HartzIV-Reform im Bundesrat abgelehnt

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Ipsissimus
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Fr 17. Dez 2010, 13:49 - Beitrag #1

HartzIV-Reform im Bundesrat abgelehnt

die HartzIV-"Reform" wurde heute im Bundesrat abgelehnt und muss in den Vermittungsausschuss

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,735222,00.html

das ist so ein Fall, bei dem ich nicht richtig einschätzen kann, was schlimmer ist. Die Maßnahmen, die von der Leyen in die Reform einarbeitete, dürfen getrost als vollständig lächerlich an der Grenze zur Bösartigkeit angesehen werden; insofern kann eine Ablehnung nur positiv sein. Andererseits, wir sprechen von Politikern, und da lautet die Devise allemal "schlimmer geht immer", zumal getrost bezweifelt werden darf, dass es den Ländern bei der Ablehnung auch nur im geringsten um die Menschen ging, die auf dieses Geld angewiesen sind.

Ich zweifele nicht daran, dass eine neue Bösartigkeit als "Hilfe" verkauft werden wird. Das ist alles so zum Verzweifeln und dabei derart offensichtlich. Diese unbegreifliche Langmut des Schlachtviehs.

Lykurg
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Fr 17. Dez 2010, 14:39 - Beitrag #2

Ich sehe jedenfalls nicht, inwieweit die Ablehnung der Reform die Lage verbessert. Dadurch entsteht zwar ein Druck, es noch einmal anders zu versuchen; mehr Geld wird dabei aber wohl nicht rauskommen; und wenn jemand wie Beck das Paket ablehnt, aber die (minimale) Erhöhung trotzdem sofort fordert, macht er sich damit unglaubwürdig. Dies ist einfach wieder eine Blockademaßnahme der Opposition, 'weil sie es können', wie schon in Kohl IV; und diesmal eine, die auch nach hinten losgehen könnte. Selbst die taz berichtet deutlich kritisch gegen die SPD, sie habe selbst das als verfassungswidrig eingestufte Gesetz beschlossen und wolle nun dessen Anpassung nicht mittragen.
Zitat von taz.de: Doch egal wie lächerlich die Erhöhung und wie defizitär das Bildungspaket ist, beide müssen ab Januar kommen. Damit die eigentlich anstehende Debatte überhaupt losgehen kann. Die Frage nämlich, wie wir künftig mit denen umgehen wollen, die ihr Existenzminimum nicht selbst erwirtschaften können, ist mit diesen kleinlichen Nachbesserungen überhaupt nicht beantwortet.
Darüber hinaus greift sie Vorwürfe der Linken gegen die Saarländer Grünen auf, sie hätten sich kaufen lassen bzw. lehnten ab, weil sie eine Belohnung zugesagt und nicht bekommen hätten. Wenn das so stimmt, ist es schon ein ziemlich ekliges Stück Schmierentheater auf dem Rücken der Hilfsbedürftigen.

Ipsissimus
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Fr 17. Dez 2010, 14:57 - Beitrag #3

deswegen bin ich mir ja auch unschlüssig, Lykurg, "besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach" hört sich auf den ersten Blick immerhin nach einem Spatz an. Auf den zweiten Blick ist zu fragen, was dieser Spatz wirklich wert ist, wenn er dazu verbraten wird, Ansprüche auf Tauben ein für alle mal abschlägig zu bescheiden.

