Unruhen in Frankreich

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Aydee
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Di 8. Nov 2005, 16:04 - Beitrag #21

Das eigentliche Problem sehe ich eher hierin:

"Im Grunde meines Herzens bin ich jedoch zutiefst davon überzeugt, dass jede Gesellschaft ihren "Abschaum" benötigt, um sich als guten Teil der Gesellschaft konstruieren zu können.
In diesem Sinne wird es immer und immer und immer, egal unter welchem Herrschaftssystem, ausgeschlossene Gruppen geben."

(damit meine ich weniger Fr.Doktor ;-) sondern:)

Menschen - sorry für die Verallgemeinerung - nehmen die meisten anderen Menschen nicht als fühlende, empfindene Wesen (Menschen) wahr. Sie WISSEN dass diese anderen fühlen und empfinden. Aber sie nehmen sie imo nicht so wahr, außer jene in ihrem direkten Umfeld, und insbesondere jene, die sie in ihren "inneren Kreis" aufgenommen haben.

Es gibt tausende von Menschen die jeden Tag leiden, die jeden Tag um ein weiteren Tag kämpfen (müssen) - 'wir' (wieder ne Verallgemeinerung, sry) WISSEN das, aber in wie weit BERÜHRT 'uns' das tatsächlich...???


Es fällt mir zB extrem schwer für einen Menschen irgendwo in einem Ghetto in einer französischen Stadt Empfindungen in mir zu finden. Echte Empfindungen. Ich empfinde ein ganz allgemeine Mitleid, Bedauern und Mitgefühl für ihre Lage, aber ich bin mir wriklich nicht sicher ob ich damit einen dieser Menschen meine.....

*grübel*


/Edit.
Ich möchte niemandem etwas unterstellen - falls sich jemand hierin angegriffen etc fühlt, bitte ich um Entschuldigung. Das ist, wie ich die Welt wahrnehmen.....

janw
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Di 8. Nov 2005, 16:21 - Beitrag #22

Nein, Aydee, ich verstehe gut, was Du meinst, und es ist auch in Ordnung so, ein gutes Stück weit. Abgrenzung, emotionale Abstufung gehört zum Selbstschutz.
Aber das Wissen um das Leiden ruft bei mir denn doch Gefühle der Wut und ähnliches hervor, Gefühle, die mich dazu bringen, mich dazu zu äußern.

Und wenn ich bereit bin, irgendwelchen Anzugträgern bestimmte Kompetenzen abzutreten, ihnen soetwas wie Herrschaft über mich zuzubilligen, dann erwarte ich, daß damit zum Wohle Aller verfahren wird.
Wer ein politisches Amt übernimmt, muß das Wohl Aller verfolgen, nicht nur bestimmter Interessengruppen oder der eigene Wählerklientel.

teut
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Di 8. Nov 2005, 16:41 - Beitrag #23

Nun ich bin begeistert wie viele sich zu dem Thema äußern.Aber ich vermisse tiefer gehende Erklärungen.Erstens hat der Innenminister nach der Beschädigung seines Autos so reagiert für mich verständlich.(so stand es in Le Monde) Die eigentliche Schuld ist die Klassengesellschaft in Frankreich ,wie auch in England.Den oberen Schichten ist es völlig egal ,wie es den schlechter gestellten Schichten des eigenen Volkes geht, geschweige denn dass sie die Einwanderer interessieren allenfalls als billige Arbeitskräfte.Den Aufstieg in höhere soziale Schichten war in den letzten Jahrzehnten in breiter Form nur in Deutschland und Österreich möglich nicht in Frankreich und England.Die Einwanderer Misere ist nur ein zusätzliches Problem erstens der Kolonialwirtschaft und zweitens der Gleichgültigkeit der maßgeblichen Kreise.Ich fürchte nur die EU sollte dies alles abfangen man blicke nach Italien Spanien usw. Somit wird dieses Problem unweigerlich auch zu uns kommen.Der Bürgerkrieg steht vor der Tür und niemand will es so sehen

Maglor
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Di 8. Nov 2005, 16:56 - Beitrag #24

