Alles ganz easy - die Post und die Arbeitslosen

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Ipsissimus
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Fr 25. Jun 2010, 14:32 - Beitrag #1

Alles ganz easy - die Post und die Arbeitslosen

http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/arbeitsagentur-daten-debatte-sensibler-griff-zur-arbeitslosen-post-1.965417

Es geht um ein weitreichendes Projekt, um eine Neuerung, die es in sich hat. Die Post soll künftig Briefe von Arbeitslosen an die Bundesagentur für Arbeit öffnen, elektronisch erfassen und per Datenleitung an die Behörde weiterschicken.

Digital und legal? Von der Digitalisierung erhofft sich der Nürnberger Arbeitsagentur-Riese eine schnellere Bearbeitung der Vorgänge, erläutert BA-Vorstandsmitglied Raimund Becker. Das Projekt "Elektronische Akte" (eAkte) solle vom 1. Oktober an zunächst für sechs Monate in einem Pilotprojekt in Sachsen-Anhalt und Thüringen erprobt werden.

Becker sagt weiter, das Pilotprojekt sehe vor, dass sich eigens dafür abgestellte Mitarbeiter der Post in Briefzentren in Halle und Berlin mit der Korrespondenz der Arbeitslosen beschäftigen.

Alle Post-Mitarbeiter seien zur Geheimhaltung verpflichtet und müssten dies zuvor schriftlich erklären. Das Projekt sei unter dem Aspekt des Datenschutzes eingehend überprüft und vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) zertifiziert worden. Vorstand Becker: "Der Datenschutz ist gewährleistet."

Überforderte Bundesagenturen

Auch BA-Sprecherin Adriana Galunic beruhigt: "Die Kundendaten befinden sich zu jeden Zeitpunkt in einem datengeschützten Kreislauf. Von der verplombten und gesicherten Transportbox bis zum Einscannen und der digitalisierten Versendung zu dem zuständigen Bearbeiter bei der Bundesagentur", sagt sie auf Anfrage von sueddeutsche.de.

Das neue digitalisierte Verfahren werde eingeführt, weil sich bei der BA inzwischen so viele Briefe stauen. So gebe es 22,2 Millionen Kundenakten allein rund um Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosengeld 1 oder ALG 1). Täglich kämen bundesweit rund 260.000 neue Briefe an die BA hinzu. Mit der Familienkasse ("Kindergeld") seien es sogar mehr als 35 Millionen Akten - und täglich 400.000 neue Dokumente.

"Es ist nicht mehr möglich, das noch auf dem alten Weg zu steuern. Es gab eine Ausschreibung, die Deutsche Post AG hat den Zuschlag bekommen und die Datenschutzrichtlinien werden eingehalten", versichert Sprecherin Galunic. "Niemand braucht sich also Sorgen zu machen."

Wenn der Pilotversuch erfolgreich ist, sollen künftig bundesweit die Millionen Arbeitslosen-Akten sowie die 13 Millionen Kindergeldakten elektronisch erfasst und bearbeitet werden.


abgesehen mal von der Frage, dass damit das Briefgeheimnis für eine spezielle Bevölkerungsgruppe Vergangenheit ist - bei dieser Anzahl einkommender Post gibt es überhaupt keine Möglichkeit, angemessen damit fertigzuwerden, außer die drastische Aufstockung des Personals der Agenturen. Was glauben die denn, was mit den Emails passieren wird? "Oh, ich habe aus versehen auf löschen gedrückt" und schon sind die Anträge der letzten 3 Monate weg. Und wenn die Anträge nicht vorliegen, ist es erst mal der Antragsteller schuld.

Ich sagte es schon mal und wiederhole es gerne: die Agenturen und das gesamte System dahinter dienen nicht dazu, den Solidaranspruch der Arbeitslosen zu erfüllen sondern dazu, ihn abzuwehren.

Lykurg
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Fr 25. Jun 2010, 16:13 - Beitrag #2

Rollen wir das ganze mal von hinten auf:

1. Wegen zu großer Papierberge sollen die Briefe digitalisiert werden.

Das ist praktisch, führt nämlich dazu, daß Sachbearbeiter, ohne erst einmal die Akte aus dem Archiv kommen zu lassen, sich die Daten auf den Bildschirm holen können und im Gespräch mit dem Arbeitslosen schneller und kompetenter ihre Arbeit leisten können. Es spart ungeheuer viel Magazinplatz und Arbeit, wenn die Unterlagen nur noch eine Zeitlang sicherheitshalber aufbewahrt werden müssen; es verhindert gerade, daß Unterlagen verlorengehen, auch durch unabsichtliche Löschungen, wenn das System hinreichend Sicherheitskopien anlegt.

