Beschneidungen aus religiösen Gründen sind strafbar

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Anaeyon
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Mi 5. Sep 2012, 22:21 - Beitrag #101

Ich kenne Frau Knoblochs Hintergrund nicht. Tschuldigung, dass ich das so schrieb, als würde ich ihr persönlich diese Aussagen in den Mund legen. Das ist wohl tatsächlich äußerst unfair ihr gegenüber. Dennoch, der Ton, den ich da raushöre ist der gleiche, den ich auch aus Äußerungen des Zentralrates und ähnlicher "Lobbyisten" höre. Und er ruft in mir genau diese Reaktion hervor: Ich fühle mich auf meine Nationalität reduziert. Wenn diese Denkweise also für Juden in Ordnung ist, dann muss ich mir - als jemand, der solche Fehler vermeidet - keine Sorgen darüber machen, ob ich genug aus der Geschichte gelernt habe.

Ich verstehe weiterhin nicht, wie man Beschneidung und Holocaust in einem Satz erwähnen kann ohne sich vollkommen lächerlich und der Holocaustrelativierung schuldig zu machen. Wer der Meinung ist, das Verbot einer Tradition wie dieser sei ein vergleichbarer Angriff auf das Judentum wie der Holocaust, der ist ja noch fundamentalkaputter als der Vatikan Bild

Lykurg
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Mi 5. Sep 2012, 23:07 - Beitrag #102

Dein Gespür liegt insofern schon richtig, als sie ehemalige Vorsitzende des Zentralrats ist.^^ Ja, sie ist eindeutig eine Lobbyistin. Trotzdem machst du es dir mit einem solchen 'Feindbild' zu leicht, da geht die Differenzierung verloren, die auch und gerade in dem Zusammenhang dringend erforderlich ist. Meines Erachtens sollte man auch dann mit Fingerspitzengefühl herangehen, wenn es auf der anderen Seite einige gibt, die das nicht tun. Es ist zu einfach, türenschlagend zu gehen, weil man sich mit subjektiv unangemessenen Forderungen konfrontiert sieht bzw. findet, daß 'die da' einen undifferenziert wahrnehmen.

Überleg dir mal, wie im innereuropäischen politischen Umgang Völker dauerhaft schlecht miteinander auskommen, weil vor ein paar Jahrhunderten der eine oder andere Krieg geführt wurde (beispielsweise Engländer und Schotten, zuletzt vor 250 Jahren) - und vergleiche das mit der zeitlichen Distanz zum Holocaust einerseits und dessen Ausmaß an Bösartigkeit andererseits. Es ist absolut nicht an der Zeit, zu erwarten, daß die Juden einfach zur Tagesordnung übergehen - ganz bestimmt nicht alle - und wir sind auch nicht diejenigen, die das 'einfordern' könnten. Ob wir genug aus der Geschichte gelernt haben, beschließen nicht wir selbst, es zeigt sich aus dem, wie wir mit anderen umgehen.

Und Beschneidungsverbot und Holocaust - ja, natürlich ist da ein riesiger Unterschied. Dieser hatte den Tod zum Ziel, jenes verhindert 'nur' die Fortexistenz als die eigenen Gebote ernstnehmende Religionsgemeinschaft. - Wir haben inzwischen rechtsstaatliche Ansprüche, und gerade in deren Namen wurde ja auch das Urteil gefällt. Es ist aber gruslig, daß hier innerhalb unserer Gesetze ein schwerwiegender Eingriff gegen jüdisches Leben in Deutschland geführt werden konnte. Hitler hätte es gefallen - man braucht nicht allzu paranoid zu sein, um sich an die entsprechenden Ausführungen in 'Mein Kampf' zu erinnern, die zur Instrumentalisierung des Rechtsstaats für die Ziele des Nationalsozialismus auffordern. Es ist nicht dasselbe, aber es funktioniert ähnlich und bewirkt Ähnliches.

Ipsissimus
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Do 6. Sep 2012, 11:33 - Beitrag #103

Was seit langem getan wird, muss in Ordnung sein.
Ana, ich glaube, diese Aussage wird der Komplexität der Sache nicht annähernd gerecht. Das Judentum war über Jahrtausende hinweg in der Situation, über kein Land, kein geografisches Zentrum zu verfügen. Trotzdem gelang es diesen Menschen, sich über die Zeiten hinweg als Einheit zu definieren und diese Einheit aufrecht zu erhalten. Die Beschneidung war in diesem Kontext sicher nur ein Werkzeug von mehreren, aber sie war das Werkzeug, das im Rahmen der Gruppendefinition konstituent wirkte und bis heute wirkt. Heute würde man vielleicht sagen, es war der weitgehend fälschungssichere Ausweis, ohne diese Analogie überstrapazieren zu wollen.

Nun ist kulturelle Identität etwas, das mittlerweile nicht mehr uneingeschränkt als Wert akzeptiert wird, wobei es mir mit diesem Hinweis nicht so sehr um interkulturelle Konflikte geht sondern eh darum, dass im Rahmen der globalisierten Vermischung von kulturellen Elementen zu einer Art Weltkultur scharfkonturierte Elemente spezifischer Kulturen zunehmend befremdlich wirken können. Einen solchen Fall sehe ich in der Beschneidung gegeben. Wir sind das nicht gewöhnt. Anything goes in mixture funktioniert nur mit leicht verdaulichen Zutaten. Das ist die Beschneidung nicht. Aber ist sie deswegen Körperverletzung?

Ziehen wir doch zur Klärung dieser Frage mal eine andere sich der Aufklärung verpflichtet fühlende Nation zu rate, vielleicht Israel^^ dieser Staat gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass es offenbar im allgemeinen keine zwangsläufige Schlussfolgerung aus den Prinzipien der Aufklärung ist, dass Religion sich den Vorstellungen nationaler Gesetzgebung zu unterwerfen habe, und im spezifischen keine zwangsläufige Schlussfolgerung, dass jeder Eingriff in die körperliche Integrität eine Körperverletzung darstelle.

Jedenfalls steht hier jahrtausende alte, gewachsene Integrität, die sich als gruppenstabilisierend und -definierend erwiesen hat, zur Debatte. Selbst ohne den Hintergrund der deutschen NS-Geschichte zu beschwören, empfiehlt sich im Umgang damit deutlich mehr Sensibilität, als in großen Teilen der öffentlichen Diskussion bisher gezeigt wird.


Wie könnt ihr es wagen, plötzlich über ethische Fragen nachzudenken, wo ihr es doch davor nicht getan habt?
das Nachdenken und das diskursive Infragestellen verbietet niemand. Denkanstöße geben, alles klar. Hier aber geht es um das Vorschreiben. Und ein richterliches Urteil wirkt sehr vorschreibend.