Sicher teut, das die Klassengesellschaft in Deutschland weniger ausgeprägt ist als in Frankreich oder England...
... oder das man hier besser aufsteigen könne.... ... die Pisa-Studie spricht da durchaus eine andere Sprache.
Vielleicht ist es ja noch dieser alte Traum der Volksgemeinschaft, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Vielleicht gibt es hier in Deutschland nicht dieses Standesgefühl, nicht den kollektiven Mob...
MfG Maglor :rolleyes:

Elbereth
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Di 8. Nov 2005, 17:08 - Beitrag #25

Der Bürgerkrieg steht vor der Tür und niemand will es so sehen


Genau das nervt mich so an den Medien, die jetzt schon fleissig Panikmache betreiben :rolleyes: Kein Wunder wenn jetzt auch gewaltbereite Jugendliche in Deutschland auf den Gedanken kommen, das selbe zu tun, wenn hier alle jetzt schon so schiss haben, dass jedes angezündete Auto gleich jede Menge Aufmerksamkeit erregt, was sie ja auch wollen :rolleyes:

Diese randallierende Jugendliche sind nicht die Vertreter der Einwanderer, auch nicht die der ärmeren Leute, sie vertreten nur ihre eigene Gewalt. Warum randallieren sie zum Beispiel in ihren eigenen Vierteln? Zerstören ihre eigene Moschees und Kindergärten? Zünden Autos ihrer Nachbarn an? Ich bin mir ziemlich sicher, dass es viele Einwanderer gibt die diese Aktionen absolut nicht gutheissen und verzweifeln, da sie jetzt auch über den selben Kamm geschert werden wie diese randallierende Jugendliche.

Es mag sein, dass diese Gewaltbereitschaft aus den niedrigen Lebensumständen resultiert, doch in meinen Augen ist es überhaupt keine Rechtfertigung für die Randale. Wenn sie wirklich mit ihren Taten eine politische Aussage erreichen wollen, dann müssen sie doch Demos machen, sich versammeln, und wenn es schon gewalttätig sein muss, dann sollen sie doch Rathäuser oder ähnliche politische Einrichtungen eingreifen, und keine Kindergärten...

Maglor
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Di 8. Nov 2005, 17:10 - Beitrag #26

Bloß nicht aufregen, bis der Bürgerkrieg wirklich entfacht ist, sind die Randalierer schon sämtlich an der Grippe-Pandemie verendet. :D

tjej
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Di 8. Nov 2005, 17:13 - Beitrag #27

Freie Gesellschaft und Wohlfahrtsstaat lassen sich nicht vereinbaren.


Freiheit heisst auch, Verantwortung fuer sich selbst zu uebernehmen.


Der Sozialsstaat herkömmlichen Modells verleitet leider dazu, Verantwortung auf andere abzuwälzen. Und dabei aber die Freiheit haben, seine Lebensweise so zu gestalten, dass Probleme entstehen bzw. sich vergrössern.


Tut mir leid, ich kann da nicht ganz folgen. Wie soll so etwas langfristig funktionieren?

Wenn ich im Sozialbau hänge, mit schlechter Ausbildung, von Transferleistungen abhängig bin, dann sollte ich vielleicht versuchen, meine Situation auch aus eigener Anstrengung heraus zu verbessern.

Fakt ist, dass viele dies nicht tun. Sie rufen statt dessen um Hilfe.

Die sie erhalten, solange noch Geld da ist.

Feuerkopf
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Di 8. Nov 2005, 17:47 - Beitrag #28

Die These von der Klassengesellschaft ist gar nicht so falsch.
Deutschland hat immer schon eine breite Mittelschicht gehabt, Handwerker, Beamte, Angestellte. Das lässt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen.
Außerdem ist unser Land föderalistisch und weitgehend dezentral stukturiert. Das hat oft Nachteile, aber in dieser Hinsicht Vorteile, denn Politiker und Verwaltung sind viel näher "am Volk" als in zentralistischen Ländern wie GB oder Frankreich.
Außerdem haben wir - noch - eine starke Gewerkschaftsbewegung.