Wenn das so stimmt, ist es schon ein ziemlich ekliges Stück Schmierentheater auf dem Rücken der Hilfsbedürftigen.
hier im Saarland hört man ja noch das ein oder andere mehr über unsere lokalen Politiker, was nicht in den Zeitungen wiederzufinden ist. Ist schon witzig, wie und mit welchen Pfründen hier geschachert wird.

wenn das Bundesverfassungsgericht nur einen Mindestbetrag angegeben hätte, oder wenigstens eine eindeutige Vorgabe hinsichtlich der Richtung

janw
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Fr 17. Dez 2010, 23:02 - Beitrag #4

Wenn ich mir ansehe, was für eine grenzwertige Reform da beschlossen werden soll, denke ich, daß ein Schlichtungsverfahren angestrebt werden sollte, um wenigstens einige Punkte zu verbessern.
Die Streichungen im Warenkorb für die Regelleistungen finde ich unsäglich, derartige Gängelung mag in Anstalten begründet werden können, aber nicht gegenüber freien Bürgern dieses Staates.
Die Anhebung des Regelsatzes ist damit unzureichend.

Ist nicht auch Teil der Reform, keine Rentenbeiträge mehr zu zahlen für die Leistungsbezieher?
Das ist für mich ebenso unsäglich, wie kurzsichtig gedacht - so werden die meisten Menschen, auch wenn sie wieder sozialversicherungspflichtig beschäftigt werden sollten, im Alter nicht hinreichend abgesichert sein.

Das Bildungs-Paket für die Kinder beträgt, wenn ich es richtig verstanden habe, 15 Euro im Monat, wahlweise für Nachhilfe, Musik, Vereine oder ähnliches. Eine Nachhilfestunde kostet aber bereits 15 Euro - und es besteht doch eigentlich Einigkeit darüber, daß bei den Kindern aus ärmeren Schichten eher mehr Bildungsmöglichkeiten angeboten werden sollten als weniger.
Ein erheblicher Anteil des Haushaltsansatzes wird dann nur für die Abwicklung über die Arge verbraucht, wohl eine recht bürokratische Lösung.

Letztlich ist das zentrale Kriterium des Verfassungsgerichtes, eine transparente Begründung für den angesetzten Betrag, wieder nicht erfüllt.

Lykurg, ich verstehe den taz-Artikel so, daß die Grünen im Saarland Gesprächsbedarf - das ist keine Zuage zur Zustimmung - signalisiert haben, wenn das Saarland bestimmte Zugeständnisse bekomme, ohne daß diese näher erläutert werden. Das klingt für mich erstmal nicht nach persönlicher Bereicherung, politischer Tauschhandel ist natürlich immer zweischneidig, müste man die Details kennen.

Ipsi, erzähl doch mal^^
Der nette Herr Müller soll also bald nach Karlsruhe ziehen, zurechtgestrickte Nachverwendung?

Padreic
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Sa 18. Dez 2010, 00:11 - Beitrag #5

Wenn ich das Urteil des Verfassungsgerichts richtig verstanden habe/mich richtig erinnere, war ja dort auch gar nicht die Rede davon, dass die Beiträge generell angehoben werden müssen - deswegen konnte ein Mindestbetrag darin gar nicht vorkommen. Die Erhöhung ist sicherlich nicht sehr hoch. Dennoch muss man sich (nicht?) wundern, dass die zu niedrige Erhöhung gerade von den Parteien eine Abfuhr und massig negatives Echo bekommt, die damals die niedrigen Regelsätze beschlossen haben.

Die Bildungszuschüsse für Kinder von Hartz4-Empfängern halte ich prinzipiell für eine gute Idee. Der Verwaltungsaufwand wird aber wohl immens sein - und die Agenturen für Arbeit werden vermutlich nicht ausreichend personell dafür aufgestockt werden. Und die Höhe, nunja, das ist wirklich nicht sehr viel. Es ist aber immerhin ein Anfang und ein Stück mehr als bisher bestand. Auch scheint mir, dass auch ganz unabhängig von diesen 15 Euro momentan schon im Rahmen einer Härtefallregelung zumindest prinzipiell Kosten für Nachhilfe erstattet werden können (auch wenn ich natürlich nicht weiß, wie oft das passiert).

