@Ipsissimus (zu Strang 1):
der Islam bietet zweifelsohne für Muslime den generellen Deutungshintergrund, darin eingeschlossen als Teilgruppe auch gewaltbereite Muslime. Darin unterscheiden sich gewaltbereite Muslime in nichts von allen anderen Muslimen, die ihren Glauben ernst nehmen.
Völlig korrekt. Aber zu einem echten "-ismus" im starken Sinne wird eine Weltanschauung für mich erst, wenn sie den "generellen Deutungshintergrund" bei weitem überschreitet. Wenn sie zum alleinigen internen wie externen Maßstab wird Konkurrenzideologien nichtmal mehr als solche wahrgenommen werden, sondern nur noch als grundfalsche Irrung. (Sogesehen leben wir selbst natürlich auch in einem Demokratismus. Ich dachte auch, ich hätte vor Jahren mal einen "Demokratie als Totalitarismus"-Thread eröffnet, finde ihn aber leider nicht.) Und wenn man (zumindest potentiell) bereit ist, dieser überhöhten Ideologie alles und jeden zu opfern.
Um heraus zu finden, ob es tatsächlich eine Menge von Ideologien gibt, die zusammen die Ideologie des Islamismus bilden, halte ich es daher für unerlässlich, zwischen proklamierten und tatsächlichen Ursachen dieser Gewaltbereitschaft zu unterscheiden. Wir sind uns vielleicht einig, dass Religion ein besonders einfach zu bedienendes Motivations-Werkzeug darstellt; andererseits sei darauf verwiesen, dass sich die überwiegende Mehrheit der gewalttätigen Aktionen muslimischer Provenienz zwischen Muslimen abspielt.
Ja, da sind wir uns einig. Bei der Gewalt gegen andere Muslime ist für mich schwer zu überblicken, wieviel davon immer noch religiös motiviert ist (echt oder vorgeschoben), weil es sich um verschiedene Richtungen handelt. Im Irak den meisten Berichten nach ein großer Anteil, in Syrien spielt es sicher auch mit rein, aber wie gesagt, ich kenne mich zu wenig mit diesen Richtungen an sich aus. Und abgesehen davon hat ja niemand behauptet (oder doch? Manchen Medien muss man ja alles zutrauen...
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), dass jede einzelne Gewalttat von Muslimen immer eine islamistische sei.
Natürlich gab es solitäre Ereignisse in unseren Homelands, aber abgesehen von unserer natürlichen Betroffenheit darüber, dass diese Ereignisse bei uns geschehen konnten, spielen sie statistisch praktisch keine Rolle. Die Zahl der Toten von 9/11 wird im Irak in einem Quartal, in Afghanistan in einem Monat erreicht, und das geht schon seit vielen Jahren so. Überall kämpfen Sunniten gegen Schiiten und beide gegen Alewiten. Bei gewalttätigen Protesten richtet sich der Zorn oft gegen ausländische Botschaften, die Masse der Gewalt bekommen aber Angehörige der protestierenden Nationen meist selbst zu tragen.
Ok, gleiches Thema wie gerade. Vermutlich ist es einer der gefährlichen Aspekte des Begriffes "Islamismus", und einer, gegen den du hier besonders angehen willst, dass er eine innere Homogenität suggeriert. Das täte "Christianismus" genauso, aber auch etablierte Begriffe wie "Kommunismus" oder "Faschismus". Soetwas sind immer Kurzformeln. Natürlich muss man unterscheiden in "schiitischen Islamismus" und "sunnitischen Islamismus", weiter nach Unterschulen und Regionen, usw. Könnte die genauso "Schiitismus" und "Sunnismus" nennen, oder "Prediger-X-ismus" und "Prediger-Y-ismus", analog zu "Stalinismus" und "Maoismus". Dass das nicht geschieht, hat wohl weniger mit aktiv unterstellter Homogenität zu tun als mit Unwissendheit über die konkreten Unterschiede.
Es ist ein Zerrbild, das in unseren Medien entworfen wird. Auf einen unserer Toten kommen hundert von deren Toten, aber in unseren Medien werden unsere Tote überlebensgroß und deren Tote als Zahl dargestellt, Ausnahmen zugestanden.
Völlig korrekt und sehr bedauerlich, aber eine Frage, die mit der nach der politischen Terminologie sehr wenig zu tun hat. Genauso verhält es sich ja auch bei Verkehrs- oder Naturkatastrophen im kleinen Maßstab hierzulande oder im gigantischen anderswo.
