@Ipsi:
wir befinden uns an dieser Stelle ernsthaft im Dissens, Padreic. Das ist von mir nicht als rhetorischer Trick, sondern ernst gemeint. Möglicherweise ist es ein Wahrnehmungsproblem, und wir schauen einfach an unterschiedliche Stellen, du schaust vielleicht eher darauf, was H4 den Staat kostet, ich schaue eher darauf, was es die Menschen kostet, die von H4 leben müssen, und was es ihnen in Relation zu diesen Kosten bringt.
Nein, ich schaue dabei nicht auf die Kosten für den Staat. Vielleicht benutzen wir die Begriffe nur anders. Für mich heißt "bloßer Anstrich", dass es keinen wesentlichen Unterschied machen würde, wenn es kein Hartz4, sondern stattdessen keine Sozialleistungen gäbe. Für mich ist das "Notwendigste" im wesentlichen das zum Überleben notwendige: Eine beheizbare Wohnung mit Kochmöglichkeit (mindestens 5-10qm pro Person), Lebensmittel (entweder aus öffentlichen Küchen oder Supermarkt), Kleidung aus Second-Hand-Läden/Kleidungsspenden; so etwas. Was verstehst du unter den Begriffen 'bloßer Anstrich' und 'das Notwendigste'?
Und wodurch ist das ursächlich bedingt? Dieses Phänomen tritt erst auf, seit der Arbeitsmarkt durch die Gründung der Europäischen Gemeinschaft massiv unter Druck geraten ist und im Prinzip gar keine Absicht mehr besteht, diese Leute in angemessenen - also angemessen entlohnten - Arbeitsverhältnissen unterzubringen. Das ist etwas, das ich als Zynismus der falschen Art empfinde, erst macht man es den Leuten unmöglich, zu arbeiten oder von ihrer Arbeit zu leben, und dann schiebt man ihnen die persönliche Verantwortung für absehbare Folgen eines Systemumbaus zu, der gegen den Willen Vieler von völlig abgehobenen Ebenen von Entscheidungsträgern auf Druck einiger weniger Global Player - die jetzt den Rahm abschöpfen - überhaupt erst begonnen wurde.
Mir geht es sicherlich nicht darum, Arbeitslosen Schuld zuzuschieben. Deine Erklärungen für die Höhe der Arbeitslosigkeit finde ich aber doch sehr vereinfachend, wohl auch etwas verzerrend.
Erstens: Ich verstehe nicht, wie Globalisierung Arbeitsplätze vernichtet - sie verlagert sie nur. Wie die europäische Gemeinschaft innerhalb von Europa Arbeitsplätze vernichtet hat, ist mir deshalb schleierhaft.
Zweitens: Ich glaube nicht, dass heute weniger Leute für angemessenen Lohn beschäftigt werden in (West-)deutschland als, sagen wir mal, in den 60ern. Selbst wenn man alle Schönfärberei und Inflation rausfiltert, ist erstens das Lohnniveau seitdem gestiegen und zweitens gibt es mehr Erwerbstätige, z. B.
hier nachzulesen, was, schätze ich, nicht allein durch höhere Beschäftigtenzahlen im Niedriglohnbereich zu erklären ist. Ein Grund, warum es trotzdem höhere Erwerbslosenzahlen gibt, ist sicherlich die veränderte Sozialstruktur: Durch mehr Single-Haushalte, ist das klassische "Mann arbeitet, Frau bleibt zu Hause" häufig gar nicht mehr möglich, selbst wenn es gewünscht wäre. Hinzu kommen noch andere Faktoren, wie z. B. dass durch Waschmaschine und co heutzutage ein Haushalt kein Fulltime-Job mehr sein braucht. Eine Illustration zum damalig niedrigeren Lohnniveau mag sein, dass es früher nicht unüblich war, neben seinen Beruf noch ein wenig Vieh (häufig Kaninchen oder Ziege, manchmal sogar ein Schwein) zu halten, um über die Runden zu kommen; dass Pflanzen und Fallobst vom Straßenrand aufgelesen wurde, um sich und das Vieh auch zu ernähren; dass Dorfschullehrer dafür bekannt waren, bei Festmahlen unglaublich zu fressen, weil sie sonst nicht viel bekamen.