Ich verweise mal wieder auf den Holocaust als unerschöpfliche und ultimative Rechtfertigung ...
es mag bedauerlich wirken, aber die Differenzierung ist zumutbar^^ die Kritik, die am Staat Israel erlaubt ist, erlaubt sein muss, ist spezifisch von Deutschen gegen Juden nicht erlaubt. Aufgrund des ganzen Ausrottungsscheiß´.

Denn seien wir doch ehrlich: so freundliche Worte wie Holocaust oder Shoa benutzen wir doch nur, weil wir uns an so unfreundlichen Worten wie Judenausrottung vorbei drücken wollen^^

WIR.WOLLTEN.DIE.JUDEN.AUSROTTEN. In Deutschland, in Europa, wenn möglich weltweit. Wir haben es - sehr gegen unseren Willen - nicht geschafft. Ersetze "WIR" durch "die Generation unserer Eltern und Großeltern". Und füge hinzu: "WIR - wir heutigen, also "wir" im unmittelbaren Sinne, du und ich und unsere Verwaltungsbeamten - vollenden, was sie nicht geschafft haben." Mit einem Verwaltungsakt, triefend vor angeblicher Besorgtheit um das Wohl deren Kinder. Als wären die Juden aufgrund der Grausamkeit, die sie ihren Kindern antun, schon vor fünf Jahrtausenden ausgestorben. Wir HEUTIGEN vollenden Ausrottung, wenn es so kommt, wie gefordert.


Deine weiteren Umdeutungen des Knoblochschen zeigen überdeutlich, dass es sich um Perspektivenprobleme handelt. Deine Perspektive ist dabei nicht weniger gültig und schlüssig als die von Knobloch vertretene Variante jüdischer Perspektive. Aber das ist das Problem: beide sind gültig.

Theoretisch ist dieser Konflikt auf zwei Weisen zu lösen: Wir setzen normativ, was die einzig gültige Perspektive zu sein hat. Oder wir ertragen die Spannung, dass Perspektiven gleichermaßen gültig sein können und kein Entscheid zwischen ihnen herbei geführt werden kann. Wenn wir die normative Lösung anstreben, streben wir Totalitarismus an. Wenn wir die Koexistenz anstreben, müssen wir alle ein wenig Distanz zu unseren Überzeugungen pflegen. Ich plädiere für letzteres. Ansonsten schicken wir die in Deutschland verbliebenen Juden an den Jordan, unsere Asylbehörden haben mit dergleichen Verwaltungsakten ja Erfahrung.

wer braucht schon diese Besserwisser aus Medizin, Rechtswissenschaft und Psychologie? Juden braucht das Land, yay!
das ist so wahr, dass es weh tut. Ja! Juden braucht das Land. Hast du eine auch nur andeutungsweise Ahnung davon, welches Ausmaß kulturellen - und auch wirtschaftlichen - Reichtums Deutschland verloren ging durch die Judenausrottung? Das ist nie mehr auch nur annäherungsweise restaurierbar. Das ist Teil unserer Schande. Die wir - heutige - gerade dabei sind, fort zu schreiben.

weil die Deutschen sich langsam trauen, von Juden etwas zu fordern, was sie von Christen schon seit Ewigkeiten und teils in viel krasserer Form (siehe Titanic) fordern, nämlich eine Modernisierung ihrer Traditionen.
die Infragestellung kristlicher Traditionen wird hauptsächlich von Kristen getragen, und das ist okay so. Säkulare können in der Diskussion eine analoge Rolle spielen, wie sie das auch in der Diskussion um die Beschneidung spielen könnten, als Infragesteller, Kommentatoren und Ideengeber. Aber nicht als Vorschreiber, weder im einen wie im anderen Fall. Auch die Titanics versuchen das nicht.

Ipsi, falls du diesem Artikel zustimmst: Wie kann sich ein Volk/eine Religion das Recht nehmen, festzulegen, dass Verbrechen gegen sie auf Ewig nicht mit anderen Verbrechen vergleichbar sind?
das ist keine Frage des Judentums sondern des Staates Israel. Knoblochs Text ist eine Polemik, deswegen vereinfacht sie manche Dinge in unsachlicher Weise^^ Israel verfolgt mit dieser Festschreibung politische Absichten, die mensch teilen kann aber nicht muss. Mit Judentum hat das nichts zu tun. In einer unpolemischen Version des Knoblochschen Textes müsste dieser Punkt deutlich differenzierter ausgearbeitet sein.


Können wir akzeptieren, dass manche (!) Juden sich auf ihrem Sonderstatus ausruhen und Lektionen der Geschichte (ihrer eigenen Geschichte) völlig ignorieren, die wir hingegen größtenteils verinnerlicht haben?
aus meiner Sicht übersiehst du da etwas, Ana. Sie waren die Opfer, wir waren die Täter. Sie müssen nicht verinnerlichen, was wir zu verinnerlichen hatten, um wieder in die Weltgemeinschaft zurück kehren zu können. Und ja, ihr Opfersein gibt ihnen einen Sonderstatus. Es sei denn, wir wollen uns mit den Tätern identifizieren.

Mit unseren Kindern können wir tun, was immer uns beliebt und wir uns selbst erlauben. Aber "deutsche Juden" sind nicht eins zu ein deckungsgleich mit "Deutsche Bürger" (wie auch "deutsche Kristen", "deutsche Moslems" oder "deutsche Säkulare" nicht eins zu eins deckungsgleich sind mit "Deutsche Bürger"). Es tritt immer etwas hinzu. Und das muss respektiert werden, es sei denn, wir wollen die Grundlagen unserer Gesellschaft umdefinieren. Dieses Zusätzliche zu respektieren, die perspektivische Spannung auszuhalten, das ist eine der großen Errungenschaften der Aufklärung. Wir machen uns mit unseren Gegnern gemein, wenn wir diese Punkte aufgeben würden.

Anaeyon
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Do 6. Sep 2012, 21:00 - Beitrag #104

Danke für die Denkanstöße. In vielen Punkten hast du sicher nicht unrecht, vor allem in dem, dass es verschiedene Perspektiven gibt und man vielleicht durch eine kurze Zeit der Diskussion nicht die eine oder andere zur "richtigen" erklären kann.

Ich sehe keinen Wert in kultureller Identität. Ich sehe auch nicht ein, anderen zu gestatten, einen Wert darin zu sehen, solange sie diesen nicht logisch begründen können. Ich las jetzt mehrmals, dass das Akzeptieren unterschiedlicher Kulturen eine Errungenschaft der Aufklärung sei. Ich habe mich nicht großartig mit der Epoche der Aufklärung auseinandergesetzt. Ich ging bisher davon aus, die Aufklärung hätte eher dafür gesorgt, dass Argumenten ohne Logik weniger Akzeptanz entgegengebracht wird. Sicherlich ist Akzeptanz schonmal besser als Ausrottung, aber so wie Religion sorgt auch kulturelle Identität noch weltweit für Ungerechtigkeiten, Leid, Zwang.

