Aufarbeitung der NS-Zeit - Im Extrem schädlich?

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Do 2. Feb 2012, 15:08 - Beitrag #21

Gnade ja, und Gnade ist per definitionem unverdient. Allerdings unterscheidet sie (und damit auch uns) nur graduell von anderen Völkern - weder Kollektivschuld noch deren Fortschreibung ins siebte Glied sind 'gerechter' und 'verdienter' als die genannte Gnade.

Und zu Dankbarkeit kann man nicht verpflichten. Ja, ich bin dankbar für die freiheitliche Neuordnung und die Möglichkeit, sich in einer friedlicheren, besseren Welt als Nation und innerhalb supranationaler Organisationen neu zu bewähren - aber müßte ich das sein und würde man mich stets zu den entsprechenden Dankes- und Ergebenheitsbekundungen auffordern, würde ich es zu hassen lernen.

Der Morgenthauplan ist mir bekannt - und die Nachkriegsverwaltung vor dem Marshallplan war deutlich daran angelehnt, was die Wirtschaftsentwicklung angeht. Was im Osten vor sich ging, war allerdings deutlich nachhaltiger destruktiv, wie du wohl weißt.

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Do 2. Feb 2012, 15:13 - Beitrag #22

weder Kollektivschuld noch deren Fortschreibung ins siebte Glied sind 'gerechter' und 'verdienter' als die genannte Gnade.
es geht doch primär nicht um uns heutige. Es geht um die, die den Krieg ermöglicht haben, weil sie ihn mitgemacht haben.

Und zu Dankbarkeit kann man nicht verpflichten.
auch klar. Die Frage ist nur, ob die Opfer es dann nicht wenigstens verdient hätten, vor unserer heutigen, wieder um sich greifenden Großmannssucht geschützt zu werden, die das alles nicht mehr wahrhaben will, oder mindestens nicht mehr so scharf wahrhaben will, wie das Eingangsposting zeigt

Maglor
Karteizombie
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4280
Registriert: 25.12.2001
Do 2. Feb 2012, 20:35 - Beitrag #23

Ausgebombte Städte wurden nie im gleichen Maße gewürdigt wie konventionell ausgelöschte Dörfer.
Das trifft übrigens auch die deutschen Kriegsverbrechen. Gelegentlich wird sogar noch ein romantisches Bild über die "Luftschlacht über England", dem stehen die im Spiegel veröffentlichen Funknachrichten von Piloten natürlich entgegen. In Weißrussland und anderswo wurde ganze Dörfer von deutschen Truppen im Rahmen von Vergeltungsmaßnahmen restlos vernichtet. Dass die Luftwaffe weitaus mehr Zivilisten auf dem Gewissen hat und ganze Stadtteile vernichtete, bleibt weitgehend unbeachtet, wahrscheinlich weil dies die im 20. Jahrhundert übliche Art der Kriegsführung war und eine Haager Luftkriegsordnung nach wie vor unbekannt ist.

Da ohnehin schon der Punkt erreicht ist, an dem eine weitere Aufarbeitung der NS-Zeit schädlich ist, mache ich einfach mal weiter.
Die "7. SS-Freiwilligen-Division Prinz Eugen" ist für zahlreiche Kriegsverbrechen grausamster Art verantwortlich. Nur in Ausnahmefällen war die Soldaten wirklich freiwillig in der SS. Es handelte sich mehrheitlich um sogenannte "Volksdeutsche" aus Osteuropa, die regulär zur Waffen-SS eingezogen wurden oder gar um rekrutierte Kriegsgefangene, die allein aufgrund des Seitenwechsels der Lagerhaft entgingen.

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Fr 3. Feb 2012, 02:15 - Beitrag #24

Lykurg, ich weiß ja, wie Du es meinst, ich weiß, daß Du nichts rechtfertigen willst.
Klar, auch auf alliierter Seite ist nicht alles so gelaufen, wie es rechtlich hätte laufen sollen.
Für mich besteht aber ein Unterschied in der Bewertung der Fehlleistungen dergestalt, daß das Handeln der deutschen Truppen durchgehend Bestandteil und Mittel eines Angriffskrieges war, das Handeln der alliierten Truppen auf die Beendigung des Krieges abzielte.
Sicher kann man fragen, ob die auf maximale Zerstörung angelegte Bombenmixtur z.B. in Hamburg notwendig oder "angemessen" war, oder ob die angerichtete totale Zerstörung nicht vielleicht sogar durch eine Vergrößerung des Durchhaltewillens Aufstände in der Bevölkerung verhinderte. Die Westalliierten hatten aber von Stalin den Druck, ihrerseits eine Front aufzubauen, und sie standen selbst unter dem Eindruck der Bombardierungen Coventrys und Londons, und das bestimmte ihr Vorgehen.