2. Die Briefe sollen nicht vom Sachbearbeiter selbst digitalisiert werden

Es liegt auf der Hand, daß die ziemlich simple manuelle Arbeit des Briefescannens nicht Aufgabe eines Sachbearbeiters ist, der ohnehin schon genug (oder je nach Sichtweise viel zu viele) "Fälle" zu betreuen hat; die Effizienzsteigerung durch Digitalisierung ist noch wesentlich größer, wenn dies von einer zentralen Stelle erledigt wird. Obendrein spart dies auch die Anschaffung von vielen technischen Geräten und die Schulung des gesamten Personals ein.

3. Die Digitalisierung wird von einem seperaten Unternehmen durchgeführt

Hier greift das von dir kritisierte Ende des Briefgeheimnisses - aber wenn ich auf Wunsch meiner Großmutter ihre Post nach Rechnungen durchsuche, um diese vorlesen und begleichen zu können, sehe ich das nicht als Verstoß gegen das Briefgeheimnis, sondern als das Recht des Empfängers, das Brieföffnen zu delegieren. Ohnehin wird die simple Masse der Vorgänge tendenziell verhindern, daß die Dienstleister sich mit Einzelfällen beschäftigen - was generell zu verbieten aber auch Aufgabe und Teil des Auftrags sein muß.

4. Die Deutsche Post hat den Auftrag erhalten

Arbeitsökonomisch ist das praktisch, schließlich wird damit das Austragen, damit ein hochgradig energieaufwendiger Teil des Vorgangs, überflüssig. Allerdings habe ich an dieser Stelle die größten Bedenken, weil der Post als ehemaliges Staatsunternehmen nicht über den Weg zu trauen ist; jeder wirklich private Anbieter wäre besser geeignet gewesen. Aber vielleicht sehen andere das ja auch anders. Bild
die Agenturen und das gesamte System dahinter dienen nicht dazu, den Solidaranspruch der Arbeitslosen zu erfüllen sondern dazu, ihn abzuwehren.
Neutraler formuliert: seine Berechtigung zu überprüfen und danach zu handeln. Unabhängig davon, in welcher Form das Material vorliegt.

blobbfish
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Fr 25. Jun 2010, 17:37 - Beitrag #3

Interessant. Einen einfachen Scan fände ich aber überaus unpraktisch, wesentlich besser ist da nämlich richtiger Text, also OCR müsste bemüht werden, das würde auch den benötigten Speicher deutlich reduzieren. Inwiefern aber das arbeiten mit digitalen Dokumenten sinnvoll ist, kann ich nur schwer sagen, ich mag das nicht und meine Effektivität damit ist auch bodenlos niedrig.

Was aber richtig ist, dass die Digitalisierung nicht dafür sorgt, dass Akten verloren gehen. Sicherungssysteme gibt es für lau und in richtigen Extremfällen würde auch die Papierakte hinfortscheiden. Geschickt angestellt, definitiv ein Gewinn. Fraglich ist, warum man nicht gleich noch Onlinedienste anbietet.

Lykurg
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Sa 26. Jun 2010, 13:15 - Beitrag #4

Onlinedienste sollte man tatsächlich anbieten, auch um die Digitalisierung voranzutreiben; allerdings kann man die natürlich nicht verbindlich machen, da man Sozialfälle logischerweise nicht zur Anschaffung eines PCs zwingen darf. OCR halte ich aber wegen der hohen Fehleranfälligkeit nur für bedingt tauglich, es sei denn, es handelt sich ohnehin um Block- und Nichtproportionalschriftformulare; es müßte aber unbedingt möglich bleiben, bei Bedarf auf die dahinterliegenden Originalscans zurückzugreifen, die Speicherreduzierung fällt also wieder weg.