Was spricht denn für kulturelle Identität, was nicht auch genauso gut durch das "sich als Mensch/Weltbürger sehen" ersetzt werden könnte? Ich glaube, ein großer Unterschied zwischen unseren Perspektiven ist, dass ich mich frage, was ansich Sinn macht und du Zeit/Geschichte mit einbeziehst. Wenn ich jetzt mal totalitär alle Kulturen "abschaffen" würde, würde ich natürlich viel zerstören, aber ob eine Welt, die es friedlich in einen Zustand schafft, in dem es keine so stark kontrastierenden Religionen, Stämme, Kulturen gibt, nicht vielleicht eine bessere wäre?

das Nachdenken und das diskursive Infragestellen verbietet niemand. Denkanstöße geben, alles klar. Hier aber geht es um das Vorschreiben. Und ein richterliches Urteil wirkt sehr vorschreibend.


Ein komplettes Verbot wäre sehr vorschreibend. Eine kleine Anpassung dieser Kultur an moderne Standards betrachte ich nicht als vorschreibend. Sich die Mühe zu machen, gerade mit jüdischen Traditionen behutsam umzugehen finde ich nicht verkehrt, dafür aber (je nach Perspektive natürlich) unsere Menschenrechte zu entwerten für fahrlässig/auf einem Auge blind.

Wir HEUTIGEN vollenden Ausrottung, wenn es so kommt, wie gefordert.

In dem ganzen Absatz widerholst du eigentlich nur genau das, was mein Post kritisierte. Du setzt die Judenausrottung und eine Anpassung eines Rechtes hin zum Schutz von Babys auf eine Ebene. Bild

Wir setzen normativ, was die einzig gültige Perspektive zu sein hat. Oder wir ertragen die Spannung, dass Perspektiven gleichermaßen gültig sein können und kein Entscheid zwischen ihnen herbei geführt werden kann.

Ich übersetze: Entweder wir stellen die Forderungen von Juden über unsere eigenen oder wir sind Nazis.

Wenn wir die Koexistenz anstreben, müssen wir alle ein wenig Distanz zu unseren Überzeugungen pflegen. Ich plädiere für letzteres.

Dito (und das fällt mir mal leicht, mal schwer, aber für die richtige Entscheidung halte ich das grundsätzlich auch)..aber..

Ansonsten schicken wir die in Deutschland verbliebenen Juden an den Jordan, unsere Asylbehörden haben mit dergleichen Verwaltungsakten ja Erfahrung.


..nicht so. Eine kleine Einschränkung einer Tradition (Fachpersonal erforderlich) bedeutet nicht, die verbleibenden Juden des Landes zu verweisen. Wenn es zu viel verlangt ist, von den Juden so etwas zu erwarten, dann stehen in deiner Welt die Juden ganz oben und weit darunter erst kommt der Rest. Kennen wir dass nicht andersrum schon?..

das ist so wahr, dass es weh tut. Ja! Juden braucht das Land. Hast du eine auch nur andeutungsweise Ahnung davon, welches Ausmaß kulturellen - und auch wirtschaftlichen - Reichtums Deutschland verloren ging durch die Judenausrottung? Das ist nie mehr auch nur annäherungsweise restaurierbar. Das ist Teil unserer Schande. Die wir - heutige - gerade dabei sind, fort zu schreiben.


Im Gegensatz zu dir beurteile ich die Qualität von Menschen nicht anhand von Worten wie "Jude" oder "wurde in Land XY geboren". Wenn ein Jude per se etwas Besseres wäre als jeder andere Mensch, dann hätte deine Aussage Sinn gemacht. Glaubst du das etwa? Töte sechs Millionen Menschen, darunter viele Künstler, Schriftsteller, Musiker, und du rottest viel kulturellen Reichtum aus. Scheiß egal zu welcher Kultur die gehörten.

aus meiner Sicht übersiehst du da etwas, Ana. Sie waren die Opfer, wir waren die Täter. Sie müssen nicht verinnerlichen, was wir zu verinnerlichen hatten, um wieder in die Weltgemeinschaft zurück kehren zu können. Und ja, ihr Opfersein gibt ihnen einen Sonderstatus. Es sei denn, wir wollen uns mit den Tätern identifizieren.


Jeder Mensch sollte aus der Geschichte der ganzen Menschheit lernen. Ein Jude muss nicht weniger lernen, dass eine diskriminierende Wertung Anhand von Rasse/Land/Kultur/Religionen immer zu Katastrophen führen wird, wie es ein Deutscher lernen muss. Ansonsten wird der nächste Genozid kommen, wo auch immer, gegen wen auch immer. Es geht mir nicht um die Frage, wer was tun muss, um wieder in die Weltgemeinschaft akzeptiert zu werden.

Mit unseren Kindern können wir tun, was immer uns beliebt und wir uns selbst erlauben.

Na anscheindend eben nicht. Anscheinend dürfen Menschen, die eine Kultur besitzen, die als schützenswerter erachtet wird als z.b. die von all jenen, die nicht Juden oder Moslems sind, mehr.

Nicht dass ich es wollte, aber was passiert, wenn mein atheistischer Kumpel meinem imaginären Sohn ein Stück seines Körpers wegschneidet? Wird da jemand "Oh was für eine tolle kulturelle Bereicherung" sagen?

Ipsissimus
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Fr 7. Sep 2012, 11:33 - Beitrag #105

Der Wert kultureller Identität ist nicht einfach durch logische Argumente gegeben. Logik ist jedermenschs Absichten Hure^^ kulturelle Identität entwickelt sich, über Jahrhunderte, manchmal Jahrtausende. Natürlich ist jede Ausprägungsstufe immer nur Durchgang zur nächsten, aber alle basieren sie auf den Entwicklungen, die sich in den Stürmen der Zeiten durchgesetzt haben. Was passiert, wenn man diesen Wachstumsaspekt ignoriert, kannst du an der ehemaligen UDSSR erkennen - kaum fällt der totalitäre Druck weg, macht es pffff und die Ideale der Revolution fallen in sich zusammen. Du könntest natürlich die französische Revolution als Gegenbeispiel anführen. Die allerdings versuchte nicht, den Leuten ihre kulturelle Identität zu nehmen und eine andere über zu stülpen. Beziehungsweise Leute wie Robespierre und die Jakobiner versuchten es doch. Wurde ziemlich häßlich.