Dadurch, dass Deutschland keine Kolonialmacht war, gab es keine blutigen Befreiungskriege, keine überseeischen Departements etc. pp. "Unsere" Ausländer sind freiwillig hergekommen, sie stammen auch, wenn man die Muslime betrachtet, aus einem anderem Kulturraum. Außerdem sind Ausländerghettos in Deutschland nicht homogen, sondern auch eher in gewachsenen Stadtstrukturen. Unsere Nordstadt z. B. hat guten Häuserbestand aus den 20er/30er Jahren, ist gewachsen und hat eine gute Infrastruktur.

Ich gebe Frau Doktor recht: Der Frust-Abbau funktioniert nur, wenn man buchstäblich am Ball bleibt. Es geht komplett nach hinten los, Hilfsprojekte einzusparen.

Um sich wehren zu können, und zwar nicht durch ungezieltes Molliwerfen, sondern mit gezielten Forderungen, muss man schon ein gewisses Maß an Organisation aufbringen. Dazu gehört, dass man überhaupt Forderungen zu stellen weiß und das auch formulieren kann. Selbst durchschnittlich gut gebildete Leute sind normalerweise viel zu schüchtern, um sich öffentlich zu beschwerden. Außerdem sind die Menschen in den Pariser Vorstädten keine homogene Gruppe, sondern auch unter einander uneins.
Es ist eine wohlfeile Forderung zu sagen: Versuche, deine Situation zu verbessern!
Ja, WIE denn, wenn keine Arbeit da ist? Und ohne Moos bekanntlich nix los.
Ich finde, es ist schon ein wesentlicher Schritt, überhaupt nach Hilfe zu rufen. Selbst das trauen sich viele aus Scham nicht.

Ipsissimus
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Di 8. Nov 2005, 17:48 - Beitrag #29

Freie Gesellschaft und Wohlfahrtsstaat lassen sich nicht vereinbaren.


wenn "Freiheit" das Recht der Reichen meint, auf Kosten der Allgemeinheit immer reicher werden zu können, dann ist das richtig. Nur daß der von dir propagierte Neoliberalismus nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems ist, das in seiner Gesamtheit mit dem Begriff "Gier" ziemlich gut zu umreißen ist.

Reiche Menschen und Organisationen mit Privilegien lassen sich nicht mit freier Gesellschaft vereinbaren.


Dadurch, dass Deutschland keine Kolonialmacht war


frag mal in Namibia nach

Feuerkopf
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Di 8. Nov 2005, 17:53 - Beitrag #30

Zitat von Ipsissimus:
frag mal in Namibia nach


Ipsi,
dass Deutschland ein paar Kolonien hatte, weiß ich. Es war aber keine "Macht", wie GB, F, NL oder E. Also haben auch keine Menschen aus Namibia heute einen Anrecht auf deutsche Pässe.
Die Frage von Menschenrechtsverletzungen in den ehemaligen Kolonien wäre ein anderes Thema.

Maglor
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Di 8. Nov 2005, 17:55 - Beitrag #31

Nun ja, die koloniale Vergangenheit des Deutsches Reiches ist geringfügig. Erstens war das Ausmaß der Kolonien gering und zweitens waren sie bereits durch den Versailler Vertrag verloren, also lange bevor Großbritannien und Frankreich zu Einwanderungsländern wurden.
Eine Besonderheit unter den Migranten in Deutschland bilden jedoch die Spätaussiedler. Vergleichbar legitimierte Imgranten gibt gibt es glaube ich nur in Israel.
MfG Maglor :rolleyes:

Padreic
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Di 8. Nov 2005, 18:14 - Beitrag #32

@Ipsissimus:
Reiche Menschen und Organisationen mit Privilegien lassen sich nicht mit freier Gesellschaft vereinbaren.

Bezieht sich das 'Privilegien' grammatisch auch auf 'Reiche Menschen'? Ansonsten würde ich auch sagen, dass sich eine freie Gesellschaft auch schlecht mit einer solchen Deckelung der wirtschaftlichen Freiheit vereinbaren lässt. Wenn Menschen bereit sind, einem Menschen Geld zu zahlen und dieser es nicht annehmen darf...vielleicht zeigt dies, dass eine freie Gesellschaft nicht möglich ist.

@janw:
Frankreich braucht, denke ich, einen Neuanfang. Der mit einer echten Entschuldigung und einem völligen Rückzug des Innenministers beginnen müßte. Wenn nicht einer Anklage wegen Hochverrats.