Effektivität damit ist Gewöhnungssache; bei größeren Datenmengen mir deutlich lieber als in Papierform; wichtig wäre natürlich auch die Anzeigeart, also ein hinreichend großer und angenehm anzuschauender Bildschirm, gern auch elektronisches Papier als augenschonenderes Arbeitswerkzeug.

Maglor
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Sa 26. Jun 2010, 14:18 - Beitrag #5

So wie ich den Umgang der Behörden mit Daten kenne, werden die digitalisierten Briefe an Ort und Stelle für den Sachbearbeiter wieder ausgedruckt.
Papierersparnis null, war aber zumindest gut gemeint. :P

009
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Sa 26. Jun 2010, 14:41 - Beitrag #6

Zitat von Lykurg: 3. Die Digitalisierung wird von einem seperaten Unternehmen durchgeführt

Hier greift das von dir kritisierte Ende des Briefgeheimnisses - aber wenn ich auf Wunsch meiner Großmutter ihre Post nach Rechnungen durchsuche, um diese vorlesen und begleichen zu können, sehe ich das nicht als Verstoß gegen das Briefgeheimnis, sondern als das Recht des Empfängers, das Brieföffnen zu delegieren.


Auch wenn ich das ganze nicht so berauschend finde, habe ich generell kein besonderes Problem damit, dass die BA mangels eigenem Enkel sich Deutsche Post DHL als Ersatz auserwählt hat.

Dirki
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Sa 26. Jun 2010, 19:08 - Beitrag #7

Zitat von 009:Auch wenn ich das ganze nicht so berauschend finde, habe ich generell kein besonderes Problem damit, dass die BA mangels eigenem Enkel sich Deutsche Post DHL als Ersatz auserwählt hat.


Ja, wenn die Oma sich den Enkel aussucht ist das eine Sache, hier wird aber ein zufälliger Enkel ausgewählt, der die Post durchstöbert.

Sinnvoller wäre eine Möglichkeit das der Arbeitssuchende die Möglichkeit hat seine Daten Digital abzugeben. DANN würde wirklich Papier gespart werden. Nicht wenn die Anträge auf Papier erfasst werden, dann abgegeben und bei der Post eingescannt werden.

Das erinnert mich aber an einen Anbeitgeber, wo ein Subunternehmen verschiedene eMails ausgedruckt und an uns gefaxt hat (diese kamen dann bei uns digital an), wir diese dann mit OCR umgewandelt und korrigiert haben, eine Kopie in die Datenbank gelegt und eine nochmal ausgedruckt. Bild
Achja, früher war das mal Post. ^^

Ipsissimus
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So 27. Jun 2010, 09:14 - Beitrag #8

daß Sachbearbeiter, ohne erst einmal die Akte aus dem Archiv kommen zu lassen, sich die Daten auf den Bildschirm holen können und im Gespräch mit dem Arbeitslosen schneller und kompetenter ihre Arbeit leisten können.
also, nach allem, wie ich Computerarbeit bisher kennengelernt habe, führt das lediglich dazu, dass die Beschäftigung mit "dem Fall" noch mehr reduziert wird. Ich gestehe, dass diese Arbeitsweise dazu verhelfen vermag, das Verfahren noch stärker zu formalisieren, aber das ist ein Aspekt, dem ich mit Sorge gegenüberstehe. Die Beschäftigung mit dem Mensch und seiner Situation gerät zunehmend zur Abfrage von Formalien, die Digitalisierung der Daten führt eine weitere Distanzschicht zwischen Bearbeiter und Antragstellern ein, denn natürlich wird nicht mehr Zeit auf den einzelnen "Fall" verwandt, sondern mehr "Fälle" werden in den gleichen Zeitrahmen gepresst werden.

Es liegt auf der Hand, daß die ziemlich simple manuelle Arbeit des Briefescannens nicht Aufgabe eines Sachbearbeiters ist, der ohnehin schon genug (oder je nach Sichtweise viel zu viele) "Fälle" zu betreuen hat; die Effizienzsteigerung durch Digitalisierung ist noch wesentlich größer, wenn dies von einer zentralen Stelle erledigt wird. Obendrein spart dies auch die Anschaffung von vielen technischen Geräten und die Schulung des gesamten Personals ein.
Der erste Teil mag sein oder auch nicht; da es bei der Arbeit der ARGEN aber in erheblichem Maße um "Zumutbarkeiten" geht - um Arbeiten, die den Antragstellern angeblich zugemutet werden können - stellt sich für mich die Frage, warum einem Sachbearbeiter derartige Arbeiten nicht zugemutet werden können. Die eigentliche Lösung dieses Problems - wenn es denn unbedingt digital sein muss - besteht nicht darin, die Arbeiten auszulagern, sondern mehr Sachbearbeiter einzustellen ... hej^^ vielleicht sogar aus den Kreisen der Antragsteller?