Drittens: Viele Jobs in Industrie und Landwirtschaft wurden durch Maschinen ersetzt. Das ist kein bewusster Systemumbau von abgehobenen Eliten, das ist eine Kombination von technologischem Fortschritt und Kosten-Nutzen-Kalkulationen. 1960 arbeiteten fast 18 Millionen Leute in der Landwirtschaft - wären es heute noch genauso viele, hätten wir wohl keine Sorgen um Arbeitslosigkeit. Wohl aber um die Lebensmittelpreise, die sicherlich ein Vielfaches wären. [wenn man den Fleischpreis gegen Durchschnittslohn aufgeträgt, hat man heute vielleicht ein Viertel des Fleischpreises von 1960]
Viertens: Erst jetzt würde ich die Globalisierung auflisten, die Arbeitsplätze aus unseren Gefilden bis nach China verlagert hat. Ohne müssten wir aber natürlich auch auf exotische Früchte, 5-Euro-T-Shirts und ziemlich viel von unserer Elektronik verzichten...
sprich einfach mal mit realen H4-Empfängern und verlass dich weniger auf die offiziellen Verlautbarungen der Arbeitsagentur. In der PR ist alles golden. Es geht bei weitem nicht nur um das allgemeine Gefühl, abgehängt worden zu sein, sondern um konkrete Demütigungen zuhauf, die so zahlreich sind, dass es sich nicht mehr um individuelle Fehlleistungen einzelner SachbearbeiterInnen handelt.
Ich denke, ich spreche häufiger mit Hartz4-Empfängern als dass ich offizielle Verlautbarungen der Arbeitsagentur lese. Die wenigen Hartz4-Empfänger, die ich kenne, scheinen im Großen und Ganzen ganz zufrieden mit ihren Sachbearbeitern zu sein. Vermutlich haben sie Glück. Wie repräsentativ deine Erkundigungen/Erfahrungen sind, kann ich nicht beurteilen. Ich glaube aber gerne, dass es da im Umgang viele Erfahrungen gibt, die als demütigend empfunden werden. Wie demütigend eine Erfahrung ist, hängt aber natürlich auch nicht nur vom Sachbearbeiter ab.
Auch diesbezüglich befinden wir uns im Dissens. Diese Millionen werden gezahlt, das ist Fakt, aber "wert sein"? Wenn die Arbeit einer ungelernten Aldi-Mitarbeiterin 500 Euro im Monat wert ist, dann ist keines Menschen Arbeit mehr als 3500 Euro im Monat wert.
Was 'wert sein' heißt, dürfte hier der Streitpunkt sein. [abgesehen davon, dass 500 Euro Teilzeit ist, oder?] Bewertet man den Einsatz, sehe ich selbst einen Faktor von 7 gegenüber einer Aldi-Verkäuferin/einem Aldi-Verkäufer (bei gleicher Arbeitszeit) kaum gerechtfertigt - im Aldi arbeiten scheint eine stressige Sache zu sein. Auch jeder Mensch ist das gleiche wert. Das ist ein berechtigter Standpunkt.
Es gibt aber durchaus andere Standpunkte, um den Wert von Arbeit zu bestimmen: Was hätte es für einen Unterschied gemacht, wenn diese Arbeit nicht oder, sagen wir einmal besser, von "jemand durchschnittlichem" geleistet worden wäre? Bei Hitler und Stalin können wir uns da, wenn man den quantifizieren will, gern im negativen mehrstelligen Milliardenbereich bewegen... bei vielen anderen aber auch deutlich im positiven Bereich.
Lister, Pasteur und Fleming kann man beispielsweise im medizinischen Bereich nennen - sie haben einen Unterschied gemacht. Bei aller Wertschätzung muss man sagen, dass, wenn eine konkrete Aldi-Verkäuferin ihren Job nicht machen würde, man eben jemand anders finden würde, der den Job macht. Bei den genannten wäre es wohl nicht so und es hätte einen erheblichen Unterschied gemacht, hätte es einen von denen nicht gegeben. Unter diesem Standpunkt ist ihre Arbeit durchaus Millionen (oder auch Milliarden) wert gewesen.
Das war auf der Erfinder-/Forscherseite. Aber auch ein guter Organisator (beispielsweise eine Politiker, Manager oder Baustellenleiter) kann einen Unterschied machen, der weitaus stärker wirkt, als ob ein Arbeiter jetzt arbeitet oder nicht.
Man kann sagen, dass das eine Unterscheidung zwischen intrinsischem und extrinischem Wert ist - jeder der Standpunkte hat sicherlich seine Berechtigung.
Unter Einsatz illegaler Methoden vielleicht. Oder bei extremem Glück. Im Normalfall: Nein.
