, 15:25 - Beitrag #1

Lissabon-Urteil

ich zitiere mal aus der Süddeutschen (http://www.sueddeutsche.de/politik/332/476840/text/)

Das Bundesverfassungsgericht hat den Lissabon-Vertrag gebilligt, aber zugleich den Ratifikationsprozess gestoppt. Der Vertrag kann vorläufig nicht in Kraft treten.

Vor dem Hinterlegen der Ratifikationsurkunde muss der Bundestag das bisherige Begleitgesetz über die Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat völlig neu schreiben - dafür macht das Gericht sehr genaue, diffizile und umfangreiche Vorgaben: Das Verfassungsgericht zwingt das deutsche Parlament in den europäischen Angelegenheiten also zu mehr Demokratie.

In allen Fragen, in denen Brüssel in die nationale Souveränität eingreift, neue Kompetenzen beansprucht oder Abstimmungsmodalitäten verändert, muss vorher konkret der Bundestag zustimmen. Die pauschale Zustimmung, die Bundestag und Bundesrat zum Lissabon-Vertrag gegeben haben, genügt nicht.

Erst dann darf der deutsche Regierungsvertreter im Europäischen Rat seine Jastimme geben. Auf diese Weise soll die schleichende Kompetenzerweiterung der EU vom nationalen Parlament begleitet werden - er soll jedem Kompetenzzuwachs der EU im Einzelfall zustimmen müssen. Ohne ein Gesetz, das dies festlegt, darf Deutschland dem Lissabon-Vertrag nicht zustimmen.


ich sehe das mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Vertan die Chance, den Zugriff Europas auf nationale Gesetzgebung zu stoppen. Gestoppt wurde allerdings die Selbstläufermanier, in der das praktiziert werden sollte

wie seht ihr das?

Traitor
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Di 30. Jun 2009, 20:34 - Beitrag #2

Meine Augen lachen beide. Eines, da der schlimmstdenkbare Fall, dass ausgerechnet Deutschland den absolut notwendigen Fortschritt endgültig verhindert, vermieden wurde. Das wäre ein schlimmer Rückschlag für die europäische Einigung, damit die Sanierung unseres politischen Systems und letztlich den Fortschritt der gesamten Welt gewesen. Das andere freut sich allerdings genauso wie du darüber, dass das Verfassungsgericht tatsächlich mal etwas Gutes tut, denn dass die Parlamente mehr Einfluss auf derartige Entscheidungen haben müssen, sollte eigentlich selbstverständlich sein.
Ein bisschen Weinen mischt sich aber doch ein, nämlich über folgendes Zitat von Spiegel online:
Das Verfassungsgericht wies sich zudem selbst eine stärkere Kontrollfunktion zu. Es sei notwendig, dass das Bundesverfassungsgericht darüber wache, dass Brüssel nicht die Verfassungsidentität verletze und "nicht ersichtlich seine eingeräumten Kompetenzen überschreite", erklärte das Gericht.
Das Gericht weist sich selbst Befugnisse zu. Grandios. Wann erklärt den Karlsruhern endlich mal jemand das Prinzip der Gewaltentrennung, und wann regen sich Medien und Öffentlichkeit endlich über unsere beinahe-Justizdiktatur auf?
(Aber dieses einsame Gemeckere von mir kennt ihr ja. ;))

Noriko
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Di 30. Jun 2009, 21:13 - Beitrag #3

passt doch in eine zeit wo eine Polizeibehörde Gerichtsarbeit amchen soll und darf

Ipsissimus
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Mi 1. Jul 2009, 09:36 - Beitrag #4

na ja, dass ich ein dezidierter Gegner der Globalisierung und damit auch eines im Sinne eines Nationalstaates Vereinigten Europas bin, dürfte ebenso bekannt sein. Jedenfalls gilt das solange, wie in die Konstruktion des vereinigten Europas mehr Bürokraten- als Bürgernotwendigkeiten einfließen.