Effizienzsteigerung ist ein Aspekt, der bei der Arbeit mit den Schicksalen von Menschen meines Erachtens aber auch überhaupt nichts zu suchen hat, jedenfalls nicht, wenn "Effizienz" hier heißt "noch weniger Zeit pro Mensch".

Und die Maßnahme erspart auch nicht die Anschaffung von Geräten und Personal, nur dass beides jetzt an einer anderen Stelle geschieht, an sachfremder Stelle nämlich. Selbst in der Privatwirtschaft wäre es merkwürdig, wenn ein Bäcker plötzlich Schuhe reparieren sollte, obwohl es ja in beiden Fällen gleichermaßen "Handwerk" ist^^

Dahinter steht letztlich natürlich die Frage, ob man Hoheitsaufgaben nach privatwirtschaftlichen Maximen organisieren will oder nicht. Will man, und dazu in dieser Weise, ist die Vermutung nicht gänzlich von der Hand zu weisen, dass man sich der Hoheitsaufgabe eigentlich einfach nur entledigen möchte, und das ist für einen proklamierten Rechtsstaat schon etwas merkwürdig.

aber wenn ich auf Wunsch meiner Großmutter ihre Post nach Rechnungen durchsuche, um diese vorlesen und begleichen zu können, sehe ich das nicht als Verstoß gegen das Briefgeheimnis, sondern als das Recht des Empfängers, das Brieföffnen zu delegieren.
es steht zu bezweifeln, ob Großmutter so viele Enkel bei der Post hat, dass alle ihre Briefe nur von Enkeln geöffnet werden.

"Briefgeheimnis" bedeutet, dass sichergestellt wird, dass der Brief nur von denjenigen geöffnet wird, für die ein Brief gedacht ist, nicht aber von Personen in der Überträgerkette. Davon abgesehen: Antragsteller tun gut daran, bestimmte Briefe ans ARGE per Einschreiben zu verschicken. Dürfen die dann auch geöffnet werden? Wirklich, eine schöne neue Welt.


Das ist so ein Thema, da könnte ich mir die Haare ausraufen bei dem geäußerten Übermaß an Vertrauen oder ist es Gleichgültigkeit. Könnt ihr euch nicht vorstellen, selbst mal in der Falle zu sitzen, und würdet ihr dann nicht selbst wünschen, noch als Menschen und nicht als "Fall" begriffen zu werden?

Lykurg
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So 27. Jun 2010, 10:55 - Beitrag #9

Dirki und Maglor, mit euren Sorgen bezüglich Reanalogisierung von Daten habt ihr vermutlich nicht ganz Unrecht, aber jedes Blatt, das vermieden werden kann, ... das ist auch eine Frage des Übergangs.
Zitat von 009:Auch wenn ich das ganze nicht so berauschend finde, habe ich generell kein besonderes Problem damit, dass die BA mangels eigenem Enkel sich Deutsche Post DHL als Ersatz auserwählt hat.
Bild Allerdings sind strenggenommen Post und BA eher entfernte Cousins, wobei die Post in Deutschland die längere Ahnentafel vorweisen kann und der gemeinsame Familienzweig erst im Zusammenhang der Reichsgründung richtig aufblüht und in der BRD sehr in die Breite gegangen ist. Man könnte insofern von einer Vetternwirtschaft unter Emporkömmlingen sprechen. ]also, nach allem, wie ich Computerarbeit bisher kennengelernt habe, führt das lediglich dazu, dass die Beschäftigung mit "dem Fall" noch mehr reduziert wird. [...] die Digitalisierung der Daten führt eine weitere Distanzschicht zwischen Bearbeiter und Antragstellern ein, denn natürlich wird nicht mehr Zeit auf den einzelnen "Fall" verwandt, sondern mehr "Fälle" werden in den gleichen Zeitrahmen gepresst werden.
[...] da es bei der Arbeit der ARGEN aber in erheblichem Maße um "Zumutbarkeiten" geht - um Arbeiten, die den Antragstellern angeblich zugemutet werden können - stellt sich für mich die Frage, warum einem Sachbearbeiter derartige Arbeiten nicht zugemutet werden können. Die eigentliche Lösung dieses Problems - wenn es denn unbedingt digital sein muss - besteht nicht darin, die Arbeiten auszulagern, sondern mehr Sachbearbeiter einzustellen ... hej^^ vielleicht sogar aus den Kreisen der Antragsteller?