Insgesamt habe ich das Gefühl, dass mit der Reform, abgesehen vom höheren Verwaltungsaufwand, zumindest eine Entwicklung in die richtige Richtung gegeben ist.
Ich bin aber gespannt, wie mit dem verfassungswidrigen Zustand ab 1. Januar umgegangen wird; zumindest manche Juristen scheinen der Meinung zu sein, dass auf Klagen hin dann die Sozialgerichte individuell angepasste Regelsätze beschließen können.

janw
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Sa 18. Dez 2010, 02:23 - Beitrag #6

Zitat von Padreic:Wenn ich das Urteil des Verfassungsgerichts richtig verstanden habe/mich richtig erinnere, war ja dort auch gar nicht die Rede davon, dass die Beiträge generell angehoben werden müssen - deswegen konnte ein Mindestbetrag darin gar nicht vorkommen. Die Erhöhung ist sicherlich nicht sehr hoch. Dennoch muss man sich (nicht?) wundern, dass die zu niedrige Erhöhung gerade von den Parteien eine Abfuhr und massig negatives Echo bekommt, die damals die niedrigen Regelsätze beschlossen haben.

Ich sehe bei der SPD gegenüber der Zeit, wo sie Hartz IV beschlossen hat, einen Wechsel im Personal in den führenden Rollen, die SPD war damals ziemlich gespalten in Schröders Gefolgschaft und einen teils deutlich kritisch eingestellten Rest, der aber durch die "Basta"-Politik und begleitende mediale Desavourierung ausgebremst wurde. Die Grünen hätten wohl zum größeren Teil auch lieber eine andere oder zumindest gemäßigtere Politik gehabt, aber Opposition hätte hier aus damaliger Sicht bedeutet, daß die Koalition gebrochen wäre - mit möglichem Dammbruch unter einer dann wahrscheinlichen konservativ geprägten Regierung.
Die Vertreter von CDU und FDP haben damals, von Blüm und Geißler abgesehen, Hartz IV eher noch als zu lasch empfunden, wenn ich es richtig erinnere.

Die Bildungszuschüsse für Kinder von Hartz4-Empfängern halte ich prinzipiell für eine gute Idee. Der Verwaltungsaufwand wird aber wohl immens sein - und die Agenturen für Arbeit werden vermutlich nicht ausreichend personell dafür aufgestockt werden. Und die Höhe, nunja, das ist wirklich nicht sehr viel. Es ist aber immerhin ein Anfang und ein Stück mehr als bisher bestand. Auch scheint mir, dass auch ganz unabhängig von diesen 15 Euro momentan schon im Rahmen einer Härtefallregelung zumindest prinzipiell Kosten für Nachhilfe erstattet werden können (auch wenn ich natürlich nicht weiß, wie oft das passiert).

Insgesamt habe ich das Gefühl, dass mit der Reform, abgesehen vom höheren Verwaltungsaufwand, zumindest eine Entwicklung in die richtige Richtung gegeben ist.

Die Richtung kann man sicher richtig finden - wobei für mich allerdings in der Bildungsgutschein-Sache schon wieder eine versteckte Unterstellung steckt, die Eltern würden das Geld sonst in werweißwas umsetzen, und die Frage, wie das zu handhaben ist, ohne daß eine Offenbarung als Leistungsempfänger erfolgen muss.
Aber vor allem ist es zu wenig, um wirklich wirksam sein zu können.
Die Sache mit der Härtefallregelung klingt sicher gut, nur zeigt die Praxis, daß derartige Regelungen nach Belieben und Neigung der Sachbearbeiter angewandt werden, angefangen dabei, überhaupt auf diese Möglichkeiten hinzuweisen.
Ein großes Problem von Hartz IV ist, daß es einem Heer von Bürokraten weitgehende Macht über Menschen gibt, gerade in Deutschland noch nie wirklich gut gegangen...

[quote]Ich bin aber gespannt, wie mit dem verfassungswidrigen Zustand ab 1. Januar umgegangen wird]
Ich vermute, daß bis Anfang Januar eine Lösung gefunden wird, die zwar keinem wirklich schmeckt, aber derartige Verfahren unnötig macht.