In der Tat sehe ich die Freiheitlichkeit des vereinigten Europas derzeit stärker durch die Brüsseler Anmaßungen gefährdet als durch eine höhere Kontrollfunktion des BVG. Diese ganze Geschichte hätte niemals ohne Bürgerentscheide durchgeführt werden dürfen.

Lykurg
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Mi 1. Jul 2009, 11:57 - Beitrag #5

Ähnlich Traitor freue ich mich über die grundsätzliche Billigung, wobei das Prüfen durch den Bundestag natürlich dazu führt, daß auch andere EU-Staaten diese Überprüfung nötig finden werden und dementsprechend einheitlicher, schneller EU-Gesetzgebung massive Hindernisse in den Weg gestellt sind. Daß das Verfassungsgericht seine eigene Kompetenz definiert, ist zweifellos - ähm - bedingt großartig, mit seiner skeptischen Prüfung von Regierungsprojekten war ich aber von Zeit zu Zeit gar nicht so unzufrieden - dafür ist es da, für EU-Fragen jedenfalls als ständige Institution eigentlich nicht.

Traitor
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Mi 1. Jul 2009, 21:38 - Beitrag #6

Ja, die Gefahr der Verzögerung durch andere Staaten könnte bestehen. Wenn ich es richtig verfolgt habe, haben doch aber außer den bekannten Problemfällen Irland, England, Tschechien alle Länder das Abkommen bereits ratifiziert, und da habe ich eine gewisse Hoffnung, dass das Zurückziehen deutlich schwerer sein könnte als das Aufhalten vorher.
Prinzipiell ist die Institution des BVG natürlich löblich und notwendig. Manche Entscheidungen sind auch völlig unbezweifelbar. Zu oft aber stellen die Richter in meinen Augen ihre persönliche Interpretation uneindeutiger Grundgesetzstellen in den Rang von etwas, das direkt drin stünde. Wenn das Grundgesetz etwas nicht explizit regelt, dann sollte das vom Volk direkt gewählte Parlament im Zweifel Deutungsvorrang vor im Hinterzimmer ausgekungelten Richtern haben.
Konkret haben sie in diesem Fall wiederum eigentlich nichts schlimmes getan; der Hinweis, weitere Entwicklungen kritisch zu überprüfen, ist an sich keine Kompetenzüberschreitung. Nur der Anspruch, sich als höchste Instanz zu sehen, wird damit überdeutlich klar.

Ipsissimus
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Mi 1. Jul 2009, 21:58 - Beitrag #7

sie sind in Deutschland faktisch die höchste Instanz. Wenn sie aufgrund eines Antrags ihr Imprimatur verweigern, kommt die Politik nicht daran vorbei. Und diese Rolle ist im Grundgesetz festgelegt. Der Vertrag von Lissabon drohte das auszuhebeln, und zwar en passant, auf bürokratischem Weg. Dem hat das BVG einen Riegel vorgeschoben, gerade noch rechtzeitig, wie ich finde.

janw
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Fr 3. Jul 2009, 03:18 - Beitrag #8

Tja, ich bin auch froh, und doch auch wieder nicht so ganz.
Ich sehe seit Jahren das Problem, daß in Deutschland von jeweils interessierter Seite alles und jedes mit dem Rest der westlichen Welt verglichen und diesbezüglich Anpassung an den jeweils externen Zustand zumindest als unausweichlich erklärt wird. Flächen- und Betriebsgrößen in der Landwirtschaft - "wir kommen an den Amerikanern nicht vorbei", wahlweise auch an den Niederländern, vergleichbares in allen Bereichen von Bildung bis wirtschaftlicher Freiheit; insofern erschien es mir wünschenswert, ein europäisches Bündnis dagegen zu setzen, das gemeinsam eigene Standards vertritt und verteidigt.
Das Debakel im Irak-Krieg, mit der "Koalition der Willigen", hat für mich bedeutet, daß hier tatsächlich mehr Besinnung auf eigene Standards und deren gemeinschaftliche Vertretung, unbelastet von nationalen Egoismen, nötig wäre. (Wobei die militärische Zurückhaltung in Deutschland für mich nicht unter "nationalem Egoismus" zu subsummieren ist)
Auch in steuerlicher Hinsicht finde ich den bisherigen Zustand unbefriedigend, wo ein Land dem anderen das Wasser abgräbt, gerade Frankreich wieder mit der Mehrwertsteuer, und einzelne Länder als Steuerschlupflöcher dienen.
Andererseits sehe ich auch, daß die gemeinschaftliche Lösung immer auf den kleinsten gemeinsamen Nenner hinaus laufen und damit z.B. bisher höhere Standards bei uns unterlaufen wird.