Kannst du das mit dem Hochverrat genauer erläutern?

Wobei ich aber entsetzt bin, wie sich der Protest gegen die eigenen Menschen richtet, das darf es so nicht geben. Hoffentlich bekommen die Leute in den Stadtvierteln das selbst in Griff, ohne Polizei.

Wie stellst du dir das genau vor? Leuten gut zureden, die einen gerade zu Tode prügeln?

Allgemein finde ich es schwer, Leute, die Kindergärten anzünden und anderen Menschen (oder bisher zumindest einen) zu Tode prügeln als Kämpfer für eine gute Sache anzusehen. Dass ich Gründe für ihre Handlungen sehe (Jugendarbeitslosigkeit, Vernachlässigung durch den Staat etc.) heißt nicht, dass ich ihre Taten gutheißen kann.
Es ist sehr schade, dass dies der Weg zu sein scheint, Veränderungen zu erzielen. Aber trotzdem sollten diese, die jetzt diese Unruhen betreiben, sehen, dass es auch Menschen sind, denen sie da Schaden zufügen, ob sie nun Autos anzünden, Busse kapern oder auf Polizisten schießen. Ich will durchaus zugestehen, dass man die Politik, die solche Zustände erst ermöglicht, als verbrecherisch sehen kann, aber das heißt nicht, dass es die Randalierer nicht auch sind.

Bei all den moralischen Erörterungen bleibt die Frage, was nun aktuell zu tun ist. Besseres Schulwesen [bzw. dafür zu sorgen, dass die Kinder überhaupt die Schule besuchen], besseres Jobangebot [woher nehmen, wenn nicht stehlen...] etc. pp. schön und gut, doch dies alles geht nicht von heut auf morgen und das bloße Versprechen derselben wird die Unruhen nicht mir nichts dir nichts aufhalten können.
Ich bin dabei durchaus der Meinung, dass das Gewaltmonopol beim Staate liegen sollte und er auch das Recht hat dies zu zeigen. Will heißen: er soll sich bemühen, die Ordnung wieder herzustellen, auch mit Ausganssperren, Gewalt und dergleichen, wenn es Not tut. Und dann die Zustände verbessern, sodass das nie wieder vorkommen muss.

Lykurg
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Di 8. Nov 2005, 23:19 - Beitrag #33

Zitat von Ipsissimus:Lykurg, ich bin wirklich verwundert, daß das Handelsblatt eine derart konservative Auffassung von den Ereignissen propagiert ...^^
:D Wunderschön ausgedrückt]Daß das Handelsblatt eine Grundtendenz verfolgt, die gutdeutsch darauf hinausläuft "solange ihr euch nur still und brav regieren und alles mit euch machen lasst, ist alles gut" dürfte klar sein. Die gleichen Leute hätten den Aufstand im Warschauer Ghetto genau so mit Geschichten vorbildlich gottergebener Juden kommentiert.[/QUOTE]Das geht mir mal wieder viel zu weit, vielleicht bin ich einfach blöd, daß ich mich immer provozieren lasse, aber diese Verunglimpfungen sind mE völlig unangemessen. (Immerhin hast du "die gleichen" und nicht "dieselben" geschrieben, aber viel besser macht es das nicht). Der Vergleich ist mE auch mit einer Banalisierung und Veralltäglichung der NS-Propaganda verbunden, die ich nicht gutheißen mag. Nicht jedes Übel unserer Tage ist mit den Verbrechen des 3. Reiches vergleichbar - darin wenigstens sollte Konsens herrschen.

Zitat von Fr.Doktor:Im Grunde meines Herzens bin ich jedoch zutiefst davon überzeugt, dass jede Gesellschaft ihren "Abschaum" benötigt, um sich als guten Teil der Gesellschaft konstruieren zu können.
ja, ausgeschlossene Gruppen sicher, aber der gegenseitige Respekt sollte schon soweit gediehen sein, daß man einander weder als Dreck bezeichnet noch die anderen angreift...

Elbereth
, volle Zustimmung.