Effizienzsteigerung ist ein Aspekt, der bei der Arbeit mit den Schicksalen von Menschen meines Erachtens aber auch überhaupt nichts zu suchen hat, jedenfalls nicht, wenn "Effizienz" hier heißt "noch weniger Zeit pro Mensch".[/QUOTE] Was ist genau die Beschäftigung mit "dem Fall" - das Aufschlitzen eines Briefes und Hervorholen der Akte, um ihn geknickt und gelocht darin abzuheften, oder das Lesen der enthaltenen Daten und das Gespräch mit dem Antragsteller? In meinen Augen letzteres, und dafür soll der Sachbearbeiter mehr Zeit haben, indem man ihm ersteres abnimmt.
Nehmen wir zufällig einmal an, es sei genug Geld für den Status quo vorhanden (das ist eine eher groteske Behauptung angesichts des immensen Haushaltsdefizits und der galoppierenden Staatsverschuldung, aber nehmen wir es ruhig trotzdem an) - dann ginge es also tatsächlich darum, mit dem gleichbleibenden Personalstand die hereinkommenden Anträge möglichst gut und gerecht zu beantworten. Dafür brauchen diese Bearbeiter Zeit, und da sie Kenner der Materie sind, sollte ihre Zeit für genau das eingesetzt werden, was sie besser können als andere - das bezeichne ich als Effizienz, für mich ein inhaltlich ungebundener und positiv bewerteter Begriff. (Das Gegenteil, Ineffizienz, bedeutet hier Verschwendung von Steuergeldern, eventuell auch Korruption, und eine Mißachtung der Ansprüche der Antragsteller auf schnelle Bearbeitung ihrer Eingaben).
Du verweist selbst auf den Bäcker, der Schuhe reparieren soll - es ist wesentlich sinnvoller, wenn er sie zum Schuster gibt und ihm dafür ein paar Brötchen gibt, die der nicht so gut selbst backen kann. Das nennt sich Arbeitsteilung und ist eine zentrale Grundlage unseres Wohlstands.
Und die Maßnahme erspart auch nicht die Anschaffung von Geräten und Personal, nur dass beides jetzt an einer anderen Stelle geschieht, an sachfremder Stelle nämlich.
Es ist wesentlich günstiger, an einer zentralen Sammelstelle oder in jedem größeren Verteilerzentrum der Post Großscanner einzurichten, als in jeder Arge eine Digitalisierungsstelle oder auf jedem Sachbearbeiterschreibtisch einen Flachbettscanner hinzustellen, insbesondere was die Folgekosten an Wartung, Ersatz und Standbystromfraß betrifft.
Ich gestehe, dass diese Arbeitsweise dazu verhelfen vermag, das Verfahren noch stärker zu formalisieren, aber das ist ein Aspekt, dem ich mit Sorge gegenüberstehe. Die Beschäftigung mit dem Mensch und seiner Situation gerät zunehmend zur Abfrage von Formalien, [...] Könnt ihr euch nicht vorstellen, selbst mal in der Falle zu sitzen, und würdet ihr dann nicht selbst wünschen, noch als Menschen und nicht als "Fall" begriffen zu werden?
Ich selbst hasse jeden Umgang mit Behörden, und möchte normalerweise so schnell wie möglich behandelt werden, um da 'raus zu kommen. Bei Standardsachen kann und soll das dann auch anonym geschehen, und gerade wenn die Sache selbst mir unangenehm wäre, wäre mir das sicher sogar lieber. Natürlich freut es mich auch, wenn mir zu meiner Überraschung mal ein Mensch und nicht die Behörde selbst gegenübersitzt, genau das kann aber eher geschehen, wenn der wesentliche Zeitaufwand des Aktensuchens und -schleppens entfällt.