Für die Endphase halte ich es aber für möglich, daß die Zivilbevölkerung aufgrund ihrer Einbindung in den "Volkssturm" und der Verschanzung von Truppen in Siedlungsbereichen teilweise mit ins Feindspektrum rückte. Die deutsche Bevölkerung wurde nicht in der Opferrolle quasi als Geisel einer Diktatur, sondern auch als Mitwirkende gesehen - die Bürger hätten ja zumindest in der Endphase gegen die Blockwarte aufstehen und den Volkssturm verweigern können.
Daß dann gerade die getroffen wurden, die wirklich zu den Geschlagenen zählten, Frauen und Kinder oder die Flüchtlinge in Dresden nur als Beispiel, ist furchtbar tragisch.

Hildesheim und Würzburg erscheinen heute als sinnlose Zerstörungen. War das damals für die Alliierten auch so zu sehen? Ich könnte mir vorstellen, daß es im März für die Alliierten noch nicht so ganz klar war, daß sie zwei Monate später am Ziel sein würden. Hätten die Städte nicht als Rückzugsgebiete für Naziverbände getaugt?
Ich will nichts rechtfertigen, suche keine Entschuldigungen, zweifle nur etwas an der durchgehenden Vermutung a priorisch "sinnloser" Zerstörung.

Die Geschichte des Warschauer Aufstandes ist in wikipedia recht ausführlich dargestellt. Mir erscheint die These, daß die Russen den Polen einen Alleingang ermöglichen wollten, plausibel und daß damit ein Zeitfenster zum eingreifen verpasst wurde, als tragische Begleiterscheinung, vielleicht Folge einer Fehleinschätzung.

Stimmt, es gab Forderungen, Anlagen in Auschwitz und Wege dorthin zu bombardieren.
Ich denke wie Ipsi, daß die Alliierten keine angemessene Vorstellung davon hatten, was dort vor sich ging, eine tragische Fehleinschätzung. Andererseits bin ich nicht so sicher, was wirklich hätte erreicht werden können.
Man hätte die Gleise wieder aufgebaut oder die Menschen unterwegs anderweitig ermordet. Ich weiß auch nicht, wie weit präzise Angriffe auf die Gaskammern möglich gewesen wären, ob diese Angriffe nicht selbst massive Verluste bewirkt hätten.
Jedenfalls würde ich hier keine Absicht der Alliierten sehen.

Padreic
Lebende Legende
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4485
Registriert: 11.02.2001
Fr 3. Feb 2012, 11:22 - Beitrag #25

Denkbar auch, dass den meisten Alliierten die Juden nicht so wichtig gewesen sind. Antisemitismus war weit verbreitet, in der Sowjetunion beispielsweise sogar noch bis zur Auflösung.

Terror in Form von Bombardements gegen Zivilbevölkerung ist natürlich ein beliebtes Mittel zum "Weichmachen" des Feindes (wie auch von den USA gegen Japan (erfolgreich) und später gegen Nordkorea). In dem konkreten Fall hat es wohl einfach nichts gebracht. Während manche Aktionen klar als Racheaktionen zu sehen sind (wie beispielsweise die Lübecker Altstadt als Vergeltung von Coventry), hat die RAF vermutlich schon irgendeinen kleinen militärischen Sinn in den Bombardements gesehen - deutsche Verluste unter der Zivilbevölkerung wurden dann als aus genannten Gründen als nicht weiter schlimm gesehen. Notwendig waren diese Bombardements natürlich aber keineswegs.

Coventry wurde vielleicht als Trauma erlebt, taugt aber, denke ich, eigentlich schlecht, um das Vorgehen der deutschen Luftwaffe als besonders verwerflich darzustellen: das Ziel dieser Angriffe war ja keinesfalls der Terror gegen Zivilbevölkerung (wie es später in London war), sondern Industrieanlagen, die nunmal in die Altstadt eingebettet waren - sicherlich kein Musterbild an Kriegsführung, aber doch auf einem deutlich anderen Level als Luftangriffe mit dem einzigen Ziel, Zivilbevölkerung zu töten.

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Fr 3. Feb 2012, 11:57 - Beitrag #26

Ich erinnere mich, die Luftangriffe mit meinem Vater diskutiert zu haben, und er vermittelte mir Coventry sehr glaubwürdig als auslösendes traumatisches Moment, da spielte wohl auch hinein "warum tun die uns so etwas an, was haben wir denen getan, daß sie uns so etwas antun müssen?"

Zur Wahrnehmung von Notwendigkeit mag beigetragen haben, daß Zivilbevölkerung damals noch mehr als heute als Voraussetzung für das Funktionieren der Industrie gesehen wurde, erwische die Arbeiter, und es können keine Maschinen mehr gebaut und keine Schiffe mehr be- und entladen werden, es war viel mehr Handarbeit im Spiel, wo heute Maschinen werken.
Von der Durchdringung von Wohngebieten mit Handwerksbetrieben und Kleinindustrien nicht zu reden.

Vorherige

Zurück zu Politik & Geschichte

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 14 Gäste