Zitat von Feuerkopf: Ich finde, es ist schon ein wesentlicher Schritt, überhaupt nach Hilfe zu rufen. Selbst das trauen sich viele aus Scham nicht.
Meinst du denn, daß die derzeitigen Ereignisse in Frankreich tatsächlich als Hilferuf gemeint sind? Sicher kann man sie als solchen interpretieren, sie zeigen gewaltige Mißstände auf. Aber ich habe nicht das Gefühl, daß Jugendliche, die ein Molotowcocktail auf eine Begegnungsstätte oder ein Autohaus werfen, damit auf ihre mangelnde Integration und Arbeitslosigkeit aufmerksam machen wollen. Eher auf ihr persönliches Wut-, Haß- und (bestenfalls) Ohnmachtsgefühl. Oder sich allmählich in einem Zerstörungsrausch befinden. Scham jedenfalls ist mE eine Regung am anderen Ende der Skala..

Padreic
, ich nehme an, janw meint, daß Sarkozy den Interessen Frankreichs massiv zuwidergehandelt hat. Ich folge ihm zwar darin, sehe aber darin noch keine ausreichende Begründung eines Hochverratsvorwurfs - er hat schließlich den entstandenen Schaden wohl kaum beabsichtigt.

In den letzten beiden Absätzen stimme ich ebenfalls weitgehend mit dir überein, sehe aber auch die Problematik der Erpreßbarkeit des Staates - wenn er die Möglichkeit hätte, die aktuellen Probleme sofort zu lösen, und es täte, hätte er bald ziemlich viele neue. Das Signal, daß Gewalttaten Erfolg bringen, ist nicht hilfreich. Man würde sich vor Nachahmungsfällen nicht retten können, zwei Jahre später ist die nächste Minderheit dran.

Längerfristige Verbesserungen sind unbedingt erforderlich. Aber für den sozialen Frieden halte ich es für zwingend erforderlich, ihre Wirksamkeit mit alten Maßnahmen, die erst jetzt richtig greifen (o.ä.) zu erklären. Vielleicht funktioniert das. Aber zur kurzfristigen Beruhigung der Lage sehe ich - neben dem zwingend erforderlichen Rücktritt Sarkozys - nicht viele akzeptable Möglichkeiten. Vielleicht wird man sogar EU-weit Polizeikräfte mit Wasserwerfern etc. zusammenziehen müssen - keine schöne Vorstellung, und rechtlich wohl auch problematisch. Aber in dieser Lage kann man wenig Verbesserungen erreichen...

Fr.Doktor
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Mi 9. Nov 2005, 08:28 - Beitrag #34

ja, ausgeschlossene Gruppen sicher, aber der gegenseitige Respekt sollte schon soweit gediehen sein, daß man einander weder als Dreck bezeichnet noch die anderen angreift...


Menschlich betrachtet gebe ich dir uneingeschränkt recht Lykurg.
Natürlich sollte niemand aufgrund seiner Herkunft, Rasse, Religion, Geschlecht - die anderen Substantive fallen mir gerade nicht ein - ausgeschlossen, verfolgt oder benachteiligt werden.

Soweit ein schöner Passus im Grundgesetzt.

Leider sieht die Wirklichkeit meistens anders aus und die von mir geäußerte These, ich gebe es offen zu, ist eine soziologische Betrachtung des Phänomens "Außenseiter", der ich in Teilen durchaus zustimmen muss.

Gruppen, Kollektive, Gesellschaften können nur durch die Abgrenzung vom Anderen existieren und schaffen sich ihre Abweichungen selbst.

Das kann man am Beispiel der Homosexualität eigentlich ganz schön betrachten.
Noch 1969 war Homosexualität ein kriminelles Vergehen.
Homosexuelle wurden kriminalisiert und wie das oft einhergeht auch als psychisch krank erklärt. Inwiefern die Medizin eine unselige Allianz mit den herrschenden Systemen eingeht lässt sich vorzüglich bei Foucault nachlesen.

Ein paar Jahre später wurde die Homosexualität entkriminalisiert und heute würde niemand mehr auf die Idee kommen, die Homosexualität perse als kriminnelles Verhalten zu bezeichnen. (Was die gesellschaftliche Akzeptanz betrifft ist ein anderes Thema)

Das lässt sich auf viele Verhaltensweisen, die konsensuell von einer Gesellschaft als Abweichend betrachtet werden, übertragen.