Padreic
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So 27. Jun 2010, 14:39 - Beitrag #10

@Ipsi: es kann durchaus sein, dass die oben beschriebenen Maßnahmen dem Geist einer Nicht-Achtung der Betroffenen entspringen. Trotzdem glaube ich, dass sich keineswegs automatisch eine Verschlechterung deren Behandlung ergibt, eher im Gegenteil. Wenn die Maßnahmen natürlich als Entschuldigung dafür genutzt werden, Personal einzusparen, kann das passieren; aber Entschuldigungen für so etwas finden sich immer. Wird kein Personal bei den Ämtern eingespart, so sollte die Zeit, die sie nicht mehr für Akten abheften, Akten im Keller suchen etc. verwenden eher zugunsten der Betroffenen eingesetzt werden.

Das mit dem Briefgeheimnis finde ich hier sekundär. Wenn ich einen Brief an eine Behörde oder ein Unternehmen schreibe, schreibe ich es nicht an eine Person persönlich. Selbst wenn ich den Namen eines Sachbearbeiters draufschreibe, kann ich nicht damit rechnen, dass der Brief nur von ihm gelesen wird; genauso wenn ich an einen konkreten Mitarbeiter in einem Unternehmen schreibe, durchaus damit rechnen muss, dass z. B. dessen Abteilungsleiter den Brief auch lesen wird. Dass der Briefschreiber irgendwelche direkten Nachteile dadurch hat, glaube ich in diesem Fall nicht.

Und natürlich kann ich mir vorstellen, selbst einmal arbeitslos zu sein. Und natürlich wünsche ich mir dann auch eine anständige Behandlung. Aber niemand hat hier gesagt: streicht den Ämtern all ihr Personal. Denn das würde mich vermutlich stören: wenn keiner irgendwie Zeit für mich hätte. Ich hätte aber kein Problem damit, wenn meine Anträge digitalisiert werden und mir ist auch relativ egal von wem (solange er die Daten nicht irgendwie verkauft oder so). Die tatsächlichen Mängel in dem ganzen Umgang mit Arbeitlosen liegen meiner Meinung nach eher woanders (wenn auch nicht geleugnet werden soll, dass sie möglicherweise einem ähnlichen Geist entspringen - doch ich weiß nicht, wem mit Geistergeschichten geholfen ist).

Ipsissimus
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Mo 28. Jun 2010, 12:17 - Beitrag #11

@Lykurg

Was ist genau die Beschäftigung mit "dem Fall" - das Aufschlitzen eines Briefes und Hervorholen der Akte, um ihn geknickt und gelocht darin abzuheften, oder das Lesen der enthaltenen Daten und das Gespräch mit dem Antragsteller? In meinen Augen letzteres, und dafür soll der Sachbearbeiter mehr Zeit haben, indem man ihm ersteres abnimmt.
es hat was von beiden, aber es ist nicht das Lesen der Informationen an sich, sondern - idealerweise - eine wohlwollende Lösungsfindung für die spezielle Problematik eines speziellen Antragstellers. Faktisch läuft das ganze aber darauf hinaus: Kriterium A erfüllt, Kriterium B erfüllt, Kriterium C nicht erfüllt - Ablehnung/Reduzierung des Betrages. Und noch mal, die Lösung lautet nicht, den Sachbearbeitern die fließbandmäßige Abarbeitung von Antragsstapeln zu erleichtern, sondern so viele Sachbearbeiter einzustellen, dass den einzelnen Bearbeitern Zeit bleibt, sich tatsächlich innerlich auf ihre "Fälle" einzulassen und die Menschen dahinter wahrzunehmen.

Du verweist selbst auf den Bäcker, der Schuhe reparieren soll - es ist wesentlich sinnvoller, wenn er sie zum Schuster gibt und ihm dafür ein paar Brötchen gibt
ich sehe nicht, dass Posthilfspersonal für die vorgesehene Tätigkeit besonders qualifiziert wäre. Warum dieses Personal nicht bei den ARGEN selbst einstellen? Immerhin sprechen wir hier über die Post, die Telekom. Den Verein, der noch nicht mal weiß, was Datenschutz ist, seine Mitarbeiter ausspioniert, sich nie dafür auch nur andeutungsweise entschuldigt hat, und nunmehr einen Blankobrief dafür erhalten soll, auf hochsensible Daten von 5 Millionen Menschen einfach so zugreifen zu dürfen. Wohl bekommt´s.