Daher empfinde ich den Islamismus, so es ihn den überhaupt gibt, als größtenteils innerislamisches Problem. Tatsächlich glaube ich, dass unsere mediale Proklamation des "Islamismus" die "normalen" Probleme zwischen Sunniten, Schiiten und Alewiten in einer intentionalen Weise auf die Situation zwischen uns und dem arabisch/persischen Kulturkreis verallgemeinert.
Durchaus ein guter Punkt. Auch wenn es Gerede vom "Weltkalifat" gibt und gelegentliche Anschläge bis in unseren Kulturkreis hinein, so hat "der Islamismus" bisher doch deutlich weniger interkontinentales Expansionsbestreben gezeigt als "der Kommunismus", das "Weltkalifat" ist deutlich abstrakter als die "Weltrevolution". Abseits der kurzfristigen Hysterie nach jedem Anschlag denke ich, dass sich die Antihaltung vor allem aus zwei Quellen speist: Furcht vor einer Militarisierung der nicht gerade vernachlässigbar vielen "bei uns" lebenden Muslime, und "enlightened man's burden"-Verantwortungsgefühl für die Muslime und Nicht-Muslime in den muslimischen Ländern (s.u.).
Was ist die Absicht hinter dieser propagandistischen Verallgemeinerung? Ganz einfach, die Verschleierung eines Wirtschafts- und Ressourcenkriegs zwischen Westen und arabisch/persischem Kulturkreis (eine Feststellung, für deren öffentliche Nennung übrigens ein Bundespräsident den Hut nehmen musste).
Nein, das ist sicher nicht
die Absicht, sondern neben den 2-3 moralisch vielleicht fragwürdigen, aber an sich legitimen und direkten, mithin nicht verschleiernden, Gründen vom vorigen Absatz nur
eine der hinterhältigen politischen Absichten. Direktes Machtstreben, persönliche Eitelkeiten, klassisches Stabilisieren des Inneren durch äußere Konfrontation (meines Erachtens fast der Hauptgrund, Islamismus als Nachfolger des Kommunismus als "der Feind"), ideologische Gründe... da kommt viel zusammen.
Religiöse Motivierung ist nämlich nicht nur im Islam ein gängiges Mittel. Auch bei uns "verstehen" viele Menschen instinktiv, warum andere Menschen bereit sind, aus religiösen Gründen Krieg zu führen; selbst wenn die Religion damit nicht das geringste zu tun hat.
Selbst religiös motiviert zu sein einerseits und religiöse Motivation anzunehmen (zu Recht oder fälschlich) andererseits, sind aber zwei völlig verschiedene Dinge. Um islamische Gewalt als Islamismus zu bezeichnen, muss man nicht Christianist sein, man kann auch Atheist sein.
Der Rest? Unzählige Unsäglichkeiten, Aktionen auf beiden Seiten, bei denen man sich die Haare raufen könnte ob ihrer Blödigkeit. Israelische Siedlungspolitik, amerikanische Drohnen, Sprengstoff-Attentäter - ein Irrenhaus aus Motiven, Absichten, Illusionen, Zorn, Trauer und kaltem Kalkül der immer und überall unvermeidbaren Kriegsgewinnler. Das bei uns ganz genau so ablaufen würde, wenn unsere Gegner mächtiger wären als wir.
Wenn wirklich eine Seite so viel mächtiger wäre, oder die nominell so viel mächtigere Seite besser (oder hemmungsloser?) ihre Macht einzusetzen wüsste, sähe der Konflikt ganz anders aus... Ansonsten aber der eine Absatz, dem ich kaum widersprechen will.
AlQaida fasse ich übrigens als inner-geheimdienstliche Auseinandersetzung der CIA auf. Na ja, nicht in Gänze, aber ursprünglich und in Teilen immer noch nachweisbar.
Haariges Thema, das schon bei der Nomenklatur anfängt, und mir hier zu viel und zu spezifisch wäre.
@Maglor: Für eine Weltverschwörung ist er sowohl zu öffentlich als auch nicht weltweit genug. Da war der Kommunismus besser geeignet. Und auch in deinen Beispielen sind es doch eher die Antiislamisten, die der Verschwörung bezichtigt werden (Türkei) bzw. als solche an die Macht zurückgekehrt sind (Ägypten), während die "Islamisten" offen tätig sind.
Auf der anderen Seite gibt es das Phänomen jedoch tatsächlich, in Form eine islamischen Rück- und Neubesinnung. Bis in die 70er waren noch Sozialismus und Nationalismus die dominierenden, politischen Ideologien.
Eine seltsame Verbindung, dazu mit panarabischem Einschlag, der wohl als Grundlage für den schnellen Erfolg des Islamismus dienen konnte. Zudem beachte man die massiv gewandelte Demographie der meisten "betroffenen" Länder.