In diesem Sinne, Inzest ist bei uns verpönt und ich kann mich da selbst auch nicht ausschließen, ich finde es auf den ersten Blick seltsam aber das daraus zwingend Schaden erwachsen muss, das sehe ich nicht.

Aydee
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Mi 9. Nov 2005, 10:07 - Beitrag #35

Ich finde diesen Artikel teilweise ziemlich interessant...

Maglor
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Mi 9. Nov 2005, 15:16 - Beitrag #36

Ich kann mich nicht so recht daran erinnern, dass irgendwann Homosexuelle im Rahmen der sexuellen Befreiung Autos anzündeten. Und falls du auf den Christopher-Street-Day anspielst, dieser ist eine Demonstration im engeren Sinne. Der Auslöser ist allerdings der gleiche: Der staatlich verschuldete Tod eines Gruppenangehörigen.
MfG Maglor

janw
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Mi 9. Nov 2005, 16:27 - Beitrag #37

Ich finde diesen Text ziemlich interessant.
Insbesonderen den letzten Satz hätte ich dem Organ nicht zugetraut.

Hier der Text auch nochmal zitiert, damit er nicht verloren geht:

Von Dietmar Dath

08. November 2005 „Wenn ich könnte”, erklärte Bill Richardson, der Gouverneur des Staates New Mexico, als man ihn fragte, wie er die Grenzstädte befrieden wolle, in denen seine Sicherheitskräfte gerade von Mord und Totschlag übermannt wurden, „würde ich sie dem Erdboden gleichmachen”.

Das war lange nach Los Angeles 1992, aber kurz vor New Orleans und Paris - eine Wegmarke auf der Reise ins globale gangland; eine Station bloß, wie die Erklärung des Ausnahmezustands in der unter Richardsons Zugriff gestellten Grenzregion zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten am Freitag, dem 12. August des laufenden Jahres; wie die Blutenden am spanischen Zaun von Ceuta; wie die mit Sprengstoff Ermordeten von London.

Je nachdem, wie nahe dergleichen den Wohnbezirken westlich-nördlicher Verwaltungs- und Medienkommandeure rückt, handelt es sich bei den Leuten, die dies anzetteln, um „tragische Gestalten”, die „Ärmsten der Armen” - so schreibt und redet man hier, wenn sie noch an der Grenze abgefangen und interniert oder zurückgeschickt werden können - oder aber „Ganoven” und „Abschaum”, „la racaille” - so deutlich darf der Minister Nicolas Sarkozy werden, wenn nahe der Hauptstadt die Brandbeschleuniger spritzen.

Das Pack und die Kanaille

Die Bestie, der Abschaum: das war seit dem späten achtzehnten Jahrhundert in Frankreich und allen an dessen Vorbild orientierten bürgerlichen Republiken vor allem derjenige Teil der Sozietät, der handgreiflich die sogenannte soziale Frage stellte - womit alles gemeint war, was mit Produktion, Verteilung und Verbrauch des durch die moderne Industrie geschaffenen gesamtgesellschaftlichen Reichtums zu tun hatte. Der tobende Mob mußte sich bis zum Untergang des real existierenden Sozialismus nirgendwo auf der Welt wehrlos als Pöbel und Schlimmeres beleidigen lassen, denn solange es eine Systemkonkurrenz gab, erwiderten linke Schreibtischgeneräle diese Beleidigungen. Das Lumpenproletariat ist also Pack? Nein, spuckte Marx zurück, es wird jetzt vielmehr aufgeräumt mit der „bürgerlichen Kanaille”.

Beide, die schmutzige Revolution und die saubere Bourgeoisie, hielten einander für das Allerletzte - die Sache war symmetrisch, weil sie sich je selbst als Parteien verstanden, die einen universalen Geltungsanspruch für ihre jeweilige Idee von Vergesellschaftung erhoben, der nach der Entscheidung der Machtfrage abgegolten werden sollte. Was heute an Richardsons Grenze und in Blanc-Mesnil geschieht, hätte jene Linke als brodelnden „Sumpf des Blanquismus” (Lenin), will sagen als perspektivlosen Wahnsinn wahrgenommen.