Maglor
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Sa 18. Dez 2010, 16:14 - Beitrag #7

Das Sprichwort von der Taube und dem Spatz ist hier schon an der rechten Stelle. 15 € mehr wären eben 15 € mehr.
Es handelt sich um klassische Blockadepolitik des Bundesrates. Aufmerksamkeit erheischen sich sicherlich, was wahrscheinlich auch die Hauptwirkung des ganzen ist. In der Situation sollten SPD und Grüne sich daran halten ihren Gegenentwurf in Szene zu setzen.

Inwieweit sich die Bildungsgutscheine in der Praxis umsetzen werden, ist ja unbekannt. Ohne eine Eigenbeteiligung der Familien wird sich wohl kaum etwas tun. Diese kann jedoch aus dem Arbeitslosengeld II Basissatz efolgen und da wird sich dann wieder die Spreu vom Weizen trennen. Sogenannten "bildungsferne" Familien werden dies solche komplizierten Möglichkeiten der Eigenverantwortung wahrscheinlich wenig nützen.

janw
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Sa 18. Dez 2010, 16:33 - Beitrag #8

Aus dem Basissatz wird sich nach meinem Eindruck nur wenig bestreiten lassen, eher nur die schichtspezifischen Sachen wie Fußball, die Vereine sind da ja teils recht günstig. Mehr wird auch für jene, die mehr machen möchten, nicht gehen, wenn man sich die Kosten für Musikunterricht mal ansieht.

Ipsissimus
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Mo 20. Dez 2010, 11:13 - Beitrag #9

auch wenn ich kein Fan von Lafontaine bin, aber der Mann sieht es richtig, wenn er einen Mindestbetrag von 500 Euro zuzüglich Wohnung und Heizkosten fordert. 500 Euro ist ungefähr der Betrag, den man monatlich in Deutschland braucht, um bescheiden, aber ohne Elend leben zu können, wenn nicht zusätzlich noch Schulden und dergleichen drücken. Das ist im übrigen, wie ich denke, ein ganz großes Problem. Viele HartzIVer sind ja nicht aus "intakten Verhältnissen" ins ARGE geraten, sondern haben oft genug noch Schulden und dergleichen und geraten eine Zinsspirale. Wird nicht im geringsten berücksichtigt.

Jan, man kann über Lafontaine sagen, was man will, auf eines war bei dem Mann Verlass, als er selbst noch Ministerpräsident war hat er seine Leute mit Posten und Ämtern versorgt. Wie es aussieht ist der Grünen-Chef im Landtag als Mehrheitengarant ein guter Schüler von ihm gewesen.

Milena
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Mo 20. Dez 2010, 11:33 - Beitrag #10

...das wäre natürlich schon schön so mit diesen beträgen Ipsi^^, wobei, was machen dann die arbeitenden menschen, die darunter liegen? ich meine, ich habe abzüglich miete etc nicht soviel zum leben übrig und arbeite mindestens 10 stunden täglich^^.....und von meiner sorte gibt es tausende...^^ was machen die dann? sich aufregen und diese unterbezahlte arbeit hinschmeissen oder sich nur aufregen und weiterarbeiten?^^
wobei ich mich sehr freuen würde für die hartzler, aber man müsste dann das gesamte system angleichen und anpassen, damit alle zufrieden sind...

Ipsissimus
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Mo 20. Dez 2010, 11:48 - Beitrag #11

das ist der Punkt, Milly, was du im letzten Satz schreibst. Das gesamte System ist in Schieflage. Du weißt ja, dass ich mich weigere, einen Unterschied anhand der Herkunft des Geldes zu machen. Aus meiner Sicht sind HartzIVer und Billigstlohnarbeiter eine große Gruppe; der Unterschied anhand der Quelle des Geldes ist ein rein formaler, der nur dazu gemacht wird, die Arbeitslosenstatistiken zu beschönen.