Anders gesagt: kulturelle Identität ist sehr viel stabiler, als Zeitgeistigkeit dies für wünschenswert erachtet.

Aufklärung hatte viele Aspekt; die Entwicklung wissenschaftlicher Erklärungsweisen auf Grundlage formalisierter Logik ist nur einer davon. Im Kontext unseres Themas die wichtigste Errungenschaft der Aufklärung ist sicher die Einsicht in die grundlegende Gleichwertigkeit allen religiösen Empfindens - eine Einsicht, die nur vom säkularen Standpunkt aus formuliert werden konnte, Religiöse, die ihren Glauben ernst nehmen, sind diesbezüglich befangen - und die Überführung genau dieser Einsicht in den Corpus allgemeiner Menschenrechte führte dazu, Religionen Privilegien zu gewähren, mit denen die Duldung anderer Religionen erkauft wurde. Ob die Details in jedem Fall glücklich gelöst wurden, sei dahin gestellt. Wenn wir das Religiöse aber anders behandeln, wirst du sehen, wie weit Religionskriege von uns entfernt sind: eine Armlänge. Säkulare Staaten sind in dieser Hinsicht in der Rolle von Raubtierdompteuren - die Raubtiere mögen noch so zahm sein, sie reißen dir doch den Kopf ab, wenn du was falsch machst.

Wenn ich jetzt mal totalitär alle Kulturen "abschaffen" würde, würde ich natürlich viel zerstören, aber ob eine Welt, die es friedlich in einen Zustand schafft, in dem es keine so stark kontrastierenden Religionen, Stämme, Kulturen gibt, nicht vielleicht eine bessere wäre?
Erster Einwand, siehe das Beispiel UDSSR. Die waren nicht nur mit dem Westen sondern trotz glatt gebügelter Strukturen auch intern ziemlich verkracht. Offizielle Verlautbarungen versus Faktizität. Auch bei uns ja ein Problem. Zweiter Einwand, Menschen definieren sich über Differenzen. Differenzen wirken sich als empfundene Wertunterschiede aus. Dritter Einwand, Menschen sind kompetitive Wesen. Dein großer Diktator kann vielleicht alles kaputt machen, was die Welt lebenswert machte. Aber er wird nicht bewirken können, dass die Sehnsucht verschiedener Menschen sich in verschiedene Richtungen entwickelt. Oder vielleicht doch, mit "wissenschaftlichen Methoden". Brave new world. Wenn du in einer solchen Welt leben möchtest, in der du nur noch denken und fühlen kannst, was du fühlen darfst, deine Sache. Ich wäre lieber tot, als mich chemisch regulieren zu lassen.

Du würdest keine neue friedliche Welt erhalten. Nicht, solange du die Menschen nicht als Spezies insgesamt abschaffst. Nur eine leer gefegte Spielwiese für alte Probleme.

Eine kleine Anpassung dieser Kultur an moderne Standards betrachte ich nicht als vorschreibend
Was in diesem Kontext "klein" ist, entscheidet sich über Empfinden, eben über kulturelle Identität^^ Ansonsten d´accord, im Sinne von Ideengebung, Kommentar oder Hinterfragung halte ich Einmischung für statthaft. Nicht aber mittels Gerichtsurteilen oder Gesetzesänderungen.

dafür aber (je nach Perspektive natürlich) unsere Menschenrechte zu entwerten
Unsere Menschenrechte stehen im Kontext ja gerade dafür ein, dass Judentum seine Identität bewahren darf. Sie werden also eigentlich gestärkt, wenn sie dem Konformitätsdruck ein klares "nein" entgegen setzen.

Du setzt die Judenausrottung und eine Anpassung eines Rechtes hin zum Schutz von Babys auf eine Ebene
eigentlich versuche ich nur darauf hinzuweisen, dass die ganze Problemstellung nicht kontextlos im Raum steht. Vielleicht sieht man in der Ferne besser? Amazonas-Indianer sind zu großen Teilen brasilianische Staatsbürger. Eigentlich empörend, wenn sie sich formal völlig korrekt strukturierten Maßnahmen brasilianischer Behörden verweigern, in enteigneten Waldbereichen wohnen bleiben wollen, der Brandrodung entgegen treten, sie selbst bleiben wollen. Bezug klar? Ich kann es auch sehr viel härter formulieren. Deutschland hat sich als Kinderschänder und Mörder erwiesen. Und dieser Kinderschänder und Mörder will jetzt bestimmen, wie die Kinder der Ermordeten mit ihren Kindern umzugehen haben? Nicht wirklich, oder?

Entweder wir stellen die Forderungen von Juden über unsere eigenen oder wir sind Nazis
Die Juden fordern nichts. Sie wollen lediglich unangetastet bleiben. Und wir wollen offensichtlich antasten. Und nach wie vor: du ignorierst, dass Deutschland der Rechtsnachfolger des dritten Reichs ist. Dass wir sie töten wollten und es ums Haar geschafft hätten. Dass nicht sie sich ändern müssen. Sondern dass wir beweisen müssen, dass wir uns geändert haben. Ja, noch einige Generationen lang.

Eine kleine Einschränkung einer Tradition (Fachpersonal erforderlich) bedeutet nicht, die verbleibenden Juden des Landes zu verweisen.
Mag sein^^ Aber sie werden gehen. Aus der Sicht von Vertriebenen ist es ziemlich gleichgültig, ob sie von freundlichen Herren in Handschellen zum Abschiebeterminal gebracht werden, oder ob man ihre Lebenszustände so umschreibt, dass sie "freiwillig" gehen. Und gehen werden sie^^ Vertreibung auf formal korrekt.

Wenn es zu viel verlangt ist, von den Juden so etwas zu erwarten, dann stehen in deiner Welt die Juden ganz oben und weit darunter erst kommt der Rest.
weil wir sie töten wollten und nicht sie uns. Weil wir nicht unsere Babies vor ihnen schützen wollen - als wäre das notwendig - sondern weil wir ihnen vorschreiben wollen, wie sie mit ihren Babies umzugehen haben. Weil wir wieder mal der Aggressor sind.

Im Gegensatz zu dir beurteile ich die Qualität von Menschen nicht anhand von Worten wie "Jude" oder "wurde in Land XY geboren".
huch^^ tue ich das?

Scheiß egal zu welcher Kultur die gehörten.
Prinzipiell d´accord. Im Kontext rotteten wir aber nicht ums Haar jede x-beliebige Kultur aus sondern die der europäischen Juden, Sinti und Roma. Dein Argument lautet, geringfügig umformuliert, weil wir ja jede x-beliebige Kultur hätten ausrotten können stehen den Überresten der Kultur, die wir dann tatsächlich ausgerottet haben, keinerlei besonderes Entgegenkommen zu

Jeder Mensch sollte aus der Geschichte der ganzen Menschheit lernen.
Und du bist derjenige, der das jedem Menschen vorschreibt? Ich jedenfalls überlasse jedem Menschen, was er woraus lernt und wem er sich verweigert.