Insbesondere war die Organisationsform der EU bisher alles andere als demokratisch, ein Punkt, der mit dem Vertrag von Lissabon verbessert werden sollte - sicher nicht zum Optimum, aber dennoch substantiell.
So wichtig der Vertrag in vielerlei Hinsischt ist - auch wenn ich einige Regeln gravierend daneben finde, zu viel Lobby-Einfluss, seine Umsetzung ist miserabel durchgeführt worden. IMHO hätte die EU, deren "Verfassung" dieser Vertrag nun sein soll, diesen selbst in einem Referendum den Bürgern vorlegen sollen, anstatt es den Ländern zu überlassen, die Bürger mehr oder weniger nicht zu befragen.

Der Eu-GH hat sich in zahlreichen Urteilen gegen die schleppende Umsetzung von EU-Recht in Deutschland gewandt, nach meiner Wahrnehmung fast immer in Bereichen, wo dies der Umwelt, gesellschaftlichen Randgruppen oder vergleichbaren Rechtsgütern zu Gute kam. Gut, das Urteil zum Verbot befristeter Arbeitsverträge nach 52 war eigenartig, einige andere gefallen mir auch nicht so, aber insgesamt hege ich gegenüber dem Eu-GH keinen Groll, habe auch insgesamt nicht den Eindruck, daß er besonders lobbygesteuert wäre.
Ich denke also, daß es darum gehen müsste, in den sensiblen Bereichen - Verwaltungstransparenz, Datenschutz, Diskriminierung/gleichrangige Teilhabe, Soziale Absicherung, Verbraucherschutz, Umwelt- und Naturschutz, Menschenrechte,... eu-weit anspruchsvolle Mindeststandards enzuführen, die von einzelnen Ländern zum Besseren übertroffen werden dürfen.
In einer solchen Konstellation käme dem Eu-GH die Rolle zu, die Umsetzung der Standards nach unten hin abzusichern und in Bereichen zu überwachen, die genuin auf EU-Ebene geregelt werden - das wäre IMHO für einige Steuerarten wie die Mehrwertsteuer zu erwägen, die Förderung periphärer Regionen, Subventionen, Förderung von Wirtschaftsstandorten, usw.
Das BVG würde dann die Einhaltung der eigenen Standards der BRD überwachen, so diese strenger sind als seitens der EU geregelt.

Was nun das Urteil betrifft, finde ich es sehr erfreulich, daß das BVG auf das erhebliche Demokratiedefizit auf der EU-Ebene hinweist, das auch mit dem Vertrag nur abgeschwächt wird.
Ich finde es jedoch sehr schade, daß keiner der Klageführer und wohl auch sonst keiner z.B. vor dem Eu-GH - oder habe ich da etwas übersehen? - die ungleichmäßige Annahmepraxis des Vertrages zum Gegenstand der Klage gemacht hat. In meinen Augen ist es ein Unding, den Vertrag im einen Land dem Volk vorzulegen, im anderen von der Regierung abzunicken.

Hinsichtlich des Führungsanspruchs des BVG habe ich sonst nur einen Vorbehalt, den des immanenten Vollzugsdefizits. Es wird seitens des Gerichtes nur beurteilt, was vor ihm beklagt wird.
Ich würde mir hier eine Art "Verfassungs/Grundrechteanwalt" wünschen, der von sich aus tätig wird, wenn er Verstöße gegen Regeln des GG wahrnimmt.
Mit einer solchen Instanz wäre Kurnaz und Al Masri vielleicht einiges erspart geblieben.


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