Rache und Respekt

Es geht den weltweiten Vorstadtverwüstern nämlich nicht mehr um andere Republiken, sondern überall um etwas fast beliebig Verschiedenes und doch allerwege um dasselbe: Die Leute in Watts, Los Angeles und New Orleans nehmen subjektiv Rache für weißen Rassismus, die mexikanischen Migranten fordern Teilhabe am american dream, die jungen Intifada-Palästinenser - auch Israel ist ein Wohlstandsland - wollen den eigenen Staat, die in Paris Wütenden einfach „Respekt”. Weil der alteingesessene Spießer, der Osama aus dem Fernsehen kennt, dabei anfängt, zu zittern, preisen die Jugendlichen vor Paris außerdem Allah. Anderswo, von Norwegen bis Deutschland, malt man zum selben Zweck Hakenkreuze an Kirchen.

Gemeinsam sind den Furien die miesen Erwerbsaussichten. Warum soll sich darauf nicht jeder ethnische oder religiöse Zufallshaufen seinen eigenen ideologischen Reim machen? Schließlich wurden auch große Handelskriege um Einflußzonen der Vergangenheit als Religions- und Kulturkämpfe geführt.

Keine Festung Europa

Es geht um etwas, das verniedlichend „Integrationsproblem” genannt wird. Der Glaube, man könne dem mit Feinabstimmungen zwischen ius solis und ius sanguinis und anderen staatsbürgerlichen Freischwimmerzeugnissen zu Leibe rücken, verwechselt die Rechtsformen der bürgerlichen Vergesellschaftung mit deren Inhalt. Ein Bürger ist zuerst Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Aktien- oder Grundbesitzer, erst dann Franzose oder Israeli. Sobald die so gezogenen sozialen Grenzen innerstaatlich zu territorialen werden, entstehen auf der einen Seite Slums und auf der anderen gated communities, geschützte Wohnviertel der Wohlhabenden. Bis die sich herausgebildet haben und sicherheitspolitisch ordentlich parzelliert sind, brennen Barrikaden. Das Ergebnis aber ist nichts Dämonisches, keine Festung Europa oder sonst ein Fantasy-Kitsch, sondern das Ensemble ganz normaler nordamerikanischer Verhältnisse. Als Ökonomen wie Joseph Schumpeter die Innovationskrise entdeckten, nämlich die Tatsache, daß alles, was die Produktivität erhöht, auch Kosten schafft, nämlich die zur Abfindung überflüssig gewordener Arbeitskräfte, dachten sie nicht gleich daran, daß zu diesen Modernisierungskosten zunehmend solche für Polizei, Miliz und Gefängnis gehören würden.

Im Krieg der modischen Ethnien gibt es keine Sieger außer dem Prinzip der Bande: Als die Asylbewerber aus Hoyerswerda fortgeschafft waren, gingen die rechten Jugendlichen auf jene Alten los, die ihnen eben noch applaudiert hatten. Das erste, was Skinheadbanden von Berlin bis Duisburg organisieren, wenn sie eine „national befreite Zone” erobert haben, ist der Drogenhandel. Medien, die solchen Banden suggerieren, sie hätten politisch realisierbare Forderungen - „Ausländer raus”, „Mehr Respekt” -, schaffen damit einen Zyklus von Aufbegehren und Erschlaffung in den Elendsgürteln (Elend muß nicht schmutzig sein, aussichtslos verhängte Tristesse genügt).

Man wütet, nichts bessert sich, also läßt es nach. Dann ergibt sich irgendein neuer Anlaß, man wütet wieder und so fort. So lernt auch der sogenannte Abschaum, was Konjunktur bedeutet. Wenn eine Gesellschaft, die so hochindustrialisiert ist wie die hiesige, keine andere Form des Gesellschaftszusammenhangs erfinden kann als die Lohnarbeit, muß sie mit solchen Zyklen leben. Erst wenn der letzte Mülleimer abgefackelt ist, wird die Volkswirtschaftslehre begreifen, daß man überzählige Lohndrücker nicht wegschmeißen kann.
Text: F.A.Z., 09.11.2005, Nr. 261 / Seite 39


Auf die Fragen an mich gehe ich noch ein, wenn ich mehr Zeit habe, heute spät oder morgen. :)

Fr.Doktor
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Mi 9. Nov 2005, 23:34 - Beitrag #38

Meinst du das in einem positiven oder negativen Sinne?