Ein Jude muss nicht weniger lernen, dass eine diskriminierende Wertung Anhand von Rasse/Land/Kultur/Religionen immer zu Katastrophen führen wird, wie es ein Deutscher lernen muss.
Für einen Israeli im Staate Israel wäre es eine zweifellos wünschenswerte Einsicht, dies zu erkennen. Ein Jude in Deutschland muss das nicht lernen, weil Juden in Deutschland im Land der Mörder ihrer Eltern leben. Es ist für dieses Land eine Ehre und ein Vertrauensvorschuss, dass die Nachfahren der Ermordeten dem Land die Chance geben, zu beweisen, dass es sich geändert hat. Im Moment kokettieren wir gerade damit, diesen Vertrauensvorschuss zu verspielen. WIR diskriminieren gerade.

was passiert, wenn mein atheistischer Kumpel meinem imaginären Sohn ein Stück seines Körpers wegschneidet?
dann wirst du deinem atheistischen Kumpel wohl entgegentreten^^ aber was hat das mit dem Judentum zu tun? Lebst du in einer Kultur, in der du nur Atheist sein kannst, wenn dir die Vorhaut weg geschnippelt wurde?

Ipsissimus
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Fr 7. Sep 2012, 13:19 - Beitrag #106


Ipsissimus
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Fr 7. Sep 2012, 14:12 - Beitrag #107

Was wir von unseren israelitischen Mitbürgern zu fordern haben, ist einfach: sie sollen Deutsche werden - unbeschadet ihres Glaubens und ihren alten heiligen Erinnerungen, die uns Allen ehrwürdig sind
weil es
um die strenge Majestät des Rechts in unseren Gesetzen
gehe. Außerdem ist
in neuster Zeit ein gefährlicher Geist der Ueberhebung in jüdischen Kreisen erwacht.
Denn schließlich:
Das, was den Juden dem Deutschen fremdartig macht, ist nicht bloß die Race, die sich in seiner äußeren Erscheinung offenbart, - seine Gebräuche, Ceremonien, Anschauungen, die sich auf die jüdischen Gesetze stützen, hindern ihn gewiss ebenfalls in hohem Grade, sich dem Deutschen in seiner Art und Weise zu assimilieren

erste drei Zitate: Heinrich Gotthardt von Treitschke, Preußische Jahrbücher, November 1879
letztes Zitat Wilhelm Endner, Zur Judenfrage, 1880

so weit lagen die um 1880 also auch nicht gegenüber der heutigen Argumentation zurück. Was daraus erwuchs, ist bekannt.

Anaeyon
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Fr 7. Sep 2012, 15:27 - Beitrag #108

Im neuen Link von dir wird schon wieder von eine Welle an neuem Judenhass geredet, die die BRD so noch nicht gesehen hätte. Schon wieder dieser Blödsinn, merkst du denn nicht wie dermaßen übertrieben das ist?

Den Mitschüler, der anfängt zu weinen und was von Mobbing zu keifen, wenn man ihn mal genervt anschaut, den nehme ich auch nicht in Schutz.

Eigentlich empörend, wenn sie sich formal völlig korrekt strukturierten Maßnahmen brasilianischer Behörden verweigern, in enteigneten Waldbereichen wohnen bleiben wollen, der Brandrodung entgegen treten, sie selbst bleiben wollen. Bezug klar? Ich kann es auch sehr viel härter formulieren. Deutschland hat sich als Kinderschänder und Mörder erwiesen. Und dieser Kinderschänder und Mörder will jetzt bestimmen, wie die Kinder der Ermordeten mit ihren Kindern umzugehen haben? Nicht wirklich, oder?


Der Vergleich hinkt. Die Ureinwohner waren zuerst da. Dann wurde ihnen eine Staatszugehörigkeit aufgezwungen, ihr Gebiet geklaut. Die Juden waren hier nicht vor uns. Deutschland ist nicht Eigentum der Juden. Deine "härtere" Formulierung hat nun schon nichts mehr mit dem Beispiel zu tun. Sie ist lediglich emotional, inhaltlich falsch, denn nicht die BRD sondern das dritte Reich hat dies getan. Desweiteren war auch der Teil meiner Familie, der das dritte Reich miterleben musste, nicht in solche Dinge verwickelt. Ich distanziere mich also mal von deinem "wir".

Ich ignoriere den emotionalen Teil nicht, er ist mir bewusst und ich habe großes Verständnis dafür, dass man die BRD nicht als etwas völlig neues, anderes, schuldfreies betrachten kann. Das wäre ja auch absolut daneben, wurde auch in der BRD jahrzehntelang versäumt, sich den Verbrechen der Vergangenheit zu stellen. Wir haben keine reine Weste. Nur warum man auch Themen, die mit der Judenvernichtung nichts zu tun haben wieder damit in Verbindung bringen muss, das ist mir nicht verständlich. Ich gewähre dem jüdischen Volk gerne und ohne es als Anstrengung zu empfinden vieles, solange es halbwegs mit der Judenvernichtung zu tun hat. Aber hier geht es nicht um eine Frage bezüglich des Judentums, sondern um die Frage, inwiefern Religion und Tradition über dem Recht stehen dürfen. Diese Frage ist berechtigt und der deutsche Staat das Recht, zu entscheiden. Als wir noch über die Abschaffung des Kopftuches diskutiert haben, hat uns keiner einen gedanklichen Holocaust oder eine Vertreibung von Muslimen vorgeworfen.

Ich verstehe, dass ein Jude bei einer Einschränkung seiner Religion durch den deutschen Staat an die Vergangenheit denkt. Aber in dieser Frage akzeptiere ich das nicht als ausreichenden Grund, uns so bitterböse Vorwürfe zu machen. Es gibt Diskussionen, bei denen sich Juden und Deutsche mal nicht mit der Vergangenheit, sondern mit sachlichen Argumenten für und wieder auseinandersetzen müssen. Sachliche Argumente wurden seitens der Deutschen geliefert.

huch^^ tue ich das?

Dass du über solchen trivialen Denkmustern stehst, ist mir natürlich bewusst. Aber hier sprachst du davon, dass wir speziell Juden im Land brauchen, wegen Kultur. Und ich kann das schlichtweg nicht anders übersetzen als "Jüdische Kultur ist wertvoller". Das ist sie nicht und solltest du das doch so sehen, dann trifft mein Vorwurf wohl sogar zu.