Ich selbst hasse jeden Umgang mit Behörden, und möchte normalerweise so schnell wie möglich behandelt werden, um da 'raus zu kommen. Bei Standardsachen kann und soll das dann auch anonym geschehen, und gerade wenn die Sache selbst mir unangenehm wäre, wäre mir das sicher sogar lieber.
ich kann diese Einstellung nachvollziehen und teile sie auch. Das Problem dabei ist nur, dass es hier um´s Ganze geht. Wir sprechen nicht davon, einen europäischen Führerschein zu beantragen, also nicht von einem Luxus-Problem, sondern davon, dass Leute unterhalb der Armutsgrenze auf Biegen und Brechen zusehen müssen, dass sie bestimmte formale Kriterien erfüllen, weil sie sonst schlicht kein Geld mehr für das Brot auf dem Tisch haben, geschweige denn noch einen Tisch irgendwo hinstellen könnten.

Solche Leute mögen den Gang auf die Behörde auch nicht mögen, aber sie haben keine andere Wahl - selbst wenn das Tragische darin besteht, dass auch ihre Möglichkeiten direkter Einflussnahme durch persönliche Gespräche nahe null liegen. Wenn du heute nicht genau weißt, was du in welchem Moment sagen musst - und das am Besten vorher mit einem Rechtsanwalt übst - hast du überhaupt keine Chancen mehr, den vollen Betrag zu bekommen, sobald auch nur die geringste Möglichkeit besteht, irgendetwas zu deinen Ungunsten auszulegen. Und bei einem Monats"gehalt" von 350 Euro mal eben zwei, drei Monate nur noch 100 oder 50 Euro zu bekommen, macht schon einen klitzekleinen Unterschied aus.

wenn der wesentliche Zeitaufwand des Aktensuchens und -schleppens entfällt.
früher machten das Büroboten. Dafür könnte man auch Leute aus dem Prekariat einstellen^^ wenn man wollte

aber im Ernst, dahinter verbirgt sich natürlich das grundlegende Problem^^ man will den Leuten gar keine Arbeit mehr geben, wenn die Arbeit auch von Maschinen erledigt werden kann. Jedenfalls solange die Leute noch angemessene Bezahlung verlangen

Im Prinzip, und nur ganz wenig polemisch gemeint, erleben wir in Deutschland paradigmatisch, wie eine Gesellschaft bis auf ihre oberste Oberschicht überflüssig gemacht wird.


@Padreic

das mit dem Briefgeheimnis ist natürlich sekundär, da stimme ich dir zu. Andererseits, siehe meine Anmerkung zu Lykurg, wir sprechen von der Telekom, die bisher nicht wirklich als Paladin des Datenschutzes in Erscheinung getreten ist.

Ganz allgemein würde ich dir antworten: Natürlich. Wenn alle diese tollen Maßnahmen tasächlich zu einem im Sinne der Antragsteller verbesserten Service und insgesamt zu im Sinne der Antragsteller wohlwollenden Bescheiden führen würden, dann wären das alles ganz tolle Maßnahmen. Leider sieht die reale Situation in den ARGEN etwas anders auch. Und das ist es, was ich leider nicht nur befürchte: das alle die tollen Formalismen und organisatorischen Maßnahmen mit ihren ganzen Pseudoproblemchen und Ersatzkriegsschauplätzen nur verschleiern sollen, dass das grundlegende Wohlwollen verloren gegangen ist, jedenfalls seitens der Bürokratie ... und wohl leider auch seitens der Gesellschaft als Ganzer.

Daran ist "einfach so" nichts mehr zu ändern, schon klar; aber manchmal ist klares Sehen - und klare Darstellung - die einzige Möglichkeit, nicht zum Mittäter zu werden. Und ich sehe eine ganz klare Täterschaft seitens Staat, Bürokratie und Unternehmerlobby.