Ich meine den Verweis auf den letzten Satz?

Lykurg
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Do 10. Nov 2005, 12:14 - Beitrag #39

janw äußert sich hier mE anerkennend, Fr.Doktor (ich komme nur meiner Pressesprecherfunktion nach :D ): Die in Frankreich auftretenden Krawalle könnten als Urerfahrung verstanden werden, die auch in der FAZ eine 'Läuterung' zur Gesellschaftskritik bewirken.

Wenn man es so sehen will... Ich sehe in der FAZ eher ein Organ, das häufiger auf dringend veränderungsbedürftige Themen hinweist. Ihr konservativer Blickwinkel bedeutet in unserer Zeit wohl kaum einen Rückschritt, sondern eher eine Bereicherung des allgemeinen Spektrums. Eine die Vergangenheit einschließende und nicht grundsätzlich mit ihr brechende Sichtweise bedeutet auch das Handeln im Bewußtsein früherer Fehler und bestenfalls die Vermeidung derselben. Da zu den schwerwiegendsten Fehlern von Gesellschaften aller Zeiten aber auch ihre Erstarrung gehört, ist Veränderungsbereitschaft eine notwendige Folge. Diese Sichtweise wird allerdings sicherlich nicht auf allgemeine uneingeschränkte Zustimmung treffen. ^^

Meine Überraschung gilt daher eher dir als der FAZ, janw, und natürlich mein Dank für die Entdeckung des hochinteressanten Artikels. Einen sehr bedenkenswerten Satz in diesem Sinne fand ich auch
Als Ökonomen wie Joseph Schumpeter die Innovationskrise entdeckten, nämlich die Tatsache, daß alles, was die Produktivität erhöht, auch Kosten schafft, nämlich die zur Abfindung überflüssig gewordener Arbeitskräfte, dachten sie nicht gleich daran, daß zu diesen Modernisierungskosten zunehmend solche für Polizei, Miliz und Gefängnis gehören würden.
- daran habe ich noch ein Weilchen zu knabbern. ;)

Ipsissimus
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Do 10. Nov 2005, 14:23 - Beitrag #40

Da zu den schwerwiegendsten Fehlern von Gesellschaften aller Zeiten aber auch ihre Erstarrung gehört, ist Veränderungsbereitschaft eine notwendige Folge.


"Veränderungsbereitschaft" ist bestenfalls ein Euphemismus.

Tatsächlich kaschiert er in der derzeitigen Debatte lediglich die Maxime, neoliberale Forderungen möglichst widerstandslos durchsetzen zu können.

Es ist recht putzig, wenn in Debatten wie z.B. um die Telekom, die trotz Milliardengewinnen ihre Arbeitsplätze mitsamt den dazugehörenden Personen abbaut, wenn in solchen Debatten also auf das Fehlverhalten der Telekom hingewiesen wird, welches der Korrektur bedürfe. Das ist selbstverständlich kein Fehlverhalten. Das ist exakt die erwünschte Art und Weise, wie Unternehmen in Gestalt ihres Managements zu agieren gedenken und wie sie es auch als Privileg durchgesetzt haben, formalkorrekt natürlich, sodaß jeder effektive Widerstand dagegen apriori als kriminell diffamiert werden kann. Wenn ein Herr von Pierer vor laufender Kamera den Beifall der anwesenden Funktionäre aus Politik und Wirtschaft einstreichen kann ob seiner Aussage, Siemens habe im laufenden Geschäftsjahr keinen müden Euro Steuern zahlen müssen, statt vor eben dieser laufenden Kamera verhaftet zu werden, dann ist die ein weiterer Hinweis darauf, daß diese Privilegienbildung kein Zufall, kein Einzelfall, sondern Absicht ist, zunehmend unverhüllt.

"Veränderungsbereitschaft" ist vor diesem Hintergrund nicht nur ein Euphemismus, sondern ein Hohn, zumal Industrie und Wirtschaft bis heute den Nachweis schuldig geblieben sind, daß es den Menschen eines Landes zugute kommt, wenn dessen Wirtschaft gefüttert wird.

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