Zu der Frage "wer muss was aus der Geschichte lernen": Schon wieder sind Emotionen deine Begründung, weitere Gefahren zuzulassen. Zum Beispiel die, dass Menschen, deren Eltern verfolgt wurden, nicht lernen müssen, welche Denkmuster genau dazu geführt haben. Nun gut, auf dass sich die Geschichte in einem anderen Land wiederhole! (?..)

So grundsätzlich, wenn du von Deutschen erwartest, dass sie akzeptieren, dass Juden auf Logik verzichten dürfen und unsere logischen Argumente nicht zählen, dann ist es vollkommen unrealistisch, zu erwarten, dass man da groß Lust drauf hat, mitzuspielen. Vielleicht ist genau das eine Möglichkeit, eine verletzte Volksseele zu kurieren, aber keine sonderlich risikofreihe, ist es doch gerade für den etwas weniger Gebildeten nur allzu verlockend, deshalb Frust zu entwickeln und neuen gegenseitigen Hass zu bilden.

Ipsissimus
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Sa 8. Sep 2012, 13:39 - Beitrag #109

Die Juden waren hier nicht vor uns.
die Juden sind in Europa mehr oder weniger genau so lange da, wie die Deutschen, und zumindest seit dem Ende des ersten Jahrtausends. Mehr historisch bedingten Rechtsanspruch haben die meisten Deutschen auch nicht

Deutschland ist nicht Eigentum der Juden.
nein, natürlich nicht. Nachdem wir sie ermordet oder ihre Ermordung zugelassen haben - das betrifft dann deine Großeltern genauso wie meine - gehörte den Juden natürlich nichts mehr von Deutschland.

Sie ist lediglich emotional, inhaltlich falsch, denn nicht die BRD sondern das dritte Reich hat dies getan
im Wesentlichen Deutsche haben das getan. Abgesehen vom Aspekt der Rechtsnachfolge - beide deutsche Staaten haben sich nach dem Krieg darum gerissen, als Rechtsnachfolger des dritten Reichs zu gelten, weil damit ihre Anerkennung als souveräner Staat verknüpft war - waren diese Deutschen zwar in zwei unterschiedlichen Organisationsformen deutscher Staatlichkeit eingebunden, aber es waren im Wesentlichen dieselben Menschen.

Nur warum man auch Themen, die mit der Judenvernichtung nichts zu tun haben wieder damit in Verbindung bringen muss, das ist mir nicht verständlich.
nun, vielleicht weil es das verbindende Glied, also die Juden, noch gibt?

Als wir noch über die Abschaffung des Kopftuches diskutiert haben, hat uns keiner einen gedanklichen Holocaust oder eine Vertreibung von Muslimen vorgeworfen.
nein? Dann sind dir wesentliche Teile der Diskussion entgangen. Wir haben vielleicht diese Gedanken nicht geäußert. Andere waren nicht so sensibel, unsere Gemeinheiten mit Schweigen zu umhüllen. Übrigens ist das auch nicht auf Deutschland beschränkt. Die Schweizer haben für ihr Minarettverbot auch keine Freude geerntet. Es zeigt sich halt immer wieder, wer mensch ist.

und unsere logischen Argumente nicht zählen
Darf ich mich jetzt gegen das unsere verwehren^^ wie ich bereits sagte, mit Logik kannst du alle Absichten begründen, auch solche, die zum Auszug der letzten deutschen Juden aus Deutschland führen werden. Wir^^ sollten dann wenigstens so ehrlich sein, zuzugeben, dass uns das scheißegal ist und es uns nichts ausmacht, die Absichten und das Erbe des dritten Reichs zu vollenden

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Sa 8. Sep 2012, 16:19 - Beitrag #110

Zitat von Ipsissimus:
Zitat von Anaeyon:Deutschland ist nicht Eigentum der Juden.
nein, natürlich nicht. Nachdem wir sie ermordet oder ihre Ermordung zugelassen haben - das betrifft dann deine Großeltern genauso wie meine - gehörte den Juden natürlich nichts mehr von Deutschland.
Dafür war anschließend ziemlich viel Eigentum der Juden Eigentum Deutschlands - teilweise bis in die 90er Jahre, teilweise auch bis jetzt und möglicherweise für immer, weil vieles davon nicht mehr zu ermitteln ist. Insofern kann auch sagen, daß Deutschland Eigentum der Juden geworden ist, ganz abgesehen davon, daß es das auch sonst schon immer war - wie das seiner nichtjüdischen Staatsbürger auch.
Zitat von Ipsissimus: Abgesehen vom Aspekt der Rechtsnachfolge - beide deutsche Staaten haben sich nach dem Krieg darum gerissen, als Rechtsnachfolger des dritten Reichs zu gelten, weil damit ihre Anerkennung als souveräner Staat verknüpft war - waren diese Deutschen zwar in zwei unterschiedlichen Organisationsformen deutscher Staatlichkeit eingebunden, aber es waren im Wesentlichen dieselben Menschen.
Einspruch, Euer Ehren - die DDR hat sich eher nicht darum gerissen, sondern spezifisch an der Judenvernichtung jegliche Verantwortung zurückgewiesen. Ab Mitte der 50er ging man in der DDR von der Gründung zweier neuer Staaten auf deutschem Boden aus, statt von einer Rechtsnachfolge.
Edit: Naja, kein wirklicher Widerspruch, du sprachst ja gerade von der Nachkriegszeit.

e-noon
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Sa 8. Sep 2012, 16:49 - Beitrag #111

Ich denke, dass das ganze eine Frage des Blickwinkels ist, sowohl die eine als auch die andere Sichtweise sind berechtigt. Wenn jemand im Grunde die Ansicht vertritt "Sollen sie doch abhauen, wenn sie sich nicht an hiesige Gepflogenheiten anpassen wollen", kann man durchaus von einer gefährlichen Nachfolge oder Weiterführung rechtsextremen Gedankenguts sprechen, in deren Zusammenhang dann auch der Verweis auf das dritte Reich legitim ist. Wenn andererseits die Argumentation die ist, dass, gerade weil alle Menschen gleich sind, man auch für alle, insbesondere Kinder, Empathie empfindet und aus diesem Mitgefühl heraus - das in dem Fall den jüdischen, muslimischen und auch amerikanischen und afrikanischen Kindern gilt, die ohne medizinische Indikation beschnitten werden sollen - für eine striktere Anwendung, denn darum handelt es sich letztlich in meinen Augen, des Rechtes auf Unversehrtheit des Kindes plädiert, halte ich das für eine völlig legitime Position. Diese muss dennoch anerkennen, dass hier Güter abgewogen werden und dass im Moment - aufgrund historischer und politischer Gegebenheiten - der Moment leider noch nicht gekommen ist, in dem sich dies durchsetzen lässt, ebenso, wie ein Vegetarier einsehen muss, dass die Welt noch nicht so weit ist, sich das Ermorden fühlender Lebewesen gesetzlich verbieten zu lassen, auch wenn so manches Gemüt dies als unverzeihlichen und unbegreiflichen moralischen Makel empfinden mag. Auch ist vielleicht die Gewohnheit eines Muslimen oder Juden, der sein Kind beschneiden lassen möchte, ähnlich der eines Fleischessers, der zwar die Leiden des Tieres anerkennt und bedauert, aber eben doch nicht auf Fleisch verzichten will.