Traitor
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So 18. Jul 2010, 11:52 - Beitrag #12

Ein grundlegender Lösungsansatz für diese und andere Bürokratieprobleme, der im Idealeffizienzfall sogar ohne Mehrpersonal funktionieren könnte, vermutlich aber leider nicht, daher eher ein Wunschtraum:
Die Sachbearbeiter in allen Behörden mit Kundenkontakt werden in zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine, größere, geringer qualifizierte und bezahlte, behandelt mit größtmöglicher, bis zum machbaren Maximum maschinisierter und elektronisierter Effizienz sämtliche eingehenden Anträge und beantwortet sie blind nach Kriterien (im Idealfall schauen sie also wirklich nur noch als stempelberechtigte Instanz über ein vom Computer fertig abgewickeltes Formular drüber).
Die andere, kleinere, mit mehr Überblick und vor allem Kontaktkompetenz ausgestattete Bearbeitergruppe ist für den tatsächlichen Kundenkontakt da. Jeder Kunde hat das Recht, bei Erhalt eines unzufriedenstellenden Bescheids der ersten Gruppe in möglichst kurzer Zeit einen Termin bei einem Bearbeiter der Stufe 2 zu erhalten, der sich dann individuell mit seinem Problem auseinandersetzt.
So könnten die Standardfälle, die bei unkritischen Behörden wie Führerscheinstellen 99%, und auch beim Arbeitsamt sicher noch einen großen Anteil, ausmachen, möglichst effizient abgearbeitet werden, während gleichzeitig den Problemfällen mehr und weit wohlwollendere Aufmerksamkeit zuteil wird, weil die für sie zugeteilten Bearbeiter nicht von nervigen Standardaufgaben belastet sind.
Leider würde das in der Praxis aber vermutlich daran scheitern, dass erstens die Level2-Berater schwer auszuwählen sind, zweitens die Effizient von Level1 durch die üblichen Bürokratiepatzer und Technologieinkompetenzen nicht angemessen erhöht würde, und drittens sich zu viele Leute über zu Recht erteilte Standardbescheide beschweren (hierbei sind weniger hilfesuchende Arbeitslose gemeint, eher pingelige Kleingärtner).
Aber eine Idee wäre es...

Zum konkreten Thema: Das Briefgeheimnis sehe ich aus Padreics Gründen nicht als schwer betroffen an, da es sich eben um formalisierte, an eine unpersönliche Instanz gerichtete Korrespondenz handelt. Weitgehend beheben ließe sich das Problem aber ganz abgesehen davon dadurch, dass der Scanvorgang möglichst weitgehend ohne menschlichen Eingriff abläuft. Flachbettscanner werden aus Effizienzgründen eh nicht geplant sein, und wenn die Hilfskraft nur stapelweise Blätter in einen Einzug legt und dann am PC auf "alle aktuellen Jobs abarbeiten und die Dateien unter der erfassten Bearbeitungsnummer ablegen" klickt, hat sie kaum eine Möglichkeit, Daten zu veruntreuen. Das Fehlerpotential wäre dabei vermutlich nichtmal höher, als wenn sie manuell mehrere Papiermanöver und tausend Klicks pro Brief vollführt, wie ich zumindest aus meiner eigenen Neigung, leere Rückseiten zu faxen oder bei zehnseitigen Scans die siebte zu vergessen, zu extrapolieren wage.

Noch besser wäre, wie schon erwähnt wurde, natürlich, möglichst viel von der Behördenkorrespondenz direkt online abwickeln zu können. Um das bei Arbeitslosen zu ermöglichen, müsste aber natürlich erstmal das Grundrecht auf einen Internet-Zugang anerkannt werden, meines Erachtens die spannendste Diskussion des aktuellen Sommerlochs.

Mehr Leute einzustellen, gerade für Hilfstätigkeiten, wäre aber auch meines Erachtens eine sinnvolle Alternative, da muss ich Ipsi zustimmen. Wenn auch weniger, weil ich glaube, dass elektronische Effizienzsteigerung die Betreuung verschlechtert, als vielmehr, weil mehr Stellen weniger Arbeitslose und damit weniger Betreuungsbedarf bedeutet. Gegenfinanzierung wäre aus vielen Quellen denkbar, ist aber offensichtlich nicht gewünscht.

Ach ja, Telekom und Post sollten offiziell inzwischen rein gar nichts mehr miteinander zu tun haben. Die kundenunfreundliche Grundhaltung und Selbstverständnis als rechteferne Behörde sind aber natürlich beiden geblieben. ;)


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