Im Normalfall nicht, natürlich. Im Normalfall hat man weniger Talent noch Willenskraft genug dafür. Bei genügendem Talent und genügender Willenskraft ist der Mangel an finanziellen Mitteln jedoch nur ein kleiner Hemmschuh. Möglicher Lebenslauf: Schule mit guten Noten abgeschlossen, Studium mit guten Noten abgeschlossen (mit Stipendium oder Bafög), rein in Unternehmensberatung oder Finanzbranche - diesen Anfang vorausgesetzt dürften sich Gelegenheiten für die Million bieten.
Wenn ich meinen eigenen Werdegang analysiere, der die ersten beiden Punkte, wenn auch nicht den dritten, beinhaltet, so waren die finanziellen Mittel meiner Eltern dabei nie das entscheidende. Gewiss, sie haben manches einfacher oder angenehmer gemacht; ohne entsprechende Finanzen hätte ich beispielsweise wohl nie das Klavierspiel erlernt, was schade wäre. Aber ich sehe keinen Punkt, wo die Finanzen entscheidend gewesen wären.
Was vielmehr Hemmschuhe sind, sind viele Sachen, die mit Armut häufig einhergehen. Eltern haben keine akademische Ausbildung, legen vielleicht auch keinen großen Wert auf Bildung. Eltern haben kein Auftreten, das hilft, das Kind aus Schwierigkeiten rauszubringen [Edit: Das bringt mit sich, dass man selbst häufig dann auch nicht das Auftreten, die "Manieren", das Small-Talk-Wissen hat, das einem soziale Ereignisse in der "höheren Gesellschaft" einfacher macht. Ein Bekannter von mir aus einer Arbeiterfamilie, der dementsprechend kein Instrument spielt, hat sich mal von einem Professor anhören müssen, dass seinem Kind kein Instrument beizubringen ja das größte Verbrechen von Eltern an ihren Kindern sei...]. Schwierige familiäre Situationen. Aufwachsen in sozialen Brennpunkten mit schlechten Schulen und Freundeskreisen, wo Bildung uncool ist.
Das alles sind Hindernisse, selbst hohe Intelligenz vorausgesetzt. Spätestens ohne diese muss das Kind mittelloser oder zumindest armer Eltern wirklich auf illegale Geschäfte oder großes Glück zurückgreifen. Der dumme Arzt- oder Unternehmerssohn kann noch Arzt oder Unternehmer werden; das dumme Arbeiterkind nicht.
Ich bleibe aber dabei: Selbst heute noch (und natürlich noch viel mehr ein paar Jahrzehnte früher) ist ein sozialer Aufstieg, Talent vorausgesetzt, möglich und praktikabel.
Und weil die Rahmenbedingungen so gebaut wurden, dass vieles nicht sauber belegbar ist, müssen wir dulden, dass die Dinge so sind, wie sie nicht sein dürfen? Oder anders, strukturelle Gewalt ist okay, solange sie nicht in einem mathematischem Sinne bewiesen werden kann? Auch da liegen wir im Dissens.
Nein. Außer bei dir lautet die Antwort auf diese Fragen 'ja'. Aber auch dir dürften die Schwierigkeiten einer Aussage wie "Ich habe weder persönliche Erfahrung noch Belege dafür, dass es so abläuft - aber dass es so abläuft ist eine Schweinerei." klar sein.
Und was die Bauernlobby angeht, das ist so ähnlich wie die Friseurgewerkschaft, deren Mitglieder größtenteils aus den Arbeitgebern besteht. Im Bauernverband haben Gutsbesitzer und andere Großbauern das Sagen, und die haben ihren Einfluss zugunsten ihrer eigenen sozialen Schicht benutzt, und nicht zum Nutzen der normalen Bauernhöfe. Der strukturelle Wandel spricht diesbezüglich eine eindeutige Sprache.
Zu den Großbauern ein paar Zahlen: In Westdeutschland (wo Familienbetriebe nicht zugunsten von Großbetrieben staatlich zerschlagen (oder vielmehr fusioniert) wurden) sind 57% der Angestellten in der Landwirtschaft Familienangehörige; 12% sind ständig Angstellte; 31% sind Saisonarbeitskräfte. Gewiss, die Anzahl der Familienbetriebe ist rückläufig. Das aber unter anderem weil viele junge Leute einfach nicht den Hof erben, sondern ihre eigenen Wege (mit Dingen wie Urlaub) gehen wollen. Nochmal mit anderen Zahlen: Wir haben 374.500 landwirtschaftliche Betriebe in Deutschland, bewirtschaftet von 1,25 Millionen Leuten (viele davon nur saison- oder teilzeitbeschäftigt), entsprechend 530.000 Vollzeitarbeitsplätzen. Der Trend mag zum Großbetrieb sein, die Realität sieht doch vielmehr eine große Zahl von Klein- und Familienbetrieben.