Lykurg
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Sa 8. Sep 2012, 17:39 - Beitrag #112

Guter Vergleich, e-noon, wobei es noch weiter geht, schließlich ziehen die eine Beschneidung für ihr Kind veranlassenden Eltern nicht eine persönliche Annehmlichkeit daraus (entsprechend dem Fleischgenuß), sondern die Verwirklichung einer aus ihrer Sicht unhinterfragbaren Maxime und zugleich Konstituente ihrer sozialen Verortung - sie handeln also ihrer Meinung nach im unbedingten Interesse des Kindes.

e-noon
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Sa 8. Sep 2012, 18:10 - Beitrag #113

Das stimmt, die Motivation habe ich dabei noch nicht einbezogen. Ich bin auch nicht sicher, in welchen Fällen unbedingtes Kindswohl dahintersteckt und in welchen Fällen sozialer Druck der Eltern, wie auch Menschen ihr Kind taufen lassen, damit es, aber auch sie selbst nicht aus dem Rahmen fallen.

Lykurg
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So 9. Sep 2012, 09:26 - Beitrag #114

Sozialer Druck für sich ist nicht unbedingt falsch, genauso wirst du etwa sozial dazu gedrängt, dein Kind so zu erziehen, daß es 'bitte' und 'danke' sagt. Natürlich gibt es auch viele negative Beispiele, aber der Gegenstand ist jeweils einzeln zu beurteilen.

Eben las ich einen Artikel mit ein paar Meinungsbildern und Darstellungen jüdischer Lebenswelten in verschiedenen deutschen Städten. Interessanterweise wäre demnach etwa die Anzahl antisemitischer Gewalttaten von 2010 auf 2011 deutlich zurückgegangen, wobei die gezählten Fälle so wenige sind, daß die Statistik wohl nicht so viel aussagt. Eher schon kommt es auf die Zwischentöne der Wahrnehmung an:
Zitat von welt.de:[...] aus ihrer Sicht ist Ungeheuerliches in Deutschland passiert. So ungeheuerlich, dass ihr Mann ernsthaft gefragt hat, ob sie wegziehen sollen. "Das Kölner Beschneidungsurteil hat mich in meinen Grundfesten erschüttert", sagt die 52-jährige Mutter von fünf Kindern. Guggenheim ist tief verletzt. "Es fehlt der Respekt", sagt sie. Das Urteil sei ein "Eingriff in das jüdische Selbstverständnis". Sie findet, dass sich in die Kritik an der Beschneidung antireligiöse, antisemitische Ressentiments mischen. "Die Tonlage ist anders geworden, härter, unhöflicher, kompromissloser."
Die vielen verbalen Übergriffe, von denen einige der Interviewpartner berichten, dürften ein Übriges tun, derartige Überlegungen zu befördern.

e-noon
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So 9. Sep 2012, 10:41 - Beitrag #115

Natürlich ist sozialer Druck nicht unbedingt falsch, ich würde allerdings sagen, es handelt sich um eine weniger edle Motivation als die tatsächliche Orientierung am Kindswohl. Mir persönlich wird man wohl nicht begreiflich machen können, wie eine Mutter ihren Säugling dieser Behandlung aussetzen kann. Ähnlich ist meine emotionale Reaktion, wenn man der eigenen Tochter mit 16 eine Brust-op oder ein Fettabsaugen zum Geburtstag schenkt. Das hat absolut nichts mit der Religion zu tun, und es ist dumm gelaufen und der Sache nicht zuträglich, dass die Debatte fast rein auf der Religionsschiene läuft. Ich begrüße den von Ipsi verlinkten Beitrag zur Debatte um Ohrlöcher. In dem Artikel wird ja eine ähnliche Ansicht vertreten:
"Der Streit um die Beschneidung jüdischer und muslimischer Säuglinge sei in ihrem Ursprung nicht antisemitisch, sagt Bistritzky, habe aber bei vielen den versteckten Antisemitismus hervorgeholt."

"Das Kölner Beschneidungsurteil hat mich in meinen Grundfesten erschüttert", sagt Tamara Guggenheim, Religionslehrerin im jüdischen Gemeindezentrum in Düsseldorf und Mutter von fünf Kindern. "Die Tonlage ist anders geworden, härter, unhöflicher, kompromissloser." Ihre Schüler erzählen, dass muslimische Mitschüler rufen "Stirb, Jude."

Diese Bildunterschrift ist ja nun gar nicht mehr zu verstehen. Muslime sind ja genauso von dem Urteil betroffen wie Juden; man kann es wohl schlecht dem Beschneidungsurteil anlasten, dass Arabischstämmige "jetzt auf einmal" Vorurteile gegen Juden mitbringen.

Ipsissimus
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Mo 10. Sep 2012, 10:07 - Beitrag #116

Es gäbe da noch eine Kleinigkeit, nur am Rande bemerkt. Bzw. es gibt sie nicht^^ also das "Recht auf Körperverletzung" meine ich^^ auch der erwachsene Deutsche hat kein Recht auf eigene Körperverletzung, z.B. zum Piercen, Tättowieren, Implantieren, Ohrläppchen stechen und was ihm alles zur Verschönerung seiner Person einfällt. Und ein Recht zum Delegieren der Körperverletzung schon gar nicht. Es wird nur geduldet, bzw. in bestimmten Gebieten (Medizin, Strafverfolgung) im Sinne einer Güterabwägung akzeptiert. Sollte also ein findiger Rechtsanwalt sich gelegentlich mal damit profilieren wollen, diesbezüglich in einer Grundsatzentscheidung dem Gesetz in seiner ganzen Strenge Geltung zu verschaffen, brechen nicht nur für Beschneider harte Zeiten an. Alle unsere Körperverschönerer und Körperverschönerungsfreaks wären betroffen, und das dürften weit über die Hälfte der Bevölkerung sein.

e-noon
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Mo 10. Sep 2012, 12:31 - Beitrag #117

Es gibt das Recht auf freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, das einschließt, Änderungen am eigenen Körper vornehmen zu lassen; das entsprechende Gesetz wurde oben, meine ich, schon zitiert: "Wer eine Körperverletzung mit Einwilligung der verletzten Person vornimmt, handelt nur dann rechtswidrig, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt."