Von daher, das gesamte Unterstützungssystem der Bundesrepublik müsste neu aufgestellt werden; nur nicht gerade im Sinne dieser Farce, die im Bundesrat auch nur abgelehnt wurde, um in noch schlimmerer Form wiederzukehren, sondern im Sinne der Rückkehr tiefgreifenden Wohlwollens als Basis der Unterstützung.

Maglor
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Mo 20. Dez 2010, 21:27 - Beitrag #12

Naja, eigentlich hat Lafontaine die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (= Hartz IV) selbst erfunden und in den 1990er Jahren bis zu seinem Rückzug aus der Regierug verkündet.
Verläßlich ist er ja schon, immerhin will er seine eigene Suppe auslöffeln. :rolleyes:

Der Basissatz entspricht im wesentlichen der althergebrachten Sozialehilfe. (Der Unterschied ist, dass da jetzt auch Leute reinfallen, die vorher mal in "intakten Verhältnissen" lebten, d. h. sozialversicherungspflichtig gearbeitet haben. Hinzu kommt, dass Hartz IV im Gegensatz zur alten Sozialhilfe erheblich mehr die Eigenverantwortung fordert, was auch eines der wesentlichen Probleme darstellt.)
Problem bleibt, was ist ein bescheidender Lebensstandard.

Das auslösende Urteil des Bundesverfassungsgerichts schreibt wie folgt:
Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.
Daher soll mit Hartz IV am gesellschaftlichen, kulturellen ... eben teilgenommen werden können. Ob da die ersatzlose Kürzung des Plan-Bedarf an Alkohol und Zigaretten im Sinne des BVerG ist, bezweifle ich.
Folgt man dem BVerG weiter, so ist der Bedarf aktuellen Entwicklungen der Gesamtgesellschaft anzupassen. Soll heißen: So lange große Teile der Bevölkerung derartige Genussmittel konsumieren, ihr Geld für Handys, Unsinn etc. ausgeben, muss Hartz-IV-Empfänger auch hier ein "Mindestmaße an Teilhabe" ermöglicht werden.

Die Konkurrenz von Transfer-Leistung und Erwerbsarbeit ist der gordische Knoten des Systems. Zu Lösen nur mit dem Schwert: Etwa der Trennung von Einkommen und Arbeit. (Andere Probleme sind da natürlich vorprogrammiert.)

Ipsissimus
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Di 21. Dez 2010, 11:53 - Beitrag #13

ich bin ganz sicher kein Lafontaine-Fan, aber mit HartzIV hat er nun wirklich nichts zu tun. Am 22. Februar 2002 wurde die Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt mit dem Vorsitzenden Peter Hartz eingesetzt, auf deren Vorschläge die entsprechende Gesetzgebung zurück geht; Lafontaine war kein Mitglied dieser Kommission. Richtig ist, dass er in seiner Zeit als Ministerpräsident eine andere, sozial deutlich unfreundlichere Position bezogen hat, aber ich denke, von dieser und anderen unethischen Positionen hat er sich durch seinen Rücktritt als Finanzminister energisch losgesagt. In "Das Herz schlägt links" wird auch deutlich, dass er manches nur aus Parteiloyalität öffentlich vertreten hat. Das spricht ihn bei weitem nicht frei, aber es entlastet ihn in meinen Augen ein bisschen.

der springende Punkt bei der alten Sozialhilfe war, dass es keine Pauschalhilfe war. Es gab zusätzlich zum Grundbetrag weitere bedarfsorientierte Unterstützung, Kleidergeld, Geld für Kinderwagen, Schulbücher-Geld, Wohnungserstausstattung (sic!) uvm.

Und das Wort von der "Eigenverantwortung" kannst du m.E. knicken. Erstens reduziert sich "Verantwortung" an dieser Stelle nach wie vor auf die Frage "Wer zahlt?" und zweitens, wie gerade der Billigstlohn-Arbeitsmarkt zeigt, zielt es auf Erpressbarkeit. solange nicht in ausreichender Zahl ausreichend bezahlte Arbeitsplätze bereit gestellt werden. Den Arbeits"markt" Marktgesetzmäßigkeiten zu überlassen ist ein Verbrechen.