Im übrigen benötigt man in Deutschland glücklicherweise kein positives Recht auf irgendetwas, um es tun zu dürfen; es reicht, wenn es nicht durch ein Gesetz verboten ist. Die freiwillige Körperverletzung (wobei eine Einwilligung vorher, freiwillig und im Bewusstsein der Konsequenzen abgegeben werden muss) ist nicht rechtswidrig und somit erlaubt (Ausnahmen sind laut Internetquelle die eigene Tötung, Organhandel und Kastration, wobei mich letzterer Punkt etwas wundert).

Ich habe mal eine Dokumentation gesehen über erwachsene Menschen, die eines ihrer Körperteile, beispielsweise den Unterschenkel, als Fremdkörper wahrnehmen und es gerne amputiert haben möchten. Auch wenn ich der Meinung bin, dass dort eine Krankheit vorliegt, die man behandeln sollte, stellt sich doch die Frage, mit welcher Begründung (etwa eine rein wirtschaftliche, die mit Verminderung der Arbeitsfähigkeit und Streichung von Sozialleistungen argumentiert) einem erwachsenen, mündigen Menschen die Selbstverletzung verwehrt wird.

Die Körperverletzung an Säuglingen aber müsste klar unter das Verbot fallen, weil diese nicht zustimmen und die Folgen nicht absehen können.

Ipsissimus
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Mo 10. Sep 2012, 13:29 - Beitrag #118

stimmt, ich hatte das irrtümlich aus der Erinnerung mit dem Selbstverstümmelungsverbot aus dem Wehrgesetz zusammen geworfen. Immerhin gibt bzw. gab es damit eine Schnittmenge, denn wer wehrpflichtig war und seine Funktionsfähigkeit durch einen derartigen Eingriff in Frage stellte, konnte, wenn es schlecht lief, dafür belangt werden. Aber die Zahl der Leute, auf die das zutreffen konnte, war natürlich deutlich geringer und mittlerweile hat es sich eh erübrigt. Mea culpa^^

Maglor
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Di 11. Sep 2012, 21:50 - Beitrag #119

[quote="e-noon"]Es gibt das Recht auf freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, das einschließt, Änderungen am eigenen Körper vornehmen zu lassen]
§ 228 StGB ist nicht nur auf Operationen, Tätowierungen und Körpermodifikation anwendbar, sondern auch auf Verletzungen, die im Boxkampf oder Fußball entstehen.
Problem an dem Gesetz ist die Einwilligung der verletzten Person. Einwilligungsfähig sind eben nur Erwachsene, die unter keiner schweren geistigen oder psychischen Störung leiden.
Die Eltern können nicht ohne weiteres einwilligen. Sie können mit ihren Kindern nicht machen, was sie wollen.

Es sind mehrere Fälle in Deutschland bekannt geworden, in denen Eltern Teile des Sorgerechts entzogen wurden, weil der Verdacht bestand, sie könnten versuchen an ihren Töchtern eine Beschneidung nach schlechter Sitte durchführen lassen. Das wesentliche oder besser das einzige Indiz hierfür, war natürlich die Herkunft der Eltern aus afrikanischen Ländern.
Hierzu auch § 1666 BGB. Daraus ist klar abzuleiten, dass Eltern, die ihren Sohn rituell beschneiden lassen möchten, die Gesundheitssorge zu entziehen ist.

Interessant hierzu ist noch die TAZ-Kolumne, die klar die Frage stellt, ob die Sache nicht anders wäre, wenn es um Mädchen ginge. Klar, dann ist alles anders.

Maglor
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Do 27. Sep 2012, 17:49 - Beitrag #120

Das Bundesministerium für Justiz stellt ein für alle mal klar:
[INDENT]Nach dem Grundgesetz haben Eltern das Recht auf Erziehung. Die Erziehung liegt primär in der Verantwortung der Eltern. Dazu gehört auch, dass sie sämtliche Fragen, die ihre Kinder betreffen, entscheiden können – auch eine Beschneidung des Jungen nach Regeln der ärztlichen Kunst. Der Staat hat hier ein Wächteramt, wenn im Einzelfall eine Kindeswohlgefährdung droht.

...

Das Bundesjustizministerium hat vier Anforderungen an die Beschneidung berücksichtigt:

1. Sie muss fachgerecht durchgeführt werden. Und deshalb muss die Beschneidung möglichst schonend und mit einer möglichst effektiven Schmerzbehandlung durchgeführt werden.

2. Sie darf nur nach einer vorherigen umfassenden Aufklärung erfolgen.

3. Eltern müssen den Kindeswillen bei dieser Frage entsprechend miteinbeziehen.

4. Eine Ausnahmeregelung greift, wenn im Einzelfall das Kindeswohl gefährdet wird, z.B. bei gesundheitlichen Risiken.
[/INDENT]
Zu beachten ist auf die areligiöse Argumentation. Es ist das natürliche Recht der Eltern über medizinisch nicht Notwendige Eingriffe am Kind zu entscheiden, sprich Eltern haben ein Recht darauf ihr Kind zurechtschnippeln zu lassen, aus welchen Gründen auch immer.

Die Unvereinbarkeit mit dem Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung gem. § 1632 Abs. BGB ist offensichtlich. Dieses Recht spricht das Ministerium nicht einmal an. Kinderrechte spielen offensichtlich nur im Einzelfall eine Rolle.
Meiner Ansicht droht bei Entfernung der Vorhaut jedoch in jedem Fall eine Gefährdung des Kindeswohles! (Die Gefahr besteht zumindest.)

Noch offensichtlicher ist der Widerspruch zu Art. 2 des Grundgesetzes.
[INDENT]Artikel 2

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.[/INDENT]

Bizarr ist schon die Ansicht des Bundesministerium eine Beschneidung könne bei Kindern und 6 Monaten weiterhin ohne Betäubung durch religiös befugte Beschneider erfolgen, gerade so als käme es bei Neugeborenen auf die Schmerzen und die Hygiene gar nicht so drauf an.
Kritiker haben bereits angemerkt, die Regeln der ärztlichen Kunst erforderten sterilisiertes Werkzeug und die Sterilität eines OPs, was kein Mohel bieten könne. Zur Gabe von Schmerzmittel sind in Deutschland ohnehin nur Ärzte befugt.

Wie der Kindeswille von Kleinkindern miteinbezogen werden kann, sollen sie mir auch noch erklären. Wenn der Säugling zu heulen beginnt, wenn der Beschneider am Glied ansetzt, oder sonstige Abwehrreaktionen zeigt, dürfte dies ja den Kindeswillen ausdrücken.

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