Maglor
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Di 21. Dez 2010, 23:53 - Beitrag #14

Es gibt die völlig unrealistische Vorstellung des Gesetzgebers, Hartz-IV-Empfänger könne von seinem monatlichen Satz Geld für Anschaffungen wie Kleidung, Kinderwagen, Möbel ... zurücklegen, sprich sich größere Anschaffungen vom Munde absparen.

Ipsissimus
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Fr 28. Jan 2011, 17:09 - Beitrag #15

Hartz IV und Schwangerschaft

hat zwar nicht direkt was mit der Reform zu tun, ich wollte aber keinen neuen Thread dazu eröffnen

http://sueddeutsche.de/karriere/jobcenter-zwingen-zur-arbeit-schwanger-kein-grund-zu-hause-zu-bleiben-1.1052206

Marina Pialek ist kein Mensch, der sich vor der Arbeit drücken will. Als sie nach ihrer Ausbildung zur Köchin arbeitslos wurde, war sie mit dem Angebot des Jobcenters sofort einverstanden. Pialek sollte in einer Passauer Großküche arbeiten - für 1,50 Euro in der Stunde. Ein sogenannter Ein-Euro-Job, wie er Hartz-IV-Empfängern häufig angeboten wird. Doch dann wurde die 21-Jährige schwanger, und damit begann eine Odyssee durch den deutschen Sozialstaat, die damit endete, dass sie vom Jobcenter keinen Cent mehr zum Leben bekam.
auch wenn das nur ein weiteres Symptom sein mag, das ganze System befindet sich in einer Schieflage.

janw
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Fr 28. Jan 2011, 18:09 - Beitrag #16

Das ist wahr.

Allerdings ist es natürlich eine Sache, die Krankmeldung erst nach 14 Tagen zum Amt zu schicken - natürlich vorbehaltlich, sie wäre dazu in der Lage gewesen.
Andererseits, ein guter Frauenarzt hätte das vielleicht auch übernommen, Krankmeldung in Umschlag und 55 ct drauf.
Worauf ich hinaus will ist, daß es offensichtlich ein Gefälle der Fähigkeit gibt, mit Ämtern "kreativ" umzugehen bzw. aktiv mit ihren Anforderungen umzugehen, das zusätzlich zur materiell prekären Situation erschwerend wirkt - und das wiederum von den Behörden ausgenützt? nicht erkannt? wird.
Führungskräfte in die Produktion!^^ Nur Personal mit einschlägiger Lebenserfahrung in Entscheiderpositionen!^^

Natürlich ein Fall von Bösartigkeit, erschwert dadurch, daß wieder einmal keine zentrale Organisation aus dem System sich der Sache annimmt - wo bleiben die Sozialdemokraten, die echten^^ Liberalen, die echten Linken, die ernsthaften Verteter von Grundwerten?
Deutsche dekadente Republik^^

009
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Sa 29. Jan 2011, 01:35 - Beitrag #17

Örks. Da haben einige Paragrafenreiter mal wieder die manchmal wichtigste Regel mißachtet: keine Regal ohne Ausnahmen.
Ich kann in solchen Fällen kaum ermessen, wie wenig von dem zur Verfügung stehenden Ermessen eingesetzt wird, um solche Fälle sinnvoll nach dem Gestaltungswillen und nicht in beschränkter Würdigung der Gesamtsituation strikt nach Wortlaut der Gesetze zu entscheiden.
Mir deucht leider auch manchmal, die Bestechungsprophylaxe habe derart durchschlagende Wirkungen erzielt, dass mancher Staatsdiener wirklich rein gar nichts irgendwie wertvolles mehr annimmt. Bedauerlicherweise subsumieren manche auch Vernunft bei der Ausübung der Amtsgeschäfte in diese Kategorie.


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